Erinnerungskulturen: Der Krampf mit dem Kolonialkrieg

Nr. 7 –

Der Algerienkrieg wurde von Frankreich jahrzehntelang totgeschwiegen. Nun will Emmanuel Macron die beiden Länder aussöhnen – auch um sich die Wiederwahl zu sichern. Derweil hat in Algerien der Kampf um die historische Deutung begonnen.

Ein in Frankreich bis jetzt nur zu gern vergessener Krieg: Gebirgsjäger der französischen Armee in Algerien, 1959. Foto: Jean-Louis Swiners, Getty

Mag sein, dass der französische Präsident Emmanuel Macron einst Friedrich Nietzsche gelesen hat. «Alle verschwiegenen Wahrheiten werden giftig», hatte der deutsche Philosoph seinen Zarathustra sagen lassen. Das über Jahrzehnte hinweg akkumulierte Schweigen französischer Präsidenten über die Verbrechen der einstigen Kolonialmacht in Nordafrika hat das Verhältnis zwischen Frankreich und Algerien zweifellos nachhaltig vergiftet. Und da in Frankreich zwei Millionen Menschen mit algerischen Wurzeln leben, ist das Gift auch in die französische Gesellschaft gesickert.

Macron will aufräumen. Im Juli des vergangenen Jahres beauftragte er den Historiker Benjamin Stora, einen Bericht über den Umgang mit dem Algerienkrieg (1954–1962) zu verfassen. Es gehe ihm um die «Aussöhnung der Völker Frankreichs und Algeriens», schrieb der Präsident an Stora. Noch mehr geht es ihm wohl um die Aussöhnung Frankreichs mit seiner eigenen Geschichte. Jedenfalls hat Macron eine gute Wahl getroffen: Stora ist nicht nur einer der besten Kenner des Algerienkriegs, über den er unzählige Bücher verfasst hat; er hat den Krieg auch aus nächster Nähe erlebt. Geboren wurde er 1950 in Algerien in einer jüdischen Familie, die 1962 mit ihm das Land verliess, um in Frankreich Fuss zu fassen.

Ende Januar überreichte Stora dem Präsidenten seinen fast 150 Seiten dicken Bericht. Anfang März wird dieser als Buch erscheinen. Natürlich ist die Aussöhnung für Macron kein Selbstzweck. Im nächsten Jahr stehen in Frankreich Wahlen an, und der Präsident strebt ein weiteres Mandat an. Höchstwahrscheinlich wird er sich im zweiten Wahlgang mit Marine Le Pen, der Chefin des rechtsextremen Front National, duellieren müssen. In Frankreich leben rund sieben Millionen Menschen, die vom Algerienkrieg persönlich betroffen sind, weil sie selbst, ihre Eltern oder ihre Grosseltern in Algerien gekämpft haben, weil sie aus dem Land geflüchtet sind oder vertrieben wurden. Die meisten von ihnen sind stimmberechtigt.

Getrennte Erinnerung

Anderthalb Millionen junge Franzosen wurden als Soldaten in den Krieg gegen die algerische Befreiungsfront FLN (Front de Libération Nationale) geschickt. Aufseiten Frankreichs kämpften auch 160 000 Harkis – Algerier, die für Hilfstruppen der Armee rekrutiert wurden. Von ihnen fanden 1962, nach dem Sieg des FLN, 45 000 mit ihren Angehörigen in Frankreich Aufnahme. Etwa 800 000 Pieds-noirs – Nachkommen europäischer SiedlerInnen – und 120 000 Jüdinnen und Juden setzten sich 1962 ebenfalls nach Frankreich ab. Sie alle haben Nachkommen. Zu ihnen kommen die algerischen ArbeitsmigrantInnen und ihre Nachkommen, die Mehrheit von ihnen hat inzwischen die französische Staatsbürgerschaft. Viele aber leben, sozial benachteiligt, in ihrer arabischen Community, haben Wurzeln in zwei Ländern und insofern hybride Identitäten.

Schätzungsweise sieben Millionen Französinnen und Franzosen also erinnern sich an Krieg und Flucht, traumatische Erlebnisse oder werden mit den Erinnerungen ihrer Eltern oder Grosseltern konfrontiert. Da entstehen schnell gegensätzliche Erinnerungswelten, verschiedene kollektive Gedächtnisse, die zu gesellschaftlichen Spannungen führen. Soziale Unruhen in den Banlieues oder der Rückzug auf eine muslimische Identität mögen Ausdruck davon sein. Gegen das Vergessen und gegen die Folgen getrennter Erinnerungen helfe, so Stora, die Aufarbeitung der Geschichte – notfalls als Feuerlöscher.

Der Algerienkrieg, der über 300 000 AlgerierInnen und 17 500 französische Soldaten das Leben gekostet hat, wurde in Frankreich jahrzehntelang tabuisiert. Charles de Gaulle, der 1958 in Frankreich die Macht übernahm, setzte in den Verträgen von Evian, mit denen Algerien 1962 in die Unabhängigkeit entlassen wurde, eine Amnestie für alle im Zuge des Krieges begangenen Straftaten durch. Die Amnestie führte zur Amnesie. De Gaulles Nachfolger Georges Pompidou (1969–1974) schwieg zum Krieg in Algerien genauso wie sein Nachfolger Valéry Giscard d’Estaing (1974–1981). Und der Sozialist François Mitterrand (1981–1995) hatte ohnehin allen Grund, zu schweigen. Als Justizminister hatte er während des Algerienkrieges ein Gesetz durchgebracht, das die Justiz auf algerischem Boden der Armee unterstellte, womit die Folter, der Hunderttausende unterworfen wurden, faktisch legalisiert war.

Hollande bricht das Tabu

Von einem «Algerienkrieg» wurde offiziell erst während der Präsidentschaft Jacques Chiracs (1995–2007) gesprochen, vorher war immer nur von den «Ereignissen in Algerien» die Rede gewesen. Bei einem Staatsbesuch in Algier 2003 sprach Chirac von der Tragödie des Krieges, auch vom Schicksal der Pieds-noirs und der Harkis, von der «immer noch schmerzhaften Vergangenheit, die wir weder vergessen noch leugnen dürfen», und drückte zwei berühmten algerischen Widerstandskämpfern die Hand. Das Tauwetter war allerdings schnell zu Ende, als das französische Parlament mit den Stimmen von Chiracs Partei 2005 ein Gesetz verabschiedete, das den Schulen vorschrieb, im Lehrplan «die positive Rolle» der Kolonialisierung «vor allem in Nordafrika» zu berücksichtigen.

Der Aufschrei war gross. Die umstrittene Gesetzespassage wurde ein Jahr später gestrichen, aber 2007 kam Nicolas Sarkozy (2007–2012) an die Macht, der schon im Wahlkampf betont hatte, mit den «ewigen Reuebekenntnissen» müsse endlich mal Schluss sein. Er unterstellte, man fordere den Franzosen einen Kniefall ab. Dass es darum nicht ging, stellten am Vorabend seines Staatsbesuchs in Algier zahlreiche französische und algerische Intellektuelle – unter ihnen Hocine Aït Ahmed, einer der in Algier längst in Ungnade gefallenen historischen Gründer des FLN, der Soziologe Edgar Morin und auch Benjamin Stora – in einem gemeinsamen Appell klar, der im November 2007 in zwei französischen und zwei algerischen Tageszeitungen veröffentlicht wurde. Sie verlangten eine «politische Entscheidung, die nichts mit dem religiösen Begriff der Reue zu tun hat». «Offizielle Entschuldigungen» wären lächerlich. «Wir fordern von den führenden Politikern Frankreichs, öffentlich zu anerkennen, dass in erster Linie und wesentlich Frankreich für die Traumata, die die Kolonisierung in Algerien erzeugt, verantwortlich ist.»

Anders als Sarkozy wollte sein Nachfolger François Hollande (2012–2017) keinen Schlusspunkt setzen. Der Sozialist brach mit einem nationalen Tabu: Er sprach vom Oktober 1961 in Paris. Der FLN, mit dem vermutlich in Frankreich die übergrosse Mehrheit der damals 400 000 algerischen ImmigrantInnen sympathisierte, hatte zu einer friedlichen Kundgebung für die Unabhängigkeit Algeriens aufgerufen. Es gab keine verletzten PolizistInnen. Aber an diesem Tag wurden mitten in Paris an die hundert AlgerierInnen getötet, viele von ihnen im Innenhof des Polizeipräsidiums. Ihre gefesselten Leichen fand man an den Ufern der Seine. Es gab keinen öffentlichen Aufschrei. Zwei Zeitschriften, die über dieses grösste Massaker im demokratischen Europa der Nachkriegszeit berichteten, wurden sofort beschlagnahmt. Das Buch «Rattenjagd in Paris», das die Journalistin Paulette Péju wenige Monate danach verfasste, wurde verboten; Jacques Panijels Film «Octobre à Paris» noch während seiner Erstaufführung beschlagnahmt.

Macron wird leiser

Über den Oktober 1961 wusste ausserhalb des Migrationsmilieus kaum jemand Bescheid – bis Präsident Hollande öffentlich sagte: «51 Jahre nach dieser Tragödie erweise ich den Opfern meine Ehre.» Der Front National kritisierte diesen «Akt der Reue» umgehend in aller Schärfe, und Christian Jacob, Fraktionschef der konservativen UMP, meinte: «Hollandes Versuch, mit der Erinnerung an eine schwierige Periode unserer Geschichte Politik zu betreiben, ist für den nationalen Zusammenhalt gefährlich.»

Deutlicher als all seine Vorgänger äusserte sich schliesslich Macron über den Algerienkrieg. Im Wahlkampf 2017 sagte er in der algerischen Hauptstadt: «Das ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das ist eine Barbarei, die Teil unserer Vergangenheit ist, der wir uns stellen müssen, auch indem wir uns bei jenen, denen wir dies angetan haben, entschuldigen.» Der Front National heulte auf. Und François Fillon, Kandidat der konservativen LR (ex-UMP) im ersten Wahlgang, befand: «Diese Verachtung unserer Geschichte ist eines Präsidentschaftskandidaten unwürdig.»

Von Entschuldigung spricht Macron heute allerdings nicht mehr. Vielleicht weil Abdelmadjid Tebboune, der Präsident Algeriens, im vergangenen Sommer, als Stora seinen Auftrag erhielt, just eine solche einforderte. Eine Entschuldigung würde vom Front National im kommenden Wahlkampf nun erst recht als Einknicken vor Algerien gebrandmarkt, und wichtiger als Geschichtsaufarbeitung sind dem Präsidenten letztlich eben doch der Wahlsieg und ein zweites Mandat.

Die Liste von Storas Empfehlungen an Macron ist lang: Einrichtung einer Kommission «Erinnerungen und Wahrheit», die gemeinsame Initiativen über die Erinnerungskultur anstossen soll; Errichtung einer Stele für Emir Abdelkader, den Führer des antikolonialen Widerstands im 19. Jahrhundert; Umwandlung der Lager, in denen Frankreich die geretteten Harkis über ein Jahrzehnt lang eingesperrt hat, in Gedenkstätten; Visaerleichterungen für StudentInnen – und vieles andere mehr. In Algerien hat der Bericht Storas hohe Wellen geschlagen. Doch seine konkreten Vorschläge fanden kaum Resonanz. Erwartet wird vor allem eine Entschuldigung.

Unbequeme Fragen

In Frankreich hat es ein halbes Jahrhundert gedauert, bis die hässlichen Seiten der jüngeren französischen Geschichte öffentlich diskutiert wurden. In Algerien derweil, das die Befreiung von 130 Jahren französischer Herrschaft vor 60 Jahren mit Hunderttausenden Toten und Hunderttausenden Folteropfern bezahlt hat, steckt die Aufarbeitung der eigenen Geschichte noch in ihren Anfängen. Das Regime hält an einem Narrativ fest, das der Legitimation der eigenen Herrschaft dient: einer Erzählung von einem heroischen Krieg, in dem die Massakrierung von Zehntausenden Harkis, die es nicht schafften, nach Frankreich zu entkommen, so wenig Platz findet wie die Vertreibung von Hunderttausenden Pieds-noirs, deren Heimat Algerien war und von denen die meisten noch nie in Frankreich waren.

Der «Hirak» (arabisch «Bewegung»), die riesige Protestbewegung, die 2019 jeden Freitag Hunderttausende auf die Strassen trieb, um gegen das verknöcherte Regime zu protestieren, hat dieses Narrativ infrage gestellt. Plakate von FLN-Grössen, die in Ungnade gefallen waren, wurden durch die Strassen getragen; unbequeme Fragen gestellt, etwa: «Wer hat Abane Ramdane getötet?» Er war einer der wichtigsten politischen Köpfe des FLN, galt als «der Architekt der Revolution», wurde von den Franzosen ins Gefängnis geworfen, schwer gefoltert, kam frei, kritisierte das Machtmonopol der FLN-Führung und wurde noch vor der Unabhängigkeit Algeriens von den eigenen Genossen erschossen.

Gewiss, Frankreich hat Algerien erobert, ausgebeutet, gedemütigt, kujoniert – und nicht umgekehrt. Aber es ist müssig, Leiden und Opfer gegeneinander aufzurechnen. Die Bilanz zuungunsten Frankreichs wird keine seriöse Geschichtsschreibung bestreiten. Dem «Hirak» ging es vielmehr um die Anerkennung historischer Tatsachen, wie sie auch Stora mit seiner Empfehlung einforderte, eine Kommission «Wahrheit und Erinnerungen» einzusetzen. Vorerst hat das Coronavirus die Protestbewegung gestoppt. Aber wie lange noch kann der algerische Staat sein Monopol auf die Geschichtsschreibung aufrechterhalten?

«Alle verschwiegenen Wahrheiten werden giftig», hat Nietzsche seinen Zarathustra sagen lassen. Das gilt letztlich für beide Seiten.