Ein Traum der Welt: Land ohne Lächeln
Annette Hug studiert die Wikiquette
Hätte ich gleich zu Anfang alle Wikipedia-Regeln lesen müssen, wäre gar kein Artikel zustande gekommen. Ich folgte also, ohne es zu wissen, dem Rat der Wikiquette: «Sei mutig!» Was in etwa heisst: Leg einfach mal los, Probleme stellen sich von selbst ein.
Wikipedia, ein Ungetüm aus Tausenden von Aktiven, ist ein Lexikon, das sich selbst beobachtet. Wenn du nicht mehr weiterweisst, hilft dir das Ungetüm mit passenden Einträgen. Du identifizierst Wikistress oder Edit-Wars und findest Empfehlungen. Aber zuerst schläfst du nicht mehr.
Seit 2009 bin ich in Wikipause. Meine Artikel haben sich in fremden Händen verändert und verbessert. Seit nun das berufliche Leben auf Onlinekontakte eingeschrumpft ist und neue Projekte mit Leuten entstehen, die nur als Name, bleiches Gesicht und halber Kühlschrank sichtbar sind, so ist das oft wie damals: Ein Benutzer namens Azor war wütend. Das dachte ich zumindest, denn er machte meine Änderungen rückgängig. Auf seiner Benutzerseite sah ich, dass er bereits in einen Edit-War verwickelt war, einen Schlagabtausch aus Löschen und Wiederherstellen ad infinitum. Meine Artikel, die ich in nächtelanger Arbeit zusammengestellt hatte, würde er vernichten und verunstalten. (Es sind nicht «deine» Artikel, hüstelt die Wikiquette.) Ein Rechthabermonster würde über die E-Mail-Funktion Beschimpfungen über mich ausschütten, bis ich den Computer nicht mehr zu öffnen wagte.
Dabei war der Einsatz bei Wikipedia die gelungene Flucht aus einer anderen, viel schwierigeren Kampfzone: einer Fachhochschule. Da arbeitete ich damals und hatte die Idee, man könnte für Erstsemestrige die Grundbegriffe ihres Studienfachs klar, aber reichhaltig beschreiben. Zuerst schauen die Neuen sowieso auf Wikipedia nach, dachte ich, und geriet in einen Rausch des Hyperlinks. Mit wenigen Sätzen liessen sich obskure Winkel eines Studienfachs mit der grossen weiten Welt verbinden. Bis Azor die Löschfunktion betätigte.
«Atme durch und probiers mal mit Gemütlichkeit», empfiehlt die Wikiquette bei Wikistress. Der Tipp ist mit dem Artikel über Balu, den Bären in Disneys Film «Dschungelbuch», verlinkt. Was in meinem Fall nicht half, denn jener Balu war mit der Erinnerung an einen verweinten Kinonachmittag verbunden. Irgendwann lag der gutmütige Bär Balu im Wald und hielt ein Nickerchen, aber der Junge Mowgli meinte, sein tierischer Freund sei tot. Da brach mein kleiner Bruder in Tränen aus. Er war so erschüttert, dass er die Fortsetzung des Films nicht mitbekam. Dass Balu lebendig wieder aufstand, wollte er uns nicht glauben. Weil er aus seinem eigenen Film nicht mehr herauskam, mussten wir das Kino vorzeitig verlassen.
So bedrohlich wie Balus Nickerchen sind auch fiktive Gestalten, die sich jetzt per E-Mail oder Bildschirm melden. Digitale Schrumpfkommunikation ist enorm fantasieanfällig. Sie fördert einsam ausgedachte Streitgespräche und Komplikationen. In glücklichen Fällen macht irgendwann eine freundliche Nachricht deutlich: Azor ist kein Monster. Er war nur kurz beleidigt. Zweimal pro Woche denke ich: Es lebe das Telefon! Auch die Wikiquette zu beherzigen, lohnt sich wieder: «Das Schreiben in GROSSBUCHSTABEN oder andauernder Fettschrift wird in der Regel als aggressives Schreien interpretiert.»
Annette Hug ist Autorin in Zürich und fragt sich, ob sie dem Frühling mit hektischem Aufbruch oder Gemütlichkeit, mit gemütlicher Hektik, abwartendem Aufbruch oder wild entschlossen begegnen soll.