Wikipedia: Ein Wissensverwalter namens Stefan64

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Hinter der Benutzeroberfläche des Online-Nachschlagewerks Wikipedia verbirgt sich eine Welt, in der Kriege toben, Gerichte tagen und demokratische Abstimmungen stattfinden. Stefan64 ist dort zu Hause.

Am 7. Februar, kurz nach zehn Uhr abends, war der Eiffelturm für 54 Sekunden der zweitgrösste Turm der Welt. 824 Meter ragte er über Paris. So stand es wenigstens im deutschsprachigen Wikipedia, bevor einer der 280 AdministratorInnen die Höhenangabe wieder korrigierte.

Wikipedia ist die umfassendste Enzyklopädie der Welt. Ob Paris Hilton, die autonome Inselrepublik Krim oder Stimmlippenknötchen – über fast alles gibt es einen Wikipedia-Eintrag. Die deutschsprachige Ausgabe ist mit ihren – zur Zeit des WOZ-Redaktionsschlusses – 1 369 494 Artikeln ein beeindruckendes Sammelsurium. Das Online-Nachschlagewerk gehört zu den sechs meistbesuchten Sites im Internet.

Doch Wikipedia, heisst es, sei wie eine Wurst. Man möge sie, wolle aber nicht wissen, wie sie gemacht wird. Nur wenige ahnen, dass sich hinter der Benutzeroberfläche – dort, wo das Wissen entsteht – eine eigene Welt verbirgt. Am 11. Februar 2004, kurz nach acht Uhr abends, entdeckte ein Bibliothekar aus Rheinland-Pfalz diesen Ort. Das war die Geburtsstunde von Stefan64.

Misstrauen steigert Qualität

An jenem Mittwoch betrachtete Stefan ein Foto einer leeren Strasse, aufgenommen an einem autofreien Sonntag. Stefan wollte das Aufnahmedatum des Bildes herausfinden, und so kam es, dass der Bibliothekar in einem Brockhaus nach «Sonntagsfahrverbot» suchte. Erst unter S wie Sonntag, dann unter F wie Fahrverbot. Doch da stand nichts. Erst im Internet, auf Wikipedia, fand Stefan, was er suchte. Begeistert von der damals noch jungen Internetsite eröffnete er ein Benutzerkonto, nannte sich «Stefan64» und schrieb seinen ersten Wikipedia-Eintrag. Über Tigran Petrosjan, Schachweltmeister von 1963 bis 1969.

Noch heute kann auf Wikipedia jede(r) neue Artikel schreiben. Einen Klick auf der Startseite braucht es dazu, mehr nicht. Doch so schnell wie Beiträge publiziert werden können, so rasch verschwinden sie mitunter wieder von den Bildschirmen. AdministratorInnen sichten bei der sogenannten Eingangskontrolle jeden Artikel. Sie löschen, ändern oder bestätigen neue Texte und bestimmen so die Grenzen unserer Allgemeinbildung.

Wissen ist Macht, heisst es. Das gilt gerade dort, wo das Wissen seinen Ursprung hat, auf dem Portal der AutorInnen von Wikipedia. Jenseits der Benutzeroberfläche bestimmen AdministratorInnen über das Wissen. Sie nennen sich «Dealer of salvation», «Felistoria» oder «Sargoth» und entscheiden, wie hoch der Eiffelturm ist.

Klick, und ein Eintrag ist aus Wikipedia gelöscht. Eine einzelne Administratorin alleine kann Texte löschen. Bei klar fehlerhaften Artikeln tut sie das per Schnelllöschantrag, bei umstrittenen Beiträgen erst nach einer siebentägigen Löschdiskussion unter KollegInnen. Die AdministratorInnen wären deshalb mächtige EntscheiderInnen, wären sie nicht so zerstritten. «Die Wikipedianer kontrollieren sich gegenseitig», sagt Stefan64.

Zwar kann nach einer Löschdebatte ein einzelner Administrator über einen Wikipedia-Eintrag entscheiden, doch diese Entscheidung kann kritisiert oder sogar rückgängig gemacht werden. Nicht selten glauben die Wikipedia-AdministratorInnen an verschiedene Versionen der Wahrheit, und es kommt zu Machtkämpfen, bei denen heftig um das Wissen unserer Zeit gestritten wird. In den sogenannten «edit wars», Bearbeitungskriegen, heben sie Lösch- oder Änderungsentscheide gegenseitig auf, immer wieder – so lange, bis die zerstrittenen Parteien vor Gericht müssen, vor eine virtuelle Judikative. In der Welt von Wikipedia existiert vieles, was auch in der richtigen Welt existiert. So gibt es auch RichterInnen und Gesetze – sehr viele sogar.

Wikipediokratie

Die RichterInnen der Wikipedia-Welt sprechen keine Urteile, sie vermitteln nur zwischen den Parteien. Auch die Gesetze jener Welt sind nicht bindend, sondern nur ein Vorschlag für das Zusammenleben. Die WikipedianerInnen wählen ihre AdministratorInnen wie auch ihre RichterInnen demokratisch – anders als bei den neuen Beiträgen, wo einzelne AdministratorInnen diktatorisch entscheiden. «Die Erde ist keine Scheibe, selbst wenn eine Mehrheit dieser Ansicht wäre», sagt Stefan64. Eine Mischung verschiedener Staatsformen regelt deshalb die Welt von Wikipedia.

Auch Stefan64 bekleidet in jener Welt ein hohes Amt. Der 47-Jährige ist einer von fünf AufseherInnen, ein «Oversighter» der deutschsprachigen Wikipedia. Auch er ist von den WikipedianerInnen demokratisch gewählt worden und gehört, obwohl er das nie sagen würde, zu den Mächtigsten unter ihnen. Während die AdministratorInnen Wissensbeiträge vor den BesucherInnen der Internetseite verstecken können, kann Stefan64 diese selbst vor den AdministratorInnen verstecken. Er könnte, würde er das wollen, Enzyklopädie-Einträge für immer aus dem digitalen Gedächtnis von Wikipedia löschen. Ein Bearbeitungsrecht, das er nur bedacht einsetzt. Nur dann, wenn es die Gesetze jener Welt zulassen: bei Verleumdung, der Veröffentlichung privater Daten oder markenrechtlichen Verstössen. Stefan64 handelt in der Welt von Wikipedia, wie auch im richtigen Leben, sehr zurückhaltend.

Wenn Stefan64 «ich» meint, sagt er «man», allenfalls «wir». Stefan64 spricht nur ungern über sich, betont, dass Wikipedia ein Gemeinschaftsprojekt sei, und will auch seinen wahren Namen nicht verraten. Fragt man ihn nach seiner Schulzeit, wird er sich zu einem «Ich war tendenziell eher gut» durchringen können, auch wenn er damals fast nur Bestnoten erzielte. Hauptstadt von Botswana?  Gaborone! Währung der Vereinigten Arabischen Emirate?  Dirham! Stefan64 verfügt über ein beeindruckendes Allgemeinwissen. Sein erstes Lexikon bekam er im Alter von sechs Jahren.

Jenseits von Wikipedia

Meistens antwortet Stefan64 schnell. Nicht aber, wenn man ihn fragt, wieso er bei Wikipedia mitmacht. Dann berührt er seine Unterlippe mit dem Zeigefinger, schaut zur Decke und schweigt. «Wikipedia ist ein bisschen wie ein Kind», sagt er schliesslich. Näher erklären könne er das nicht.

Am Abend, nach der Arbeit in der Universitätsbibliothek, kümmert sich Stefan64 jeweils um seine Wikipedia. Er nimmt seinen Laptop mit dem Wikipedia-Aufkleber hervor und taucht tief in die andere Welt ein. Vergangene Woche blieb er fast die ganze Nacht dort, bis um vier Uhr morgens, aber das war eine Ausnahme. Stefan64 prüft zwar oft neue Wissensbeiträge, doch tut er dies noch lange nicht so häufig wie andere WikipedianerInnen. Viele kennt er, die süchtig wurden, die kaum mehr rausfinden aus dieser Welt. Sie stemmen das Gewicht Tausender Tippfehler, Verleumdungen, Lügen und PR-Euphemismen auf ihren Schultern, meinen, alleine für das Wissen der gesamten Welt verantwortlich zu sein.

Auch Stefan64 drohte schon mal in den Tiefen von Wikipedia zu ertrinken – acht Jahre ist das her. «Meine sozialen Kontakte litten damals sehr», sagt er. Doch über die Jahre hat er gelernt, jenseits und diesseits vom Internet zu leben. Seine Freundin – sie ist von dieser Welt – hat ihm dabei geholfen.