Medientagebuch: Wikipedia-Benz

Nr. 5 –

Intransparenz bei der Online-Enzyklopädie

Wikipedia hat sich mit 27 Millionen Artikeln in 280 Sprachen zur weltweit «wichtigsten Informationsquelle» gemausert und strebt an, als «Weltkulturerbe» eingestuft zu werden. Allein die deutsche Ausgabe umfasst 1,7 Millionen Artikel mit 4,6 Millionen Seiten Umfang. Wikipedia hat einen guten Ruf und ist sehr beliebt. Allerdings wissen die NutzerInnen zu wenig über diese Internet-Enzyklopädie, also über die Entstehung, die Struktur und das Funktionieren von Wikipedia sowie über involvierte Interessen. Dieses Wissensdefizit kompensiert jetzt in kompakter und verständlicher Form die Studie «Verdeckte PR in Wikipedia. Das Weltwissen im Visier von Unternehmen» von Marvin Oppong.

Zwar verfügt Wikipedia über Grundprinzipien, Richtlinien und ein Regelwerk, aber mit der Durchsetzung dieser Normen sieht es nicht gut aus. Manche Richtlinien («Sei mutig! Ignoriere Regeln!») sind vage, Relevanzkriterien nur fragmentarisch formuliert und für die Praxis unnütz, weil eine verbindliche Interpretation ebenso fehlt wie eine unabhängige Instanz zu ihrer Durchsetzung.

Schuld daran ist die intransparente, hierarchische Struktur von Wikipedia. Diese Hierarchie beginnt zuunterst bei der Masse nicht angemeldeter Benutzer, erhebt sich über die angemeldeten Benutzerinnen, bestätigte Benutzer und stimmberechtigte Benutzerinnen bis zu den Sichtern (14 231), Administratorinnen (260), Bürokraten (5), Oversightern und Checkusern (5). Stimmberechtigt sind nur BenutzerInnen, die während zweier Monate aktiv sind und wenigstens 200 Edits geliefert haben. Bei Wahlen, an denen nur einige Hundert NutzerInnen teilnehmen, werden Stimmen nicht ausgezählt, sondern geschätzt. Die Namen der so «gewählten» 260 Wikipedia-AdministratorInnen sind öffentlich nicht bekannt. Nur jene der BürokratInnen, Oversighter und Checkuser kennt man. Wikipedia ist keine Demokratie gleichberechtigter NutzerInnen, sondern eine «Oligarchie von besonders Interessierten», die über viel Zeit verfügen.

Genauso archaisch geregelt sind die finanziellen Verhältnisse des gemeinnützigen Vereins Wikipedia Deutschland e. V., der gewinnorientierten Wikimedia Förder-GmbH und der US-amerikanischen Wikipedia Foundation. Die Einsicht in die Finanzverhältnisse ist für Aussenstehende fast ausgeschlossen.

Noch gravierender als diese Strukturdefizite sind allerdings die inhaltlichen Einflussnahmen auf Wikipedia von Verbänden, Organisationen und Unternehmen – trotz der Selbstverpflichtung auf neutrale Information. Solche Beeinflussung ist ihrer Natur nach oft nur schwer nachzuweisen, aber der Autor der Studie zeigt an Beispielen im Detail, wie «PR und Manipulation in Wikipedia allgegenwärtig» sind. Tausende von PR-Agenturen und Presseabteilungen manipulieren Wikipedia-Artikel im Schutz des anonymen Zugangs nach eigenen Interessen. Neben den bekannten Beispielen gibt es, wie Oppong zeigt, viele weitere: Manipuliert wurde etwa der Artikel zum Pharmakonzern Sanofi-Aventis, ebenso jene über Stichwörter wie «nachwachsende Rohstoffe», «Daimler-Benz», das Energieunternehmen RWE oder den Chemiekonzern BASF. Einmal wird die Geschichte eines Unternehmens unter dem Nationalsozialismus geschönt, ein anderes Mal die Finanzierung eines Films durch eine marktradikale Lobby verschleiert. Wikipedia droht seinen Ruf als Informationsquelle zu verspielen, wenn das Unternehmen nicht die Reformvorschläge beherzigt, die Oppong abschliessend skizziert.

Rudolf Walther schreibt für die WOZ aus Frankfurt am Main. Die besprochene Studie ist unter www.otto-brenner-stiftung.de erhältlich.