#MeToo in Griechenland: «Die Täter sollten diejenigen sein, die Angst haben»

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Vor über drei Jahren brachte die Debatte über sexualisierte Gewalt in den USA mächtige Männer zu Fall. Nun hat #MeToo auch Griechenland erreicht – und zeigt einmal mehr: Es gibt noch viel zu tun.

«Es ist nicht deine Schuld», sagt die Fernsehmoderatorin mit Tränen im Gesicht zu ihrem Gegenüber. Sie sitzt mit dem vierzigjährigen Dimitris Mothonaios in dessen Küche. Der Schauspieler hat ihr zwischen Spüle und Couch gerade erzählt, wie er jahrelang vergewaltigt wurde. «Es begann, als ich sechs Jahre alt war. Ich dachte einfach, dieser Mensch liebt mich sehr. Ein Kind erkennt das nicht als Missbrauch», erinnert er sich.

Am Ende des Gesprächs weinen beide. Die Moderatorin steht auf und umarmt den Mann innig. Der Erfahrungsbericht ist einer von vielen ähnlichen, die in diesen Tagen in die griechischen Wohnzimmer flimmern. Die Talkshows im Morgenfernsehen, die sonst von sexistischen Sprüchen, rassistischen Kommentaren oder belanglosem Gequatsche bestimmt sind, stehen seit einigen Wochen im Bann der #MeToo-Bewegung. Ebenso die Zeitungen – egal wie konservativ sie sind. Das Thema der sexualisierten Gewalt ist plötzlich in aller Munde.

Es begann mit einem Videocall. Die ehemalige Segel-Olympiasiegerin Sofia Bekatorou spricht Mitte Januar an einer Onlinetagung über sexualisierte Gewalt im Sport – das Motto: «Start to talk» – «Brich das Schweigen». Und das tut Bekatorou. In einer bewegenden Rede erzählt sie, wie sie als 21-Jährige von einem Funktionär des nationalen Segelverbands vergewaltigt wurde. «Ich sagte Nein und wiederholte mich immer wieder.» Er machte trotzdem weiter. Danach tat sie jahrelang so, als sei nichts passiert. Denn Bekatorou hatte Angst, dass sie ihren Sport aufgeben müsste.

Es dauerte nicht lange, bis andere Statements folgten. Zunächst aus dem Sportbereich: Eine Athletin berichtet, wie sie mit elf Jahren mehrmals von ihrem damals 28-jährigen Coach vergewaltigt wurde. Seine Reaktion darauf könnte absurder nicht sein: «Wenn etwas gegenseitig ist, ist es keine Vergewaltigung. Wir wollten heiraten.» Bereits vor sechs Jahren wollten die Eltern den Täter anzeigen, doch die Polizei riet der Familie davon ab. Der Prozess belaste das Mädchen nur noch mehr. Nun wurde der Täter doch noch verhaftet.

Dieses Fehlverhalten der Polizei sei nichts Neues, sagen die drei Frauen des Projekts «SexHarassMap», die anonym bleiben wollen. Auf einer digitalen Karte verzeichnet die Gruppe seit 2016 Vorfälle sexualisierter Gewalt, um sie sichtbarer zu machen. Denn anders sind solche Informationen kaum zugänglich. «Die Behörden ignorieren die Vorfälle oder haben zu wenig Kompetenzen, um sich darum zu kümmern», erklären die drei in einem schriftlichen Interview. Dies halte Betroffene davon ab, sexualisierte Gewalt zu melden.

Langsames Justizsystem

Auch die feministische Aktivistin Sissy Vovou von der Organisation To Mov (Violett) kritisiert das Justizsystem: «Es ist schrecklich langsam. Es dauert oft drei bis vier Jahre bis zum ersten Gerichtstermin.» Vovou kämpft seit Jahrzehnten gegen sexualisierte Gewalt und hat schon oft gesehen, wie erniedrigend die Prozesse für die Betroffenen sein können. Hinzu kommt: Ist die Klage nicht erfolgreich, besteht die Gefahr einer Gegenklage. «Jetzt wo die Öffentlichkeit zusieht, geht natürlich alles schneller», fügt Vovou an. Bereits am Tag nach den ersten Anschuldigungen hat sich die Staatsanwaltschaft eingeschaltet. Doch viele der bekannt gewordenen Fälle werden keine rechtlichen Folgen haben. Auch dem Peiniger der Seglerin Bekatorou droht keine Strafe, denn die Verjährungsfrist von fünfzehn Jahren ist bereits abgelaufen.

Nach den ersten Fällen im Sport ging es im Morgenfernsehen weiter: Auf einem grossen, blauen Ecksofa mit farbigen Kissen und Lichterketten im Hintergrund erzählte die Schauspielerin Zeta Douka von psychischer Gewalt, die ihr vom bekannten Regisseur Giorgos Kimoulis angetan worden sei. Danach überrollte die #MeToo-Welle die Theaterwelt wie ein Tsunami. Dutzende von SchauspielerInnen folgten Doukas Beispiel und berichteten in Social-Media-Posts, Zeitungsinterviews oder auf Talkshowsofas von Belästigungen und Vergewaltigungen hinter den Vorhängen des Theaters.

Im Zentrum der Anschuldigungen steht der nun zurückgetretene künstlerische Direktor des Nationaltheaters Dimitris Lignadis. Ihm wird vorgeworfen, über Jahrzehnte hinweg junge Schauspieler und minderjährige Knaben belästigt und missbraucht zu haben – darunter auch unbegleitete minderjährige Asylsuchende. Vassilis K., der seinen Nachnamen nicht nennen möchte, ist einer der Betroffenen, die Lignadis der Vergewaltigung beschuldigen. Als damals Vierzehnjährigem versprach ihm Lignadis eine Karriere im Theater und lockte ihn zu sich nach Hause. «Er gab mir ein Glas Gin und eine Zigarette. Nach zwei Schlucken wurde mir schwindlig. Ich war wie gelähmt und wurde ohnmächtig. Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, wie er vor mir kniet und mir seinen Penis in den Mund steckt», erinnert sich Vassilis K. gegenüber dem Fernsehsender Alpha. Der Theaterdirektor ist nun in Untersuchungshaft.

Der Fall Lignadis ist zu einer Zeitbombe für die Regierung geworden. Immer mehr Stimmen aus Kultur und Politik fordern, dass jemand die politische Verantwortung für die Geschehnisse übernimmt. Im Fokus stehen Kulturministerin Lina Mendoni und Premier Kyriakos Mitsotakis selbst. Besonders heikel: Mitsotakis hat kurz vor Lignadis’ Berufung das Anstellungsverfahren für den Theaterdirektor geändert – statt durch einen öffentlichen Wettbewerb wurde Lignadis durch eine einfache Berufung auf den Posten gehievt.

Immer die gleiche Frage

Auch in den Universitäten des Landes gibt es bereits Hunderte Anschuldigungen gegenüber Professoren. Ein Kollektiv von StudentInnen der Kunsthochschule in Athen dokumentiert die Vorfälle an ihrer Schule. Seit der Gründung des Kollektivs Ende Januar sind schon über achtzig Anschuldigungen von Belästigung und Missbrauch eingegangen. Das Kollektiv fordert nun ein Umdenken: «Die Täter sollten diejenigen sein, die Angst haben.» Dafür brauche es eine «Nulltoleranz» gegenüber jeglicher Art sexualisierter Gewalt – sowohl gesellschaftlich als auch auf rechtlicher Ebene.

Obwohl die #MeToo-Welle in Griechenland von historischem Ausmass ist, erreicht sie längst nicht alle Bereiche. Das Thema der häuslichen Gewalt etwa wird weiterhin tabuisiert. Von den «einfachen Frauen ohne Namen» werde zudem gar nicht gesprochen, kritisiert Sissy Vovou. Für Arbeiterinnen in Supermärkten, Fabriken oder Privathaushalten sei es noch schwieriger, Anschuldigungen zu erheben, da sie dann wahrscheinlich ihren Job verlieren würden.

Viele trauen sich demnach trotz der nun neu angestossenen Debatte nicht, die Gewalt, die sie erlebt haben, anzuprangern. Erschwerend kommt hinzu, dass PolitikerInnen und TV-ModeratorInnen Betroffenen immer wieder die gleiche Frage stellen: «Wieso jetzt?» Dimitris Mothonaios, der für das Morgenfernsehen in der Küche über die Vergewaltigungen berichtete, kann diese Frage nicht mehr hören. Egal wann jemand beginne, über die erlebte Gewalt zu sprechen, und wie viele sich schon öffentlich zu Wort gemeldet hätten: «Es wird nie genug sein», sagt er. Denn es wird nie das tatsächliche Ausmass sexualisierter Gewalt abbilden können.