Sexualisierte Gewalt im Fussball: Für ihren Mut bestraft
2019 verbannte die Fifa einen afghanischen Funktionär, gegen den mehrere Nationalspielerinnen Vergewaltigungsvorwürfe erhoben hatten. Eine von ihnen lebt heute in der Schweiz – und sorgt sich um die Sicherheit ihrer Familie.
Ihre Vorwürfe an die Adresse der Fifa wiegen schwer. Der Weltfussballverband habe leere Versprechungen gemacht, sie fühle sich von der mächtigen Organisation im Stich gelassen. «Meine Familie ist in grosser Gefahr, und die Fifa unternimmt zu wenig», sagt Mariam Nuri. Eigentlich heisst sie anders, aus Sicherheitsgründen möchte sie aber nicht, dass ihr richtiger Name in der Zeitung steht. Einst war sie Spielerin im afghanischen Fussballnationalteam, seit 2019 lebt sie in der Schweiz: Sie floh aus ihrem Heimatland, nachdem der damalige Präsident des afghanischen Fussballverbands sie im Jahr 2017 vergewaltigt hatte. Vor über vier Jahren haben internationale Medien über den Fall berichtet.
Nuri ist in Afghanistans Hauptstadt Kabul aufgewachsen, wo sie schon früh anfing, Fussball zu spielen. «Als Mädchen war das nicht einfach», erzählt sie bei einem Treffen, das in einer Stadt in der Schweiz stattfindet. «Ich wurde viel kritisiert, auch von meiner Familie.» Doch Mariam Nuri spielte weiter. Und wurde immer besser. 2015 entdeckten Vertreter des nationalen Fussballverbands ihr Talent, worauf sie ins vier Jahre zuvor gegründete Frauennationalteam aufgenommen wurde. Zunächst habe sie gar nicht verstanden, was das bedeute. «Ich wusste nur, dass ich ein Trikot und Fussballschuhe bekomme und auf echtem Rasen spielen kann», erinnert sie sich. In den folgenden Jahren trainierte sie hart und nahm auch an Spielen im Ausland teil. Für Nuri tat sich eine neue Welt auf.
Netzwerk mächtiger Männer
Im Jahr 2017 ging sie nach einer Trainingseinheit nicht mit den anderen Spielerinnen in die Garderobe. Stattdessen suchte sie den Chef des Nationalteams, den Verbandspräsidenten Keramuudin Karim, in dessen Büro auf. Sie hatte ihren Lohn noch nicht erhalten und wollte um einen Vorschuss bitten. Nuri möchte nicht im Detail über das sprechen, was dann geschah. Karim schlug und vergewaltigte sie. Und befahl ihr anschliessend, den Mund zu halten, wenn sie wolle, dass ihre Familie am Leben bleibe.
Keramuudin Karim war ein mächtiger Mann. Er war Stabschef im Verteidigungsministerium, bevor er 2004 den Vorsitz des afghanischen Fussballverbands übernahm. Von 2010 bis 2013 war er zudem Gouverneur der Provinz Pandschschir. Karim verfügte über Kontakte zu hochrangigen Regierungsbeamten, zur Machtelite des Landes. «Er war Teil eines Netzwerks von mächtigen Männern, die sich gegenseitig schützen und unterstützen und ausserhalb des Gesetzes agieren», sagt Nuri.
Mariam Nuri war nicht die einzige Spielerin, die von Karim oder anderen Männern im Fussballverband missbraucht worden war. Mutig beschlossen einige von ihnen, damit an die Öffentlichkeit zu gehen – trotz der Stigmatisierung, unter der Opfer sexualisierter Gewalt gerade auch in Afghanistan leiden.
Ende 2018 berichtete erstmals der britische «Guardian» über den systematischen Missbrauch im afghanischen Frauennationalteam. Im Bericht schilderten drei junge Spielerinnen ausführlich, wie sie zwischen 2013 und 2018 von Karim und anderen Verbandsangestellten vergewaltigt, geschlagen und mit dem Tod bedroht worden waren. Kurz darauf leitete die afghanische Staatsanwaltschaft eine Ermittlung gegen die Beschuldigten ein. Und auch die Fifa wurde aktiv: Sie lancierte eine Untersuchung. Karim, der die Vorwürfe stets bestritt, wurde von der Fifa-Ethikkommission im Sommer 2019 lebenslänglich gesperrt. Zudem bestrafte ihn der Weltfussballverband mit einer Busse von einer Million Schweizer Franken.
Als internationale Medien über die Missbrauchsfälle berichteten, befand sich Nuri bereits in Griechenland. «Die Drohungen und Einschüchterungen durch Karim und seine Strohmänner waren so stark geworden, dass mir nichts übrig blieb, als unterzutauchen», sagt sie. Ihre Mutter habe ihren Schmuck verkauft, um ihr die Flucht aus Afghanistan zu ermöglichen. Illegal und alleine sei sie, damals neunzehn Jahre alt, in den Iran und dann weiter in die Türkei gereist, erzählt Nuri. Schliesslich sei sie nach Griechenland gelangt, wo sie monatelang in einem Flüchtlingslager festgesessen habe – in ständiger Angst, von anderen afghanischen Geflüchteten als Opfer Karims erkannt zu werden. Dann endlich habe sie Unterstützung von der Fifa bekommen: Der Verband half ihr, ein humanitäres Visum für die Schweiz zu beantragen, wo sie ein Asylgesuch stellen konnte und als Geflüchtete anerkannt wurde. Später sagte sie auch vor dem Internationalen Sportgerichtshof in Lausanne gegen Karim aus.
Der Täter ist untergetaucht
Gemäss Berichten von Menschenrechtsorganisationen kommt es in Afghanistan häufig vor, dass Vergeltungsmassnahmen verübt werden gegen Menschen, die Fälle von Gewalt durch mächtige Täter behördlich melden oder öffentlich machen. Betroffen sind davon nicht nur die Opfer selbst, sondern etwa auch Gesundheitsdienstleister:innen. Auch für ihre Familie habe die Bedrohung kein Ende genommen, sagt Nuri, selbst dann nicht, als sie längst aus Afghanistan geflohen sei: «Karim wollte sich an mir und den anderen Frauen rächen, dafür, dass wir uns ihm entgegengestellt haben.» Als gegen Karim schliesslich ein Haftbefehl vorlag, tauchte dieser mithilfe einer lokalen Miliz unter. Er und seine Schergen hätten Nuris Eltern und Geschwister aber weiter mit Vergeltung gedroht – bis diese 2020 deswegen ins Nachbarland Pakistan flohen.
Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 habe sich Karim zudem auf die Seite der Islamisten geschlagen, glaubt Nuri. Afghanische Medienberichte belegen zumindest, dass Karim auf freiem Fuss ist und es 2022 zu einem Treffen zwischen ihm und hohen Talibanvertretern gekommen ist. Für Nuri ist deshalb klar, dass ihre Familie selbst im Nachbarland Pakistan nicht vor ihm sicher ist – die Taliban sind auch dort aktiv und üben Einfluss aus.
Angst vor der Abschiebung
Seit Jahren steht Mariam Nuri mit der Fifa in Kontakt. Sie möchte, dass der Verband hilft, ihre Familie in ein sicheres Drittland zu bringen. Bislang jedoch ohne Erfolg. Die Fifa habe Nuri und ihre Familie seit 2018 in vielfältiger Art und Weise unterstützt und werde das auch in Zukunft tun, schreibt der Weltfussballverband auf Anfrage. Leider würden aber die Verfahren von Regierungen hinsichtlich der Aufnahme von Flüchtenden in sicheren Drittstaaten ausserhalb seines direkten Einflussbereichs liegen. «Wir tun zusammen mit anderen Organisationen alles in unserer Macht Stehende, um alle Beteiligten darin zu unterstützen, ein neues Leben in einem sicheren Umfeld aufbauen zu können», so die Fifa.
Tatsächlich gelang es dem Verband im Herbst 2021, insgesamt 165 Afghan:innen nach Albanien evakuieren zu lassen. Darunter waren neben Fussballerinnen auch Anwält:innen, die am Fall Keramuudin Karim gearbeitet hatten, sowie Familienangehörige. Das geschah zu deren «eigener Sicherheit», wie auf der Fifa-Website zu lesen ist. Damit anerkennt die Fifa die Gefahr, die vom einstigen Funktionär Keramuudin Karim weiterhin ausgeht.
Weil sie sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Pakistan aufhielt, gehört Nuris Familie nicht zu den Evakuierten. Etwa drei Millionen Afghan:innen leben heute in Pakistan, von denen schätzungsweise 250 000 nach der erneuten Machtübernahme der Taliban über die Grenze geflohen sind. Wiederholt gab es Berichte über die Verhaftung und Abschiebung Tausender Asylsuchender nach Afghanistan. Auch ihr Vater und einer ihrer Brüder seien schon einmal von der pakistanischen Polizei verhaftet und mit der Ausschaffung bedroht worden, erzählt Nuri, einzig die Bezahlung von Bestechungsgeld habe sie vor der erzwungenen Rückkehr nach Afghanistan bewahrt.
Kein humanitäres Visum
Eine unmittelbare Rückschiebegefahr bestehe nicht für alle Afghan:innen, die sich irregulär in Pakistan aufhielten, hält das schweizerische Staatssekretariat für Migration (SEM) auf Anfrage fest. Für die Erteilung eines humanitären Visums sei deswegen eine Einzelfallprüfung nötig. Nuri erzählt, ihre Familie habe noch vor der Machtübernahme durch die Taliban die entsprechenden Anträge gestellt, aber diese seien abgelehnt worden. Die Begründung des SEM kenne sie nicht.
Von der Fifa hat Nuris Familie in Pakistan immerhin finanzielle Unterstützung bekommen. Im Sommer letzten Jahres seien die Zahlungen aber eingestellt worden, sagt Nuri. «Die Fifa muss mehr Verantwortung übernehmen», fordert sie, Keramuudin Karim sei schliesslich deren afghanischer Vertreter gewesen, und nicht nur sie selbst, sondern ihre ganze Familie sei Opfer von ihm geworden.
Genau für Fälle wie jenen von Mariam Nuri hat der Weltfussballverband 2017 eigentlich einen Mechanismus eingerichtet, über den Aktivisten und Whistleblowerinnen Beschwerden einreichen können. Aber es fragt sich, wieweit ein solches System zur Untersuchung von Vorfällen seinen Nutzen erfüllt, wenn es die Betroffenen und deren Umfeld nicht vor Vergeltungsmassnahmen zu schützen vermag. Für Nuri ist es nicht bloss eine moralische Frage, ob die Fifa mehr für sie und ihre Familie tun könnte – es ist auch eine Überlebensfrage. «Vor lauter Sorge um meine Familie konnte ich mich bisher nie auf meine Zukunft konzentrieren», sagt sie. So habe sie in der Schweiz bislang weder eine Landessprache lernen noch eine Lehre anfangen können, die Situation sei psychisch enorm belastend. Zwar spielt sie weiterhin Fussball in einem Vorortsverein, ihre Sportkarriere aber hat sie aufgegeben. Sie, die Fussballerin, habe stattdessen das Gefühl, selbst zum Spielball geworden zu sein, «zu einem Spielball von mächtigen Institutionen».