Zukunft der Welternährung: Raus aus der industriellen Landwirtschaft
Die konventionelle Landwirtschaft gräbt sich zusehends die eigene Existenzgrundlage ab. Keine gute Voraussetzung, um künftig bis zu zehn Milliarden Menschen zu ernähren. Braucht es technologische Innovationen im grossen Stil, um den Kollaps zu verhindern?
Wussten Sie, dass uns der Weltraum zu besseren Menschen macht? Grund dafür ist der sogenannte Overview-Effekt, von dem AstronautInnen berichten: Wer je den Heimatplaneten aus dem All betrachtet hat, kehrt mit einer neuen Art der Verbundenheit zur Erde zurück.
Ein gesteigertes Bewusstsein für die planetaren Grenzen unserer Welt wäre dringend nötig: Das Klima erhitzt sich weiter, die schützende Ozonschicht wird dünner, die Ozeane versauern, Chemikalien verschmutzen Wasser und Land, schadstoffbelastete Aerosole die Atmosphäre, Phosphor- und Stickstoffkreisläufe funktionieren immer weniger. Wir verbrauchen zu viel Süsswasser, zerstören zu viel Regenwald, befeuern den Verlust an Biodiversität und bringen so das globale Ökosystem immer näher an die Schwelle zum Kollaps.
Und wer ist an all diesen negativen Entwicklungen beteiligt, wenn nicht sogar hauptverantwortlich für sie? Die Landwirtschaft.
Ein paar Zahlen dazu: Nimmt man Berge, Gletscher und Wüsten aus, wird rund die Hälfte der Landmasse der Erde landwirtschaftlich genutzt. Auf siebzig bis achtzig Prozent dieser Fläche weidet Vieh oder wird Futter für dieses angebaut, Tendenz steigend. Die industrielle Landwirtschaft mit ihren riesigen Monokulturen, die flächendeckend gedüngt und mit Pestiziden besprüht werden, zeitigt eine Reihe negativer Folgen: Jahr für Jahr gehen zehn Millionen Hektaren Ackerland durch Erosion verloren, laut der Welternährungsorganisation FAO ist bereits rund ein Drittel der fruchtbaren Böden verbraucht. Wo konventionelle Landwirtschaft intensiv und extensiv betrieben wird, ist die Biodiversität um bis zu siebzig Prozent zurückgegangen – die Artenvielfalt ist mittlerweile in vielen Städten grösser als auf dem Land. Sieben von zehn Litern Frischwasser, das dem Grundwasser entnommen wird oder aus Seen, Flüssen und Gletschern stammt, landet auf Äckern und Feldern.
Die globale Nahrungsmittelproduktion zeichnet je nach Berechnung für zwischen 25 und 40 Prozent aller Treibhausgasemissionen verantwortlich. Rund ein Drittel dieser Lebensmittel landet im Müll: Die Hälfte davon verdirbt irgendwo zwischen Acker und Handel, die andere Hälfte werfen KonsumentInnen weg. Ein gigantischer Foodwaste, der umgerechnet bis zu zehn Prozent des weltweiten CO2-Ausstosses ausmacht.
Es ist paradox: Die Landwirtschaft muss eine wachsende Weltbevölkerung ernähren und entzieht sich dabei zunehmend das Fundament dazu. Wie kann dieser Teufelskreis durchbrochen werden?
Homies, Propheten und Zauberer
Die Dringlichkeit der Frage spiegelt sich in einer Reihe von aktuellen Büchern. Kleine Bemerkung am Rande: Geht es um die Rettung der Welt, scheinen sich Männer besonders berufen zu fühlen. So richtig den Zweihänder schwingt Oliver Stengel, von dem auch die eingangs zitierte Behauptung mit dem Overview-Effekt stammt, in seinem Buch «Vom Ende der Landwirtschaft. Wie wir die Menschheit ernähren und die Wildnis zurückkehren lassen». Stengels Lieblingswort ist «Disruption», sein Denken entsprechend geprägt vom Solutionismus des Silicon Valley: Ein Problem wird gelöst, indem man es abschafft – also weg mit der Landwirtschaft! –, wobei die Lösung stets technischer Natur ist. In seiner Vision kehren wir am Ende sogar zu einer sich selbst überlassenen Natur zurück: Wo einst Felder und Weiden sich ausbreiteten, wuchert erneut die Pflanzenwelt, kreiert gigantische CO2-Senken und bringt die Erde zurück in eine ökologische Balance. Schöne neue Welt?
Stengel hat an der Hochschule Bochum zu nachhaltiger Entwicklung unterrichtet und geforscht, ist ursprünglich aber Soziologe. Menschen lassen sich, so seine Überzeugung, in Bezug auf das zentrale Problem, dass die Landwirtschaft ihr eigenes Fundament untergräbt, in drei Kategorien unterteilen. Die mit Abstand grösste Gruppe der «Homies» interessiert sich gar nicht erst dafür, weil sie längst den Bezug zur Natur verloren hat. Aufgrund von deren Dominanz stehen die «Propheten» daher bereits auf verlorenem Posten, wenn sie vor den Grenzen des Wachstums warnen und Verhaltensänderungen anmahnen, damit eine biologische und solidarische Landwirtschaft überhaupt eine Chance hat. Die Zukunft gehört also den «Zauberern», die ganz auf Wissenschaft und Technik setzen. Stengels Argument hierfür ist ausgesprochen krud: Norman Borlaug, Vater der «Grünen Revolution», erhielt für seine Verdienste um die globalisierte Hochleistungslandwirtschaft 1970 den Nobelpreis, der Ökopionier William Vogt brachte sich nach Jahrzehnten des vergeblichen Engagements 1968 um.
Ganz in Borlaugs Fussstapfen verkündet Stengel jetzt also die «postlandwirtschaftliche Revolution»: Dank biotechnologischer Innovationen essen wir bald nur noch «Fleisch ohne Tiere», trinken «Milch ohne Tiere» und betreiben «Landwirtschaft ohne Pflanzen». Fleischersatzprodukte auf pflanzlicher oder Pilzbasis stehen dabei ebenso wenig im Fokus wie Proteindrinks aus Soja, Mandeln oder Hafer, denn sie beanspruchen immer noch landwirtschaftliche Flächen. Die Lösung kommt aus dem Labor, ist zellbasiert und in vitro produziert. Stengel zeichnet den Prozess nach, den ein paar Start-ups bereits im kleinen Massstab erfolgreich umgesetzt haben, und extrapoliert: Aus wenigen Hundert tierischen Stammzellen liessen sich bis zu zehn Tonnen Fleisch gewinnen.
Doch wie produziert man Ackerfrüchte ohne Acker? Im Fall von Gemüse und Früchten lautet das Stichwort «Vertical Farming»: Die Pflanzen wachsen im Innern von Gebäuden in übereinandergestapelten Regalen ohne Sonnenlicht und Erde in einer optimal auf ihre Bedürfnisse abgestimmten, keimfreien Umgebung. Der Flächenbedarf ist minim, das Wasser wird rezykliert und Pestizide sind überflüssig. Dank Vertical Farming haben Gemüse und Früchte das ganze Jahr über Saison und werden dort produziert, wo sie in Zukunft immer mehr konsumiert werden: in urbanen Ballungsräumen.
Leider, so Stengel, ist mit Vertical Farming ernährungstechnisch noch nicht viel gewonnen, denn Früchte und Gemüse machen weniger als fünf Prozent der globalen Landwirtschaft aus. Und zur Produktion von Grundnahrungsmitteln wie Reis, Mais, Getreide, Kartoffeln oder Soja funktioniert Vertical Farming bislang nicht. Für eine «Landwirtschaft ohne Pflanzen» kommt die Lösung deshalb erneut aus dem Labor, ist Stengel überzeugt. Wozu die ganze Kartoffelpflanze wachsen lassen, wenn es nur die Knolle braucht, die aus Stammzellen gewonnen wird, und die glukosehaltige Nährlösung die Stärke liefert? Dass ein solcher Prozess für andere Grundnahrungsmittel funktionieren könnte, ist indes reine Spekulation – von einer grosstechnologischen Massenproduktion im Bioreaktor, wie sie Stengel vorschwebt, ganz zu schweigen.
Zu sozialen Aspekten und Auswirkungen schweigt sich der Soziologe aus. Dass sein technizistischer Ansatz weder das ökonomische Wachstumsparadigma noch die globalen Ungleichheiten zwischen Nord und Süd thematisiert, wird mit einem Schulterzucken abgetan, keine Innovation könne und müsse alle bestehenden Probleme lösen.
Warum, so könnte man spätestens hier einwenden, sollten wir uns überhaupt mit Stengels Thesen auseinandersetzen? Weil sie unliebsame Tatsachen wie mit einem Brennglas in den Fokus rücken. Die katastrophalen ökologischen Auswirkungen der weltweiten Fleischproduktion etwa, für die immer mehr Ackerfläche dem Anbau von Futtergetreide geopfert wird: Global besetzen Futtermittel wie Soja oder Mais gut acht Prozent der Ackerfläche, in Deutschland sind es satte zwei Drittel. Die Produktion von Fleisch wächst noch immer schneller als die Bevölkerung, allein zwischen 2007 und 2017 hat sie um zwanzig Prozent zugenommen. Der Konsum steigt vor allem in Ländern wie China, Südafrika, Russland und Brasilien dramatisch. Wir essen viel zu viel Fleisch. Doch woher nehmen wir das moralische Recht, aufstrebenden Ländern den Fleischkonsum verbieten zu wollen? Woher nehmen wir überhaupt das Recht, der grossen Mehrheit im Namen der planetaren Grenzen Verhaltensänderungen und Verzicht vorschreiben zu wollen?
Mit Stengels Behauptung, die Menschen müssten ihr Verhalten dank technologischer Innovationen gar nicht ändern, rückt ausserdem die Frage ins Zentrum, welche Rolle die Technik in der Landwirtschaft überhaupt spielen kann und soll. Ist sie Teil der Lösung oder Teil des Problems?
Urs Niggli, frisch pensionierter Direktor des Forschungsinstituts für Biologischen Landbau, weicht einer Antwort in seinem Buch «Alle satt? Ernährung sichern für 10 Milliarden Menschen» erst einmal aus. «Alles, was die Landwirtschaft macht und was sie ausmacht, ist menschen- und technologiebeeinflusst.» Technik war schon immer Teil der Landwirtschaft, die Gegenüberstellung von natürlich versus künstlich sei falsch. Er plädiert deshalb «für einen konstruktiven Dialog hinsichtlich sogenannter Zukunftstechnologien». Die Biolandwirtschaft habe sich ein viel zu enges Korsett an Richtlinien verpasst, auf deren Basis sie entscheidet, welche technischen Innovationen sie will und welche nicht. Auch wenn für Niggli nach über vierzig Jahren vergleichender Feldstudien feststeht, dass der Biolandbau anderen Landwirtschaftsformen punkto Umweltschutz, Biodiversität und weiteren ökologischen Kriterien «unschlagbar überlegen» ist: «Der Biolandbau, so wie er heute funktioniert, eignet sich aus verschiedenen Gründen nicht, um das Problem der globalen Ernährungssicherheit auf nachhaltige Art zu lösen.»
Die Welternährungsorganisation prognostiziert, dass der Bedarf an Lebensmitteln 2050 um über fünfzig Prozent höher sein wird als heute, während gleichzeitig drei von vier Menschen in Städten und Agglomerationen leben werden. Damit steigt auch das Potenzial von urbanen Formen der Landwirtschaft wie Vertical Farming, ist Niggli überzeugt. Selbst wenn erste Schweizer Pionierprojekte wie «Urban Farmers» an den viel zu hohen Produktionskosten gescheitert sind. Viel übrig hat Niggli auch für die sogenannte Präzisionslandwirtschaft, die dank Digitalisierung, Internet der Dinge und Robotermaschinen, die auf künstlicher Intelligenz basieren, eine ökologische Landwirtschaft im grossflächigen Stil ermöglichen soll. Und warum, so fragt er, sollten wir neue Züchtungsmethoden wie «Genome Editing» nicht nutzen?
Moderne Technologien ermöglichen es, Ressourcen effizienter zu nutzen, und mindern gleichzeitig negative Auswirkungen auf die Umwelt. So das Versprechen. Wäre da nur nicht dieser Rebound-Effekt: Je besser die Ökoeffizienz eines Produkts, desto ungenierter steigert der Mensch seinen Konsum, das räumt auch Niggli ein. Ausserdem scheint es geradezu zum Fortschrittsparadigma zu gehören, dass technische Lösungen neue Probleme generieren.
Die Kontrolle zurückgewinnen
Gut zehn Jahre ist es her, seit der Weltagrarbericht zu einer ökologischen Transformation der Landwirtschaft aufrief, die sich nicht länger nur an einer Ertragssteigerung pro Hektare orientiert, sondern auf die Umwelt Rücksicht nimmt. Um dies zu erreichen, daran liess der Bericht keinen Zweifel, gelte es, soziale und kulturelle Faktoren stärker zu berücksichtigen. Er rückte damit die kleinbäuerlichen Produktionsmethoden im Globalen Süden ins Zentrum – eine radikale Perspektivenumkehr. In ihrem aktuellen Update zum Bericht gehen die Herausgeber Hans Rudolf Herren und Benedikt Haerlin der Frage nach, was seither passiert ist. Ihr Fazit ist ernüchternd, Haerlin spricht gar von einem «verlorenen Jahrzehnt». Herren verortet die zentrale Ursache in einem Machtproblem, Niggli nennt es in seinem Buch einen «Mangel an Demokratie». Neue Technologien spielen dabei eine Schlüsselrolle.
Seit die grossen Agrokonzerne in den achtziger Jahren ihr «corporate food regime» aufbauten, übernahmen sie zunehmend auch die Kontrolle über diese Technologien – nicht zuletzt, weil sich die öffentliche Hand immer mehr aus der Agrarforschung zurückzog und Investitionen in Forschung und Entwicklung den Konzernen überliess. Die gentechnische Optimierung von Pflanzen konzentrierte sich in der Folge auf drei Grundnahrungsmittel, die wohl nicht zufällig auch als Viehfutter oder Biotreibstoff einsetzbar sind – Soja, Mais und Raps –, und auf deren Herbizid- respektive Insektizidtoleranz: Auf dass die konzerneigenen Pestizide noch grösseren Absatz finden und das patentierte Saatgut die Gewinne weiter in die Höhe treibt. «Gut fürs Geschäft, schlecht für die Bauern», wie Herren bilanziert.
Das «corporate food regime» der Landwirtschafts- und Lebensmittelindustrie hat sich zum Pendant der Techgiganten aus dem Silicon Valley entwickelt – es konzentriert sich in den Händen weniger Konzerne. Rund zwei Drittel aller Verkäufe von Pestiziden und Düngemitteln landen in den Taschen von gerade einmal vier Agrokonzernen: Bayer (mit Monsanto), ChemChina (mit Syngenta), BASF und Corteva (als Bereich von DowDuPont). Auch rund die Hälfte des kommerziell vertriebenen Saatguts und der landwirtschaftlichen Geräte und Maschinen stammen aus jeweils vier Firmen.
Nahrungsmittelriesen wie Nestlé mischen kräftig mit: Zusammen mit der ETH lancierte Nestlé 2019 die Future Food Initiative, Mitte Februar ist diese «Forschungspartnerschaft» mit einer Finanzspritze von 2,8 Millionen Franken intensiviert worden. Damit sollen etwa Projekte rund um pflanzenbasiertes, proteinreiches Designfood aus dem Labor unterstützt werden, die rasch in ein Start-up-Produkt münden, Stichwort «zellbasierte Landwirtschaft». Lösungen, die nicht technikbasiert sind, scheiden von vornherein aus.
Das Weltwirtschaftsforum (Wef) befeuert solche Initiativen nach Kräften. 2018 strich es unter den transformativen Innovationen zur Sicherung der Welternährung explizit technik- und Big-Data-gestützte Lösungen heraus. Wie genau dies den achtzig Prozent Armen dieser Welt, die von der Landwirtschaft abhängig sind, helfen soll, fragt sich die Ernährungsspezialistin Molly D. Anderson im Report von Herren und Haerlin. «Die Nutzniesser scheinen vielmehr die Konzerne zu sein, die alljährlich nach Davos kommen.» Auch der kanadische Technologieexperte Pat Mooney kritisiert das Powerplay der Agrofoodindustrie für «klimaintelligente Technologien», die die konzerneigene Produktpalette erweitern, statt auf lokale klimatische Besonderheiten einzugehen. Im kommenden Herbst wird das Wef sogar den Welternährungsgipfel der Uno ausrichten.
All diese Techinitiativen aus der Agrofoodindustrie funktionieren «top-down» und nach dem Prinzip «one size fits all». Sie zementieren damit nicht nur die Macht der Konzerne und die vermeintliche Alternativlosigkeit einer wachstumsorientierten, industriellen Landwirtschaft, sie verstärken auch die Abhängigkeit der BäuerInnen. Soll etwa die Digitalisierung tatsächlich zu einer agrarökologischen Wende in der Landwirtschaft beitragen, müssen die auf ihr basierenden Technologien «bottom-up», integrativ und «open-source» entwickelt werden, wie die ETH-Agrarökologin Angelika Hilbeck in ihrem Beitrag zusammen mit dem Digitalexperten Eugenio Tisselli betont. Ein gleichberechtigter Wissensaustausch unter Bauern und Wissenschaftlerinnen, der traditionelles bäuerliches Wissen mit technologischem Expertentum verknüpft, befördert die Selbstermächtigung der BäuerInnen. Ziel eines technologieunterstützten Wandels in der Landwirtschaft, der die planetaren Grenzen berücksichtigt, ist nicht einfach Ernährungssicherheit, sondern Ernährungssouveränität.
Letztlich spielen auf diesem Weg weniger technische als vielmehr soziokulturelle Innovationen und Lernprozesse die entscheidende Rolle, wie der Report von Herren und Haerlin in einer Reihe an konkreten Beispielen aus aller Welt aufzeigt. So haben sich auf den Philippinen Kleinbäuerinnen, Wissenschaftler und NGOs zum Netzwerk Masipag zusammengeschlossen, um die Macht von lokalen wie internationalen Düngemittel- und Pestizidkonzernen und Reiskartellen zu brechen. Das Netzwerk funktioniert nach dem Prinzip der gegenseitigen Unterstützung im Teilen von Wissen; geplant, entschieden und umgesetzt wird «bottom-up». So haben die BäuerInnen die Kontrolle über Land, Saatgut und Produktion zurückgewonnen.
Das funktioniert auch als konsumentInnengetriebene Initiative in Europa: Um biologisch produzierte und fair gehandelte Früchte und Gemüse zu fördern, arbeitet Eosta in Holland mit über tausend ProduzentInnen weltweit zusammen. Die BäuerInnen werden mit verschiedenen Dienstleistungen unterstützt, ihre Produkte in den Niederlanden zu Preisen verkauft, die die wahren Kosten spiegeln, also auch Umwelt-, Anbau-, Gesundheits- und soziale Kosten miteinbeziehen. Die Initiative zeigt, wo auch bei uns ein Hebel angesetzt werden kann, um die Macht der Agrofoodkonzerne zu brechen und Handlungsspielraum zu erlangen.
Güggeli oder Wiederkäuer
Die Berücksichtigung der wahren Kosten wäre überhaupt ein wirkungsvolles Instrument, um die Produktion und den Konsum von Lebensmitteln in eine nachhaltige Richtung zu lenken. Niggli nennt das eine «ökologische Buchhaltung». Die Landwirtschaft komme die Gesellschaft mindestens doppelt so teuer zu stehen, wie es in den Berechnungen der westlichen Industriestaaten ausgewiesen sei. Er plädiert deshalb für ein Ende landwirtschaftlicher Subventionen respektive für das Prinzip «öffentliche Gelder nur für öffentliche Güter»: Finanziell unterstützt wird die Landwirtschaft für Dienstleistungen, die am Markt keinen Preis haben – die Erhaltung und Förderung von Biodiversität, Bodenfruchtbarkeit, artgerechter Tierhaltung und die Einhaltung von Klimazielen.
Auf solcherlei Berechnungen spezialisiert sich der Ernährungswissenschaftler Malte Rubach in seinem Buch «Die Ökobilanz auf dem Teller. Wie wir mit unserem Essen das Klima schützen können». Er argumentiert mit einer Unmenge an Zahlen und vergleichenden Berechnungen, um aufzuzeigen, wie viel CO2, Frischwasser oder landwirtschaftliche Fläche Lebensmittel verbrauchen. Und exerziert dies an allen Früchten, Gemüsesorten, Hülsenfrüchten, Getreide, Mais, Reis, Soja, Nüssen, Ölen und natürlich Fleisch und Milchprodukten durch. Mitunter muten seine Milchbüchleinrechnungen zum Klimaschutz aber seltsam an und ignorieren den Rebound-Effekt: Wer in Deutschland auf fünf Minuten Duschen verzichtet, könne dafür ein Kilo Poulet oder 250 Gramm Rindfleisch essen.
Fleisch steht punkto ökologischer Fussabdruck überhaupt im Fokus – oder gar am Pranger. Und doch kommen sowohl Rubach als auch Niggli zum Schluss, dass ein stark reduziertes Mass an Fleischkonsum durchaus umweltverträglich sein kann. Wobei Rubach für Geflügel votiert (wegen des geringeren Wasserverbrauchs), Niggli hingegen für Fleisch von Wiederkäuern, weil diese im Gegensatz zu Hühnern auch ohne Kraftfutter auskommen. Für einheimisches Bioweiderind müsste kein Quadratzentimeter Soja angepflanzt werden. Da besteht allerdings noch viel Handlungsbedarf, wie der eben veröffentlichte Futtermittelreport von Greenpeace Schweiz zeigt: 85 Prozent der globalen Sojaproduktion wird an Nutztiere verfüttert, der überwiegende Teil landet in der Pouletmast. Die Schweiz importiert über die Hälfte dieser Futtermittelsoja aus dem Amazonasgebiet.
Von neuen Technologien, die eine pflanzenbasierte Proteinversorgung ermöglichen, oder zellbasiertem Fleisch aus dem Labor hält Rubach nichts. Denn viele Fleischersatzprodukte sind hoch verarbeitet, und die Ökobilanz verschlechtert sich mit jedem Verarbeitungsschritt. Und wollte man bei In-vitro-Fleisch tatsächlich auf Kälberserum verzichten und einen künstlichen Wachstumscocktail mixen, würde die Herstellung zum Hochseilakt. «Allein die Komplexität der Lieferkette für 250 Gramm Hackfleisch aus dem Labor wäre derart teuer und ressourcenfressend, dass schon kleinste Fehler die Versorgung zusammenbrechen liessen.» Die nachhaltigste Art, Proteine zu essen – da sind sich Rubach und Niggli einig –, sind unverarbeitete Hülsenfrüchte wie Linsen, Bohnen oder Erbsen.
Um die Welternährung künftig zu sichern, ohne die planetaren Grenzen zu sprengen, hat eine Gruppe von ForscherInnen 2019 die sogenannte Planetendiät entwickelt. Sie macht deutlich: Eigentlich wäre es gar nicht so kompliziert, sich nachhaltig (und erst noch gesünder) zu ernähren. Für uns im industrialisierten Norden bedeutet es schlicht: viel weniger Fleisch, dafür mehr Gemüse und Hülsenfrüchte essen, Leitungswasser trinken und auf saisonale, regional und biologisch produzierte Lebensmittel achten. So stellt sich zumindest mit Blick auf den Teller ein gewisser Overview-Effekt ein.
Oliver Stengel: «Vom Ende der Landwirtschaft. Wie wir die Menschheit ernähren und die Wildnis zurückkehren lassen». Oekom Verlag. München 2021. 240 Seiten. 32 Franken.
Urs Niggli: «Alle satt? Ernährung sichern für 10 Milliarden Menschen». Residenz Verlag. Wien 2021. 160 Seiten. 25 Franken.
Hans R. Herren, Benedikt Haerlin, IAASTD+10 Advisory Group (Hrsg.): «Tranformation of Our Food Systems. The Making of a Paradigm Shift». Zukunftsstiftung Landwirtschaft und Biovision. 2020. 182 Seiten.
Dr. Malte Rubach: «Die Ökobilanz auf dem Teller. Wie wir mit unserem Essen das Klima schützen können». Hirzel Verlag. Stuttgart 2020. 248 Seiten. 29 Franken.