Krisengewinner: «Seit Corona gehts nur noch um Zahlen»

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Digitec-Galaxus ist der grösste Onlineversandhändler der Schweiz. Die Pandemie brachte der Firma Umsätze in Milliardenhöhe. Alles andere als berauschend sind die Arbeitsbedingungen im Logistikzentrum in Wohlen.

Die Angestellten sprechen von einem chaotischen Betrieb, der die Profitmaximierung über das Wohl der Beschäftigten stellt: Im Digitec-Logistikzentrum Wohlen. Foto: Gaëtan Bally, Keystone

Das Unternehmen ist so etwas wie der Musterknabe der Schweizer Start-ups. 2001 von drei Gamer-Nerds gegründet, ist Digitec-Galaxus heute der grösste Schweizer Onlinehändler, vor Brack.ch und dem US-Giganten Amazon. Die Onlineshoppinglust in Pandemiezeiten bescherte der Migros-Tochter 2020 einen Umsatz von 1,82 Milliarden, was einer Steigerung um rund sechzig Prozent im Vergleich zum Vorjahr entspricht. Der jährliche Gewinn dürfte im zweistelligen Millionenbereich liegen.

Und dabei kommt das Unternehmen irgendwie immer noch sympathisch rüber. Es macht Werbung mit negativen Kundenrezensionen und «komplett klimaneutralem» Shopping, benutzt konsequent den Genderstern, man ist generell mit allen per Du, auch in Stellenausschreibungen: «Wolltest du auch schon beim grössten E-Commerce-Händler einen Einblick in die Logistikabläufe gewinnen und mit anpacken? Möchtest du ein Teil unseres Wachstums sein und mit deinen Spitzenleistungen zu unserem gigantischen Erfolg beitragen? (…) Dein Arbeitsumfeld ist geprägt von unseren Werten: kooperativ, ambitioniert, eigenverantwortlich, innovativ und piratisch, welche in einem unkonventionellen Unternehmen mit Du-Kultur fest verankert sind.»

Piratisch? Die Vorstellung vom abenteuerlustigen Piratenleben war schon immer arg romantisiert. Und auch die Arbeitsbedingungen im Digitec-Logistikzentrum in Wohlen AG sind alles andere als unkonventionell für die Branche. Vom grossen Reibach ist dort wenig zu spüren. Im Communiqué zum neusten Umsatzrekord gibt sich CEO Florian Teuteberg zwar bescheiden: «Ohne den unermüdlichen Einsatz aller MA sowie die grosse Solidarität untereinander wäre dies nicht möglich gewesen. Im Mittelpunkt unserer Entscheidungen stand immer die Gesundheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.»

«Katastrophale Planung»

Tatsächlich gab es bei Digitec-Galaxus im Gegensatz zu den Amazon-Logistikzentren in Deutschland und den USA soweit bekannt keine grossen Corona-Ausbrüche. Um die Gesundheit der MitarbeiterInnen ist es dennoch nicht allzu gut bestellt. Die WOZ hat mit fünf temporären und festangestellten MitarbeiterInnen des Zentrums in Wohlen gesprochen. Sie erzählen von einem auslaugenden Schichtsystem, ständig ändernden Arbeitszeiten, unfreiwilligen Minusstunden, von einem chaotischen Betrieb, der die Profitmaximierung über das Wohl seiner Angestellten stellt.

«Als ich vor zwei Jahren bei Digitec anfing, war es noch gut», erinnert sich Kathrin Anker*. «Ich arbeitete ausschliesslich in der Frühschicht von 8 bis 17 Uhr. Es gab Weihnachtsfeiern und Sommerfeste, man hat auf das Zwischenmenschliche geschaut, nicht nur auf die Leistung. Doch seit Corona gehts nur noch um Zahlen.» Seit letztem Sommer muss Anker in der Frühschicht von 4 Uhr bis 13.30 Uhr und in der Spätschicht von 13.30 bis 23 Uhr arbeiten. Die tatsächlichen Arbeitszeiten weichen jedoch immer wieder davon ab.

«Seit fast einem Jahr arbeiten wir in unregelmässigen Schichten. Das gab es früher immer nur rund um Weihnachten», erzählt auch Beatrice Waldner*, die seit fast drei Jahren in Wohlen festangestellt ist. «Uns wurde jeweils nur eine Woche im Voraus mitgeteilt, ob wir Früh- oder Spätschicht hätten. Dann hiess es plötzlich: ‹Morgen musst du erst um halb sechs kommen, übermorgen um halb fünf.› Die Planung war katastrophal.» Manchmal seien auch am Sonntag noch E-Mails mit kurzfristig geänderten Einsatzplänen gekommen. Seit die einzelnen Teams ihre Einsatzpläne selbst erstellen können, sei es nun etwas besser geworden.

Die meisten MitarbeiterInnen in Wohlen wechseln im Wochenrhythmus zwischen Früh- und Spätschicht, in manchen Teams wird im Zweiwochenrhythmus gewechselt – auch im Team von Kathrin Anker. «Wenn ich Frühschicht habe, muss ich um halb drei aufstehen und bin total kaputt, wenn ich in Wohlen ankomme. Wenn ich Spätschicht habe, bin ich um ein Uhr nachts zu Hause.» Ihren Sohn im Teenageralter sieht sie kaum noch. «Homeschooling ist so nicht möglich, geschweige denn, mal etwas Schönes zusammen zu unternehmen.»

Beatrice Waldner erzählt, dass ohne gegenseitige Rücksprache Samstagsschichten eingeführt worden seien: «Wir werden wie Spielbälle hin- und hergeschoben und müssen einfach mitmachen, ob wir wollen oder nicht. Es macht einen völlig kaputt, wenn man samstags bis um elf Uhr nachts arbeitet und montags um vier Uhr wieder auf der Matte stehen muss. Ich kann nichts planen, habe kein Privatleben mehr. Obwohl ich mit meinem Freund zusammenwohne, sehe ich ihn kaum noch. Entweder schläft er oder ich. Diese Arbeit schlägt mir massiv auf die Psyche.»

Die Arbeitsbedingungen in der Logistikbranche sind oft sehr prekär: Es gibt nur wenige Pausen, während der Arbeit im Lager werden an einem Tag oft mehrere Kilometer zurückgelegt, hinzu kommt der hohe Leistungsdruck. Schichtarbeit verursacht zudem gesundheitliche Probleme wie Gelenk-, Rücken- oder Kopfschmerzen; auch Schlafprobleme und depressive Verstimmungen gehören dazu.

Roman Künzler, bei der Gewerkschaft Unia verantwortlich für Transport und Logistik, ist von den Berichten nicht überrascht. Er betont aber, dass er die Situation vor Ort selbst nur indirekt kenne. «Aufgrund dieser Schilderungen vermute ich zunächst einmal stark, dass das Mitwirkungsrecht verletzt wurde», so Künzler. Wenn die Arbeitszeiten verändert werden, müssten neue Verträge aufgesetzt werden, «vor allem wenn es wie im vorliegenden Fall eine deutliche Verschlechterung der Lebensumstände bedeutet. Es ist absolut unzulässig, den Leuten den Tag so zu verschieben.» Insbesondere Arbeit zu Randzeiten und in der Nacht verändere die gesundheitliche Situation, das Wohlbefinden und das soziale Zusammenleben der ArbeitnehmerInnen. «Das sind wichtige Zeiten im Sozialleben, in denen alle zu Hause sind, die Kinder für die Schule bereit gemacht oder ins Bett gebracht werden.» Laut Künzler müssten die Arbeitszeiten immer mindestens zwei Wochen im Voraus kommuniziert werden, sonst laufe es auf Arbeit auf Abruf hinaus: «Auch das ist unzulässig.»

Auf Anfrage schreibt Digitec-Galaxus, man habe kein neues Schichtsystem eingeführt, sondern nur die Arbeitszeiten ausgedehnt, um «die Gesundheit unserer Mitarbeitenden bestmöglichst zu schützen» – etwa durch Verhinderung von Menschenansammlungen in Pausen oder bei Schichtwechsel – und um «das sprunghaft angestiegene Bestellvolumen zu stemmen». Aktuell arbeite die Frühschicht von 4 bis 14, die Spätschicht von 14 bis 24 Uhr. Es könne aber vorkommen, dass den Mitarbeitenden kurzfristig geänderte Arbeitszeiten mitgeteilt würden; das sei abhängig vom Arbeitsanfall. «Seit Einführung unseres Schutzkonzepts haben wir aber den Schichtwechsel um 14:00 Uhr strikt eingehalten, um mögliche Menschenansammlungen zu vermeiden. Am Abend dagegen wurde je nach Arbeitsanfall auch mal früher Feierabend gemacht.» Eine Fünftagewoche zwischen Montag und Samstag sei die Regel; bei besonders hohem Auftragsvolumen könne es sein, dass in Ausnahmefällen auch sechs Tage die Woche gearbeitet wird. «Die Überzeit können die Mitarbeitenden eigenverantwortlich kompensieren oder sich zum Jahresende auszahlen lassen.» Eine Anpassung der Verträge sei arbeitsrechtlich bisher nicht notwendig gewesen.

Sowohl Kathrin Anker als auch Beatrice Waldner erzählen unabhängig voneinander, dass trotz der Ausweitung der Arbeitszeiten fast die ganze Belegschaft das letzte Jahr mit Minusstunden abgeschlossen habe. Manche KollegInnen hätten weit über hundert Minusstunden angesammelt. Grund dafür sind Fehlplanungen beim Personaleinsatz. Digitec suchte schon im September «Hilfe für den Samichlaus» und stellte gemäss eigenen Angaben im Jahr 2020 insgesamt über 500 neue MitarbeiterInnen alleine in Wohlen ein. Doch der erwartete Ansturm zum Black Friday und vor Weihnachten blieb aus. «Wir wurden immer wieder früher nach Hause geschickt, ob wir wollten oder nicht, weil schlicht keine Arbeit da war», erinnert sich Waldner, die Ende Jahr mit rund sechzig Minusstunden dastand. Kathrin Anker musste im Dezember gegen ihren Willen Ferien nehmen.

Alle MitarbeiterInnen, mit denen die WOZ gesprochen hat, erzählen, dass sie immer wieder stundenlang untätig herumstanden und dann früher heimgeschickt worden seien. Die so entstandenen Minusstunden müssten nun mit Samstagsschichten wieder abgearbeitet werden. «Wir sind tendenziell zu viele Leute», sagt auch Andreas Ziegler*, der temporär in Wohlen arbeitet. «Die Firma ist in einem dauerhaften Umwälzungsprozess; immer wird etwas umgebaut und optimiert. Immer mehr Arbeitsschritte werden automatisiert, wodurch für uns Angestellte weniger Arbeit da ist. Dennoch werden ständig Leute eingestellt. Diese permanente Umstrukturierung führt zu Fehlplanungen.»

Die Pressestelle von Digitec-Galaxus bestätigt, dass man für Black Friday bis Ende Jahr mit einem hohen Auftragseingang gerechnet und daher Zusatzpersonal eingestellt habe. Das Arbeitsvolumen sei tatsächlich kleiner ausgefallen als antizipiert, was bei einigen Leuten zu Minusstunden geführt habe.

Kaum Kontakt mit KollegInnen

Laut Roman Künzler von der Unia sind Arbeitgeber aber generell verpflichtet, genügend Arbeit bereitzustellen. Tun sie das nicht, spricht man von Arbeitgeberverzug. «Dieses Risiko dürfen nicht die Arbeitnehmenden zahlen. Wenn die Angestellten früher heimgeschickt werden, muss das im gegenseitigen Einverständnis geschehen, oder die Stunden müssen trotzdem bezahlt werden. Sonst ist es ganz klar illegal», so Künzler. «Viele Arbeitgeber nutzen die soziale Realität aus, dass sie in der Chefposition sind und kaum mit Widerstand rechnen müssen.» Es sei durchaus realistisch, dass die Angestellten viele illegitime Minusstunden anhäuften. Vor allem in Betrieben, in denen der Umsatz explodiere und so viele Leute eingestellt würden, würden schnell einmal Betriebsrisiken auf die Arbeitnehmenden abgewälzt. «Es fehlt klar an der gewerkschaftlichen Organisierung im Bereich des Onlinehandels. Solche Probleme müssen kollektiv angegangen werden; Einzelne haben es schwer, sich Gehör zu verschaffen.»

Alle Angestellten, mit denen die WOZ gesprochen hat, sagen, dass sie kaum Kontakt zu anderen MitarbeiterInnen haben. Viele langjährige Angestellte hätten gekündigt, man arbeite fast täglich in einer anderen Zusammensetzung. Durch Corona gibt es auch keine gemeinsamen Pausen mehr.

«Die Stimmung ist am Tiefpunkt», sagt Kathrin Anker, «in der Zwischenzeit hat jedoch ‹Florian› (CEO Florian Teuteberg) per Videobotschaft der Belegschaft im Logistikzentrum Wohlen die punktuelle Einführung eines Dreischichtsystems angekündigt».

* Name geändert.