Schichtarbeit im Weihnachtsdorf: Schöne Bescherung
Sie machen die zauberhaften Weihnachtsmärkte erst möglich: die Saisonniers, die jedes Jahr aus ganz Europa anreisen, um hier unter widrigen Bedingungen zu arbeiten.
![Weihnachtsdorf auf dem Zürcher Sechseläutenplatz](https://www.woz.ch/files/styles/960w/public/text/2024/2451_03_Zuercher_Weihnachtsdorf_tb-gross_quer.jpg?itok=pADUr8WI)
Weihnachtszeit ist Marktzeit in Zürich: Holzhütten, warme Lichter, besinnliche Stimmung in den Herzen. Von einem Klima der Angst berichten dagegen Mitarbeiter:innen des «Wienachtsdorfs» auf dem Sechseläutenplatz. Sie seien bei der Arbeit Willkür ausgesetzt, was sie zu übermässigem Gehorsam zwinge und in ein Konkurrenzverhältnis zu ihren Kolleg:innen setze, sagen zwei, die sich gegen die Arbeitsbedingungen organisieren wollen. Zwei weitere Angestellte sowie zwei ehemalige Mitarbeitende bestätigen deren Vorwürfe. Einer von ihnen sagt: «Ich habe noch nie in einem so toxischen Umfeld gearbeitet.» Sie alle wollen anonym bleiben.
Betrieben wird das Weihnachtsdorf auf städtischem Grund von der Schöne Bescherung AG. Sie gehört zum Netzwerk des Gastroriesen Miteinander GmbH, die allein in Zürich drei Weihnachtsmärkte verantwortet: neben dem auf dem Sechseläutenplatz auch das «Illuminarium» im Landesmuseum und die «Weihnachtsallee» in der Europaallee. Der Vertrag für den Betrieb auf dem Sechseläutenplatz läuft dieses Jahr aus, im Januar schreibt die Stadt ihn neu aus.
Ein grosser Teil der Arbeiter:innen, die die vielen Essens-, Getränke- und Warenstände in der Stadt betreiben, reisen eigens dafür an, etwa aus Südeuropa: Italien, Griechenland, Spanien. Anders als mit Saisonarbeit liesse sich der Weihnachtszauber wohl gar nicht umsetzen. «Im Winter ist hier Chaos», sagt einer von ihnen. «Von überall her reisen Leute nach Zürich, mieten Zimmer, kommen bei Bekannten unter oder schlafen wochenlang in ihren Autos, um auf den Märkten arbeiten zu können.»
Existenzieller Glühwein
Viele Saisonniers kommen jedes Jahr wieder. Denn trotz der anfallenden Spesen würde sich die Arbeit für sie lohnen, sagt eine Angestellte, die schon mehrmals auf dem Sechseläutenplatz gearbeitet hat. Jeder Job in der Schweiz sei besser als diejenigen, die sie sonst machen könnte. «Deshalb will ich wiederkommen; aber das macht mich zu einem Fussabtreter: Ich bin abhängig, wir kennen die Gesetze hier kaum, wissen nicht, was überhaupt erlaubt ist.»
Erlaubt ist viel. Die Vorwürfe der Arbeiter:innen betreffen keine Gesetzesverstösse, denn die Gesetze sind lax. Eines der grössten Probleme, so die Saisonniers, sei die Frage, wer wie viele Schichten erhalte: Der Arbeitsvertrag für die «Aushilfen», der der WOZ vorliegt, garantiert keine Mindestanzahl Stunden. Er nennt zwar «eine durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit» von 43,5 Stunden; Anspruch darauf hat aber niemand. Die Angestellten müssen den Vertrag unterschreiben, bevor sie ihren Schichtplan erhalten. Das wird schnell existenziell: Saisonniers, die wenig Arbeitszeit zugeteilt bekommen, aber für den Dezember ein Zimmer gemietet haben, müssen im schlimmsten Fall für ihren Einsatz mehr Spesen bezahlen, als sie Lohn erhalten. Der Grundlohn liegt für Neue bei rund 20.60 Franken, das sind etwa 80 Rappen mehr als der verbindliche Mindestlohn.
![Weihnachtsmarkt auf dem Zürcher Sechseläutenplatz](https://www.woz.ch/files/styles/960w/public/text/2024/2451_03_Zuercher_Weihnachtsdorf_tb.jpg?itok=2w3flm_D)
Doch selbst die Stunden auf dem Arbeitsplan hätten nichts mit der realen Arbeitszeit zu tun, sagen mehrere Mitarbeiter:innen. Viele Schichten würden gemäss Arbeitsplan bis Mitternacht dauern, obwohl der Markt schon um 22 Uhr schliesst. Dann würden die meisten von ihren Vorgesetzten frühzeitig nach Hause geschickt. Auch sonst komme es oft vor, dass man Schichten frühzeitig abbrechen müsse – wenn der Markt nicht gut laufe, etwa weil das Wetter schlecht sei. Der Arbeitsvertrag enthält einen entsprechenden Passus, der das vorzeitige Ende von «wetterabhängigen» Schichten zulässt. «Aber es ist Dezember in Zürich», sagt eine Arbeiterin. «Man kann fast jedes Wetter als schlecht bezeichnen, wenn man will.» Die Knappheit an verfügbaren Schichten führe zu einem Gefühl der Machtlosigkeit – sie habe schon Leute weinen sehen, weil sie nach Hause geschickt wurden. «Es tut weh mitanzusehen, wie Leute bei ihren Vorgesetzten um Arbeit betteln müssen.» Das gehöre zur Tagesordnung, sagen auch die anderen.
Der Druck, sich mit den direkten Vorgesetzten gutzustellen, sei gross. Es bestehe eine hierarchische Struktur, die auch die unterste Kaderstufe unter Druck setze; von einer «toxischen» Stimmung sprechen zwei Arbeiter:innen, auch weil man sich so kaum traue, Missstände und Unzufriedenheit anzusprechen. «Mir wurde an einem frühen Nachmittag ohne Besucher:innen von einem Vorgesetzten gesagt, ich müsse lächeln, auch wenn niemand hier sei», erzählt eine ehemalige Mitarbeiterin. Also habe sie gelächelt, bis ihr das Gesicht wehgetan habe. Dabei droht stets die Kündigung mit einer Frist von drei Tagen: Die Vertragsdauer von einem Monat gilt als Probezeit – auch für Mitarbeitende, die zum wiederholten Mal kommen.
«Die Gäste sollen nicht nur vom Event begeistert sein», heisst es im Betriebsreglement, «sondern vor allem auch von den engagierten, aufgestellten Mitarbeitenden.» Mit den Vorwürfen der Arbeiter:innen konfrontiert, lädt Katja Weber, Mitinhaberin der Schöne Bescherung AG, die WOZ direkt ins Büro von Miteinander im Zürcher Kreis 5 ein. «Wir sind als Familie gewachsen», sagt Weber gleich zu Beginn. Auch deshalb würden sie die erhobenen Vorwürfe besonders schwer, auch persönlich, treffen.
![Weihnachtsdorf auf dem Zürcher Sechseläutenplatz](https://www.woz.ch/files/styles/960w/public/text/2024/2451_03_Zuercher_Weihnachtsdorf_tb_zusatz.jpg?itok=pa-5SLZ0)
Keine Macht für niemand
Miteinander verantwortet nicht nur Weihnachtsmärkte in mehreren Schweizer Städten, sondern mehr als ein Dutzend weitere Gastrobetriebe allein in Zürich, etwa «Frau Gerolds Garten» bei der Hardbrücke, die Kunsthaus-Bar oder das «Haus am Fluss» am Sihlquai. «Ich stimme nicht damit überein, dass wir in einer Machtposition sind, wie Sie sie beschreiben», sagt Weber. Neben ihr: Tom Maurer, Partner bei Miteinander und Verwaltungsratsmitglied der Schöne Bescherung AG. Hinweise auf eine toxische Atmosphäre seien bei ihnen nie eingegangen. Sie seien im Betrieb sehr bemüht darum, ihren Angestellten gute Bedingungen zu bieten. Dass so viele jedes Jahr wiederkämen, bestätige sie darin, dass das nicht schlecht gelinge. Weber und Maurer betonen, dass ein Rotationsmodell gelte, wonach immer wieder andere Mitarbeitende längere Schichten machen dürften, um Willkür vorzubeugen.
Dass alle Spätschichten offiziell um Mitternacht endeten, obwohl der Markt schon deutlich früher schliesse, habe technische Gründe. Manche Mitarbeitende seien froh, früher heimgehen zu können, andere nicht: «Wir versuchen unser Bestes.» Maurer sagt zum Vorwurf der Willkür: «Dass es in einzelnen Fällen zu Fehlverhalten kommen kann, können wir aber natürlich nicht ausschliessen.» Die beiden wollen die Vorwürfe überprüfen. Aber warum schliessen sie nicht verbindlichere Arbeitsverträge mit ihren Angestellten ab? Etwa solche, die einen Anspruch auf Mindestarbeitszeit garantieren? «Wir müssen aufeinander vertrauen, man hat das gegenseitige Wort», sagt Weber. Verträge seien wichtig und richtig. «Aber eigentlich arbeiten wir auf Handschlag.» Das Unternehmen, sagt Katja Weber, wende viel für die Betreuung der Mitarbeitenden auf: «Manchmal ist das ein wenig so, als würde man Kinder hüten.»
Viele der Probleme, die die Saisonniers des «Wienachtsdorfs» beschreiben, kennt Nicole Niedermüller gut. Sie ist Mediensprecherin der Unia und hat den erwähnten Arbeitsvertrag auf seine Rechtmässigkeit hin überprüft. Sie spricht von einem Branchenproblem. Das System der Schichtverteilung, so die Gewerkschafterin, scheine darauf ausgelegt, einen möglichst grossen Teil des Geschäftsrisikos auf die Mitarbeitenden zu überwälzen. Die Angestellten sagen dazu: «Wir sind nicht grundsätzlich dagegen, einen Teil des Risikos mitzutragen – aber üblicherweise wird man bei solchen Modellen dann auch am Gewinn beteiligt.»
Über den Gewinn und den Umsatz der Schöne Bescherung AG geben Weber und Maurer im Gespräch keine Auskunft. Später in der Nacht wird Katja Weber in einer Mail an die WOZ schreiben, man habe jetzt die Einrichtung einer unabhängigen und vertraulichen Anlaufstelle beschlossen.