Proteste bei Amazon: Gegen den übermächtigen Riesen

Nr. 23 –

In Deutschland, Frankreich und den USA organisiert sich die Amazon-Arbeiterschaft. Denn während der Onlinehändler zu den grossen Gewinnern der Coronakrise zählt, sind seine Angestellten den Risiken der Pandemie ausgesetzt.

Im Amazon-Logistikzentrum in der Nähe von Hamburg, 2018: Heute herrscht in der Belegschaft die Angst – es gab hier über fünfzig Coronafälle. Foto: Björn Hacke

Fünf Mal in der Woche arbeiten Olivia Meyer und Mike Arnold im Amazon-Versandlager. Fünf Mal in der Woche picken und packen. Fünf Mal in der Woche haben sie Angst, sich mit Corona anzustecken. Bereits vor Schichtbeginn sei die Gefahr am grössten. «An der Schleuse beim Eingang staut es sich oft», sagt Arnold, der genauso wie Meyer eigentlich anders heisst. Noch schlimmer sei es bei den Shuttlebussen, fügt Mike Arnold hinzu. «Beim Ein- und Aussteigen wird kaum darauf geachtet, wie eng die Leute beieinanderstehen.» Heimlich gemachte Videoaufnahmen belegen: Zwar achtet ein Amazon-Mitarbeiter darauf, dass nicht mehr als zwanzig Menschen in einen der Busse steigen, die die ArbeiterInnen vom Bahnhof zum Werk bringen. Vor den Bussen stehen die Menschen allerdings dicht gedrängt.

Die Angst vor einer Covid-19-Infektion kommt nicht von ungefähr. Dort, wo sie arbeiten, beim Versandzentrum in Winsen (Luhe) südlich von Hamburg, gab es bis Ende April mehr als fünfzig Coronafälle, womit der Amazon-Standort von den Gesundheitsbehörden offiziell als Hotspot eingestuft wurde. Seither gibt es offiziell zwar keine neuen Fälle, die Furcht ist aber geblieben: «Die Stimmung in der Belegschaft ist miserabel, jeder hat Angst vor jedem», sagt Olivia Meyer. Ihr Vorwurf: Amazon habe viel zu spät gehandelt.

Zwei Euro gegen die Angst

Ein Sprecher von Amazon Deutschland teilt hingegen mit, man tue alles, um die Beschäftigten so weit wie möglich zu schützen. Amazon habe die Arbeitsprozesse angepasst und alle vom Gesundheitsamt geforderten Massnahmen umgesetzt. «Nichts ist uns wichtiger als die Gesundheit und das Wohlergehen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter», so der Sprecher weiter. Eine andere Sprache sprechen die Ergebnisse einer Umfrage, die die Gewerkschaft Verdi Anfang April unter Amazon-Beschäftigten in Deutschland durchgeführt hat: Die Hälfte der Befragten sagt, Abstand halten während der Arbeitszeit sei kaum möglich. Lediglich jede vierte Person meint, Abstand halten sei sowohl bei Schichtbeginn als auch während der Schicht grundsätzlich möglich.

Amazon verkündete im März öffentlichkeitswirksam, den ArbeiterInnen während der Coronakrise zwei Euro pro Stunde mehr zu zahlen – allerdings nur, wenn sie arbeiten und nicht krank sind. «Sie ködern uns mit zwei Euro mehr die Stunde, damit die Leute zur Arbeit kommen», sagt Mike Arnold. «Die Gesundheit der Leute ist ihnen nicht so wichtig.» Hinzu kommt: Viele sind bei Amazon zunächst nur befristet angestellt und müssen sich erst einmal bewähren. Um eine Vertragsverlängerung oder gar eine unbefristete Stelle zu erhalten, könnten viele zur Arbeit gehen, die leichtes Fieber oder Husten haben, befürchtet Arnold.

Amazon steht aktuell wie kein anderes Unternehmen für die unterschiedlichen Realitäten zwischen denjenigen, die profitieren, und jenen, die den Profit erwirtschaften. Während unter vielen ArbeiterInnen die Angst umgeht, dürfte die Leitung des US-Konzerns momentan sehr zufrieden sein. Allein im ersten Quartal dieses Jahres hat der Konzern weltweit 75,5 Milliarden US-Dollar Umsatz gemacht – 26 Prozent mehr als im Vergleichsquartal des Vorjahres. Die Aktie befindet sich seit Mitte April auf einem Rekordniveau. Das wirkt sich äusserst positiv auf das Konto von Amazon-Chef Jeff Bezos aus: Allein zwischen Mitte März und Mitte Mai ist sein Vermögen laut der Organisation Americans for Tax Fairness und dem Institute for Policy Studies um knapp 35 Milliarden Dollar gewachsen, womit er von allen US-MilliardärInnen der grösste Gewinner der aktuellen Krise ist.

Besser vernetzt denn je

Amazon scheint ein übermächtiger Riese, dagegen wirken die Ansatzpunkte für Widerstand der Beschäftigten mikroskopisch klein. Doch es gibt sie: Durch die Pandemie könnten sich die Kampfbedingungen für die ArbeiterInnen verbessern.

Gewerkschaftsaktivist Christian Krähling arbeitet seit mehr als zehn Jahren am Amazon-Standort im hessischen Bad Hersfeld. «Die Unzufriedenheit vieler Arbeiterinnen und Arbeiter mit der Geschäftsleitung ist im Zuge der Coronapandemie merklich gestiegen», sagt er. Ein Indiz: Es seien mehr KollegInnen als sonst üblich in die Gewerkschaft eingetreten. Viele Beschäftigte hätten etwa beim Zwei-Euro-Bonus gesehen, dass Lohnerhöhungen, wenngleich wie in diesem Fall temporäre, doch möglich seien. Darum führt Krähling die umstrittene Regelung gegen die Leitung ins Feld und fordert mit seinen aktiven KollegInnen, dass der Bonus genauso wie Überstundenzuschläge zukünftig obligatorisch gezahlt wird.

Ein weiterer positiver Effekt für die aktive Belegschaft: Wegen des Umgangs Amazons mit der Coronakrise haben sich in Deutschland GewerkschaftsaktivistInnen aus verschiedenen Standorten besser vernetzt denn je. So fand bereits im März ein deutschlandweites Treffen der gewerkschaftlichen Vertrauensleute statt; per Videokonferenz tauschten sie sich über den Umgang der jeweiligen StandortleiterInnen und die Fallzahlen aus und besprachen, ob und wie gemeinsame Aktionen gestartet werden können.

Amazons Umgang mit der Krise könnte noch eine weitere für die Leitung unerwünschte Folge haben, meint Jean-François Bérot. Der Arbeiter in einem Amazon-Versandzentrum südlich von Paris sieht in der aktuellen Krise gute Voraussetzungen dafür, dass sich die Belegschaft über Ländergrenzen hinweg vernetzt. «Überall haben Amazon-Beschäftigte die gleichen Probleme. In Frankreich, den USA und in Deutschland haben sie Angst, sich mit Corona anzustecken», sagt Bérot. Auch ausserhalb Frankreichs haben Amazon-Beschäftigte mitbekommen, wie Bérot und seine MitstreiterInnen lautstark vor dem Amazon-Werk dessen Schliessung gefordert hatten. Als sich der Konzern dann nach einem Gerichtsbeschluss gezwungen sah, seine grossen Lagerzentren tatsächlich dichtzumachen, haben ArbeiterInnen in anderen Ländern gesehen, was möglich ist.

In Europa war man bereits vernetzt, doch nun stehe man auch im engen Austausch mit AktivistInnen aus den USA, wo die Wut auf die Geschäftsleitung gerade besonders gross sei, sagt Christian Krähling vom Amazon-Werk in Bad Hersfeld. Die internationale Vernetzung bringt ihre Symbolfiguren hervor. Seit Ende März solidarisieren sich länderübergreifend Amazon-Beschäftigte mit Chris Smalls. Er arbeitete in einem Amazon-Versandzentrum in New York und hatte dort bereits im März öffentlich gemacht, dass ein Kollege im Werk positiv auf das Virus getestet worden war. In der Folge sei er von Amazon in Quarantäne geschickt worden.

«Als ich gemerkt habe, dass sie mich zum Schweigen bringen wollen, habe ich einen Streik organisiert», sagt Smalls im Skype-Gespräch. «Daraufhin wurde ich entlassen.» Amazon widerspricht Smalls: Ihm sei gekündigt worden, weil er Quarantäneregeln missachtet habe. Smalls sieht in seiner Kündigung allerdings den Versuch, ein Exempel zu statuieren. «Es gab einige Streiks, und an jedem, der den Mund aufgemacht hat, hat sich Amazon gerächt. Das ist das Signal, das sie an ihre Arbeiter senden.»

Ein Versuch der internationalen Vernetzung ist die Organisation Amazon Workers International. Christian Krähling hat die Organisation mit aufgebaut: «Jede Gewerkschaft in jedem Land hat das Problem, dass sie sich nur an die Leitung des jeweiligen Landes wenden kann, aber in Europa werden die Entscheidungen vor allem von der Europazentrale in Luxemburg oder sogar von der weltweiten Zentrale in Seattle getroffen.» Amazon Workers International ist der Versuch von BasisgewerkschafterInnen, gemeinsame Forderungen zu entwickeln. Zum ersten Mal geschah dies Mitte März, als die sofortige Schliessung aller Amazon-Warenlager und -Zentren bei voller Lohnfortzahlung gefordert wurde.

Mittlerweile tauschen sich täglich Amazon-ArbeiterInnen aus etwa einem Dutzend Staaten im Rahmen der Organisation aus. Dass sie unabhängig von den grossen Gewerkschaften funktioniert, sieht Krähling als Vorteil: «Für konkrete Aktionen ist es leichter, wenn sich die Beschäftigten von vor Ort austauschen, weil sie den Laden besser kennen.» Ausserdem könnten schneller Aktionen anlaufen, weil keine komplizierten bürokratischen Hürden genommen werden müssten.

Innovationen auch im Arbeitskampf?

Organisierungen wie die Amazon Workers International reagieren auf das global agierende Unternehmen: Arbeitskämpfe gegen transnational operierende Konzerne können nicht nur in einem Land gewonnen werden; wenn in einem Land die Belegschaft streikt, kann Amazon einfach die Waren von einem anderen Land aus verschicken. Deshalb ist es notwendig, dass auch die ArbeiterInnen Wege für transnationale Arbeitskämpfe finden, sich über Ländergrenzen hinweg organisieren – und gemeinsam kampffähig werden.

Die Coronakrise könnte sich am Ende für Amazon nicht nur als Schub für erweiterte Absatzmärkte erweisen. Vielleicht bringt die Pandemie auch einen Innovationsschub für die Kämpfe von unten.

Sebastian Friedrich hat zu den Coronafällen bei Amazon bereits Mitte Mai für das Youtube-Format «STRG_F» des Norddeutschen Rundfunks eine Reportage produziert.

Onlinehandel in der Schweiz : «Von dem Lohn kann hier niemand leben»

In der Schweiz hat Amazon kein Versandzentrum. Aber auf der Liste der drei umsatzstärksten Onlineshops hierzulande taucht der US-Konzern trotzdem auf. Demnach hat amazon.de im Jahr 2018 in der Schweiz insgesamt 660 Millionen Franken Umsatz gemacht. An der Spitze stehen das Schweizer Unternehmen Digitec sowie der Berliner Modeversandhändler Zalando, die beide jeweils knapp 800 Millionen Franken umgesetzt haben.

Auch Zalando betreibt in der Schweiz kein Versandzentrum. Von den Hunderttausenden Zalando-Paketen, die täglich in der Schweiz ausgeliefert werden, geht etwa die Hälfte als Retouren wieder zurück nach Deutschland. Diese Pakete müssen aber zunächst in der Schweiz kontrolliert, gereinigt und wieder verpackt werden, wofür Zalando Schweizer Firmen beauftragt.

Diese Subunternehmen zahlen als Einstiegsgehalt weniger als zwanzig Franken pro Stunde, in der die Beschäftigten, darunter vor allem Frauen und MigrantInnen, rund dreissig Pakete abfertigen müssen. «Niemand kann in der Schweiz mit so niedrigen Löhnen leben», kritisiert Anne Rubin von der Unia.

Durch die Coronakrise hat der Onlinehandel in der Schweiz einen enormen Schub bekommen – vor allem im Lebensmittelbereich. In Zeiten der Pandemie haben Detailhändler wie Coop@home und Le Shop (Migros) so viele Aufträge erhalten wie nie zuvor und kamen mit den Lieferungen kaum nach.

Sebastian Friedrich