Zehn Jahre Fukushima: Im Würgegriff der Atommächte
Der Satz klingt zehn Jahre nach der AKW-Katastrophe von Fukushima wie aus der Zeit gefallen: «Unsere Energie- und ökologische Zukunft hängt von der Atomenergie ab.» Doch der französische Präsident Emmanuel Macron, der ihn im Dezember 2020 während einer öffentlichen Ansprache sagte, meinte ihn ernst.
Als vor zehn Jahren im japanischen Atomkraftwerk Fukushima drei Reaktoren durchschmolzen, sahen darin viele den Todesstoss für die Nuklearenergie. Insbesondere als Deutschland kurz darauf den Atomausstieg bekannt gab und die Schweiz beschloss, auf den Bau von neuen AKWs zu verzichten. Tatsächlich hat die zivile Nutzung der Kernspaltung ihre dominante Rolle im globalen Energiesektor verloren. Die Investitionen in erneuerbare Energien übertreffen jene in die Atomkraft um ein Vielfaches. Doch verschwunden ist die Nuklearenergie noch lange nicht. Im Gegenteil: Sie feiert gerade ein Comeback, und zwar ausgerechnet als Retterin vor dem Klimakollaps und «saubere» Alternative zum dreckigen Kohlestrom. Exemplarisch dafür steht China. Um seine Klimaziele zu erreichen, sollen dort bis 2050 mehr als 200 Atomreaktoren stehen – heute sind es 50.
Macron wählte für die präsidiale Liebeserklärung an die Atomindustrie bewusst den Industrieort Le Creusot im Burgund. Das dortige Reaktorschmiedewerk, das wichtige Teile für Frankreichs AKWs und nukleare Waffensysteme liefert, ist eigentlich ein Ort der Schande: Jahrelang kam es dort zu systematischem Betrug. Fehlerhafte Schmiedeteile wurden hergestellt, doch statt die Ausschussware abzuschreiben, unterminierten die Verantwortlichen die Qualitätssicherung und fälschten Berichte. 2016 flog der Skandal auf. Nur dank staatlicher Hilfe und Millionen an Steuergeldern konnte das Werk vor der Pleite bewahrt werden.
Doch die Vergangenheit interessiert Macron nicht. Er blickt lieber in die Zukunft und inszenierte Le Creusot als Ort des Aufbruchs. Den zentralen Pfeiler soll dabei ein neuer – nuklear betriebener – Flugzeugträger bilden, der bis 2038 fertiggestellt sein soll. Ebenso kündigte Macron eine neue Generation nuklear betriebener U-Boote an. «Unsere strategische Zukunft – unser Status als Grossmacht – hängt von der Atomenergie ab», stellte Macron unmissverständlich klar und hielt in entlarvender Offenheit fest: «Ohne zivile Nutzung der Atomkraft gibt es auch keine militärische Nutzung.»
Historisch gesehen wurde die zivile Nutzung gefördert, um der Kernspaltung ein positives Image zu geben. Man wollte damit das verheerende Potenzial der Atombomben vergessen machen. Dass neuerdings offensiv mit nuklearen Aufrüstungsprojekten geworben wird, ist ein bedrohliches Zeichen. Neben Frankreich wollen auch die vier weiteren offiziellen Atommächte – die USA, Russland, China und Grossbritannien – ihr Atomwaffenarsenal modernisieren und aufrüsten.
Das war nicht immer so. Nach dem Ende des Kalten Krieges setzte eine längere Phase der Abrüstung ein: Gab es Mitte der achtziger Jahre noch rund 70 000 Atomwaffen, sind es heute geschätzt 13 400. Im letzten Jahrzehnt kam es jedoch zunehmend zu einer Stagnation, mittlerweile hat gar eine neue und gefährliche Aufrüstungsspirale eingesetzt, wie das renommierte Wirtschaftsmagazin «The Economist» kürzlich im Titelthema berichtete.
Der Atomausstieg galt viel zu lange als umweltpolitisches Projekt, während der friedenspolitische Aspekt kaum Beachtung fand, obschon der jetzige Zustand absolut unhaltbar ist: Wenige Länder – neben den fünf Atommächten verfügen Israel, Indien, Pakistan und Nordkorea über Atomwaffen – bilden mit ihrem Arsenal eine sehr reale Bedrohung für die Menschheit und den Planeten.
Zwar ist Anfang Jahr ein Uno-Vertrag für ein gänzliches Verbot von Atomwaffen in Kraft getreten. Doch solange sich nicht einmal die neutrale Schweiz zur Ratifizierung durchringen kann, besteht wenig Hoffnung auf eine Umkehr – und die Welt bleibt im Würgegriff der Atommächte gefangen.
Einen vertieften Einblick in die nukleare Aufrüstung Frankreichs bietet dieser Artikel hier: www.energiestiftung.ch/complexe-nucleaire