Aufstand in den USA: Eskalation der Staatsgewalt

Nr. 23 –

Die aktuellen Proteste richten sich gegen den rassistischen und gewalttätigen Normalzustand – und stellen zunehmend die Frage: Lässt sich die Polizei als Institution auch abschaffen?

Wo fängt man an, um das zu beschreiben, was zurzeit in den USA geschieht? Bei George Floyd, dem 46-jährigen Afroamerikaner, der Ende Mai in Minneapolis so lange und brutal von einem weissen Polizisten auf den Asphalt gepresst wurde, bis er nicht mehr atmen konnte und starb? Bei Christian Cooper, der zwei Tage später im New Yorker Central Park Vögel beobachten wollte, als eine weisse Frau die Polizei alarmierte, mit der Lüge bewaffnet, sie werde von einem afroamerikanischen Mann «bedroht»? Sollte man bei Breonna Taylor anfangen, einer schwarzen Sanitäterin, 26 Jahre alt, die im März in ihrer eigenen Wohnung in Kentucky von PolizistInnen erschossen wurde? Oder bei Ahmaud Arbery, dem 25-jährigen Jogger, der im Februar in Georgia von zwei Rassisten verfolgt und ermordet wurde?

Diese Ereignisse mögen zusammengenommen der Auslöser sein, sie sind aber nicht der Grund, warum Hunderttausende Menschen seit Tagen durch die Strassen ziehen, im grössten Aufstand, den dieses Land seit Jahrzehnten gesehen hat. Die Proteste richten sich gegen Rassismus und Polizeigewalt – aber vor allem dagegen, wie normal Rassismus und Polizeigewalt sind. Die Proteste richten sich gegen die USA an sich.

Wo also anfangen? Bei Donald Trump, dem Faschisten und Bürgerkriegswilligen im Weissen Haus, der die letzten Tage dazu genutzt hat, Astronauten zu feiern, AnarchistInnen zu dämonisieren und die Polizei und die Nationalgarde auf die Protestierenden zu hetzen?

Wer glaubt noch an Reformen?

Zur Erinnerung, die wohl nur Weisse brauchen: Als sich die Black-Lives-Matter-Bewegung ab dem Sommer 2013 entwickelte, als Eric Garner ein Jahr später seine letzten Worte, «I can’t breathe», sprach und es im gleichen Sommer in Ferguson zu Strassenschlachten kam, als die «Washington Post» 2015 eine digitale Datenbank anlegte, um zu dokumentieren, wie viele Menschen jeden Tag von der Polizei umgebracht werden – zu all diesen Zeitpunkten war Barack Obama Präsident der Vereinigten Staaten. So gross also das Problem Trump ist, die Probleme sind viel grösser. Und so plötzlich die Proteste erscheinen, so lange ist ihre Vorgeschichte.

Was angesichts der zirkulierenden Bilder untergeht: Die meisten der Proteste in den vergangenen Tagen waren friedlich, insbesondere die tagsüber. Nachts kam es an vielen Orten dann zu massiven Ausschreitungen, Autos, sogar Polizeiwachen wurden angezündet, Geschäfte geplündert, Tausende DemonstrantInnen festgenommen. Die Staatsgewalt agierte und reagierte, wie sie es so oft in den USA tut: mit Eskalation. Es gibt unzählige Videos, die wild prügelnde Polizisten zeigen, Videos, in denen Polizeiautos in Menschenmengen fahren. Es gibt Aufnahmen von BeamtInnen, die Protestlern die Schutzmasken herunterziehen, um ihnen mit Pfefferspray ins Gesicht sprühen zu können. Fotos, auf denen Polizisten mit Waffen auf Kinder zielen und Pferde ihrer berittenen Kollegen über Menschen trampeln. Und das sind nur die dokumentierten Fälle.

Knapp 70 000 SoldatInnen der Nationalgarde waren Anfang dieser Woche im Einsatz, mehr als vierzig Städte haben Ausgangssperren verhängt, Präsident Trump verbrachte eine Zeit lang sogar in einem Bunker unter dem Weissen Haus. Als er am Montagabend vor einer Kirche in Washington D. C. mit Bibel posieren wollte, liess er den Weg freiräumen – mit Tränengasgranaten und Gummigeschossen.

Dieser Aufstand ist historisch, und zwar im Ausmass, in der Konstellation, man behalte die fortlaufende Gesundheitskatastrophe im Kopf, die mehr als 100 000 US-AmerikanerInnen, die an Covid-19 gestorben sind, und die vierzig Millionen, die sich in den vergangenen Monaten arbeitslos gemeldet haben. Aber der Aufstand ist auch in dem Sinne historisch, dass die Radikalität des Protests, die Grösse, die Hoffnungslosigkeit und die Zerstörungsbereitschaft nur im Kontext der Unterdrückungsgeschichte der schwarzen Bevölkerung zu verstehen sind. «Wir sind müde und das Gerede satt», sagte Bernice King, die Pastorin und Tochter des Bürgerrechtlers Martin Luther King, vor wenigen Tagen gegenüber dem Fernsehsender MSNBC. Es sei die Zeit gekommen, das System niederzureissen und ein «anderes Amerika» zu schaffen.

Wer in den letzten Tagen auf der Strasse war, mit DemonstrantInnen sprach und ihre Plakate las, wer die Diskussionen im Internet und die Berichterstattung verfolgt hat, der konnte den Eindruck gewinnen, dass immer mehr Menschen ein «anderes Amerika» wollen. Oder: dass immer weniger Menschen an das jetzige Amerika glauben, an die Reformierbarkeit der Systeme.

Der Polizei die Gelder entziehen?

Ideen, die vor einigen Jahren nur am Rand wahrzunehmen waren, werden mittlerweile in den Primetime-News, in der «New York Times» und sogar von manchen PolitikerInnen diskutiert: «Defund the police» ist eine der zentralen Forderungen, was so viel bedeutet wie: der Polizei die Finanzierung entziehen. «Der Diskurs hat sich verändert», sagte die Soziologieprofessorin Nancy Heitzeg letzte Woche gegenüber «The Intercept». Lange Zeit sei versucht worden, durch Training und Körperkameras eine «bessere Polizeiarbeit» herbeizuführen – ohne wirklichen Erfolg. Mittlerweile werde immer offener über die Abschaffung der Polizei gesprochen.

«The End of Policing», so heisst das 2017 veröffentlichte Buch des Sozialwissenschaftlers Alex Vitale, in dem er beschreibt, wie die Polizei in den vergangenen vierzig Jahren immer grösser und militaristischer wurde, wie sie inzwischen in fast allen Gesellschaftsbereichen – von der Schule bis zum Gesundheitssystem – eingesetzt wird, um arme Menschen und People of Color zu kontrollieren. Vitale konstatiert anhand zahlreicher Studien, dass die allermeisten Reformversuche – darunter Obamas «Task Force on 21st Century Policing» – misslungen seien. «Wir sollten Schutz und Sicherheit fordern – aber nicht von der Polizei. Die bietet am Ende nämlich beides nur selten», schreibt Vitale, der am Brooklyn College unterrichtet. Das Ende der Polizei beginne damit, so Vitale, Gelder und Ressourcen umzuverteilen. Weg von der Polizei, hin zu Sozialarbeit, Bildung, Gesundheitsversorgung.

Wie nötig diese Umverteilung ist, zeigt sich wohl in keiner Stadt so krass wie in New York. Mehr als 36 000 BeamtInnen hat das New Yorker Polizeidepartement, knapp sechs Milliarden US-Dollar beträgt das jährliche Polizeibudget. In den kaputt gesparten Krankenhäusern fehlte es in den vergangenen drei Monaten dagegen an fast allem: Personal, Masken, Schutzanzügen, Beatmungsgeräten (vgl. «Nur der nächste Notstand» ).

Offensichtliches Systemversagen

Zu den offensichtlichsten Problemen zählt ebenso die Immunität der Polizei. Die allerwenigsten Fälle von Polizeigewalt landen vor Gericht. Und die allermeisten Prozesse enden ohne Verurteilung. Im Fall von George Floyd liegt es wohl nur an einem Handyvideo, dass der Polizist – gegen den in neunzehn Dienstjahren achtzehn Beschwerden eingereicht wurden, von denen gerade einmal zwei zu einer Massregelung führten – jetzt wegen Totschlags angeklagt ist.

Auch an dieser Stelle offenbart sich das Systemversagen: Die Bilder von sterbenden Schwarzen sind entmenschlichend, traumatisierend – aber sie scheinen immer noch oft der einzige Weg, um Aufmerksamkeit für Rassismus und Polizeigewalt zu erzeugen. So war es im Fall des ermordeten Eric Garner, so war es im Fall des zwölfjährigen Tamir Rice, der in Cleveland von einem Polizisten erschossen wurde, so war es auch bei Philando Castile, der 2016 bei einer Verkehrskontrolle getötet wurde. Ohne die Aufnahmen dieser Morde wären ihre Geschichten mit grosser Wahrscheinlichkeit unbekannt.

Die Empörung in den US-Medien war in den letzten Tagen gross, über die Polizeigewalt, über den ewigen Rassismus, über Trump – aber eben auch über die Ausschreitungen. Plündereien und Vandalismus würden die Sache nur schlimmer machen, hiess es bei jeder Gelegenheit, nicht selten wurde Martin Luther King zitiert, dessen gewaltfreier Widerstand hervorgehoben.

Derselbe Martin Luther King schrieb allerdings auch, 1963 in seinem «Letter from Birmingham Jail», was er für das grösste Hindernis Richtung Freiheit halte: den «moderaten Weissen, dem Ordnung wichtiger als Gerechtigkeit ist».*

* Korrigendum vom 15. Juni 2020: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion steht fälschlicherweise, Martin Luther King habe 1963 in seinem «Letter from Birmingham Jail» geschrieben, was er für das grösste Hindernis Richtung Freiheit halte: den «moderaten Weissen, dem Ordnung wichtiger als Sicherheit» sei. Richtig ist: den «moderaten Weissen, dem Ordnung wichtiger als Gerechtigkeit ist».

Internationale Solidarität: Im Gedenken an die Toten

Eine Welle der Solidarität breitet sich aus, von Minneapolis über Montreal und London nach Berlin-Neukölln – und darüber hinaus. In Paris gingen am Dienstag Zehntausende auf die Strasse und forderten Gerechtigkeit für George Floyd sowie für Adama Traoré und für all die anderen aus den französischen Banlieues, für deren Tod PolizistInnen verantwortlich sind.

In Rio de Janeiro zogen am Sonntag Hunderte DemonstrantInnen durch die Strassen und riefen: «I can’t breathe!» Auch sie protestierten gegen die rassistische Polizeigewalt in den USA – und gegen jene in den Favelas. In Auckland demonstrierten am Montag Tausende und prangerten in Reden unter anderem den Rassismus und die Gewalt gegen die indigene Bevölkerung in Neuseeland an. In der syrischen Provinz Idlib wiederum, wo oppositionelle Milizen nach wie vor gegen das Regime von Machthaber Baschar al-Assad kämpfen, malten Künstler ein Wandgemälde zum Gedenken an George Floyd.

«Rassismus tötet» stand auf einem der Plakate, das AktivistInnen am Freitag vor der US-Botschaft in Bern in die Luft hielten. «Widerstand gegen die Polizei weltweit. In Solidarität mit Minneapolis» stand auf einem anderen. In Zürich demonstrierten am Montagmittag geschätzte 2000 Personen, darunter viele junge People of Color. Die Polizei hielt sich wohl aus taktischen Gründen – trotz Coronamassnahmen – im Hintergrund. Am Schlusspunkt gab es eine Schweigeminute sowie mehrere Reden. «Egal ob ihr weiss oder schwarz seid, egal welches Geschlecht und welche sexuelle Orientierung ihr habt», sagte ein Aktivist in seinem Redebeitrag, «die Hauptsache ist, dass ihr heute hier seid!»  

Merièm Strupler, Ugur Gültekin