Covid-19 in Palästina: Unter dem Schirm des Weltmeisters
Während Israel seine Impfkampagne feiert, kommt die Bekämpfung der Pandemie in den palästinensischen Gebieten nur schleppend voran. Ein Besuch im Westjordanland, wo der Lockdown schon vor Corona Alltag war.
Eine Kolonne Bagger rumpelt vor dem palästinensischen Flüchtlingslager al-Arub. Sie werkeln an einer neuen Strasse, über die jüdische SiedlerInnen ungestört ins israelische Kernland gelangen sollen.
Al-Arub liegt an der Hauptstrasse zwischen Hebron und Bethlehem und damit in der Zone C des Westjordanlands, die unter israelischer Besatzung steht. Schon bevor die Welt von einem Virus heimgesucht wurde, war die Arbeitslosigkeit hier hoch, die Lebensqualität niedrig. Immer wieder kommt es zu Demonstrationen: Steinwürfe werden mit Tränengas und Lärmgranaten beantwortet. Am staubigen Eingang stehen drei junge israelische Soldaten. Sie tragen Gewehre, aber keinen Mundschutz. Vielleicht weil sie denken, sie seien ja schon geimpft.
Wenn es ums Impfen geht, gilt Israel als Weltmeister und das Westjordanland als Lumpensammler. Drüben haben gerade die Restaurants und Bars wieder geöffnet, die Hälfte der Bevölkerung ist immunisiert, das Virus scheint endlich unter Kontrolle. Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) dagegen hat simultan den Lockdown ausgerufen; die Situation in den Krankenhäusern ist düster wie nie. Innert eines Monats hat sich die Zahl der Infizierten nach Angaben des Gesundheitsministeriums verdreifacht.
Aber Checkpoints und Umgehungsstrassen stoppen das Virus nicht – aus epidemiologischer Sicht sind BesatzerInnen und Besetzte eine Einheit: Israel und die PA riefen im vergangenen Jahr dennoch ohne Absprache ihre Lockdowns aus. Gleichzeitig besuchten arabische Israelis ihre Familien hinter der Grünen Linie zu Hochzeiten und Beerdigungen. Mehr als 100 000 PalästinenserInnen wiederum pendeln zu israelischen Baustellen hinter dem Sperrwall. Manche mit Genehmigung, andere durch Löcher im Wall. Dazu verdingen sich viele in jüdischen Siedlungen im Westjordanland. Die SiedlerInnen wiederum arbeiten oft in Israel.
Quarantäne schwierig einzuhalten
Drinnen im Flüchtlingslager, wo die Mauern mit Porträts palästinensischer «Märtyrer» besprüht sind, zeigt Nasla Abu Sal auf die Treppe zu ihrem winzigen Haus. «Genau hier stand er», sagt die Fünfzigjährige. Ihr Sohn hatte im Herbst mit dem Smartphone einen Zusammenstoss mit Soldaten gefilmt. Seitdem sitzt er in einem israelischen Gefängnis. Eigentlich hätte er in diesem Jahr mit dem College anfangen sollen.
Nasla Abu Sal hatte vor drei Monaten Covid-19 und kämpft immer noch mit Schmerzen in der Lunge. Angesteckt hat sie sich vermutlich bei ihrem Mann. Weil sein erster Test negativ ausfiel, infizierte er im engen Flüchtlingslager wohl auch einige NachbarInnen. Einen Test zu bekommen, sei kein Problem gewesen, sagen die Abu Sals, bloss habe die Auswertung sehr lange gedauert. Nach dem positiven Ergebnis hatten sie versucht, sich zu isolieren. Mit drei Kindern auf ein paar Quadratmetern war dies alles andere als einfach. Die medizinische Betreuung im Lager findet Nasla Abu Sal auch nicht besonders hilfreich – erst nach vier Tagen habe man ihr ein paar Kopfschmerztabletten gegeben.
Von den Lockdowns und Restriktionen bekommen sie in al-Arub nicht viel mit. «Die palästinensische Polizei hat hier ja nichts zu sagen», erklärt Nasla. Nur manchmal weise einer der israelischen Soldaten sie an, eine Maske aufzusetzen. Das Gefühl, keine Kontrolle über das eigene Leben zu haben, die Ungewissheit über die nähere Zukunft, die Ausgangssperren – was derzeit fast die ganze Welt zeitgleich erfährt, war für die PalästinenserInnen schon vor der Pandemie Alltag.
«Um 180 Grad gedreht»
Ein paar Kilometer südlich in Hebron sitzt Katharina Lange im Büro von Médecins Sans Frontières. Die dreissigjährige Berlinerin koordiniert den Einsatz des Teams seit einem Jahr – also seit Ausbruch der Pandemie. Eigentlich sollte sie nur ein paar Monate bleiben. Aber dann kam die Nachricht von der deutschen Botschaft: «Wenn Sie jetzt nicht ausreisen, wird das nichts mehr.» Lange blieb, um zu helfen.
Nach Stationen wie Südsudan oder Kamerun versprach Palästina ein eher ruhiger Einsatzort zu werden. Normalerweise kümmert sich das Team hier um psychologische Hilfe im Zusammenhang mit der Besatzung. Um Männer oder Kinder, die in israelischer Haft waren; um Familien, deren Häuser geräumt wurden oder die an Brennpunkten leben wie die Abu Sals.
«Das hat sich um 180 Grad gedreht», sagt Lange. Nach und nach stellte die NGO die psychologische Betreuung aufs Telefon um, etablierte eine inzwischen viel genutzte Hotline für Opfer von Gewalt, verteilte Hygienekits in den Lagern, versorgte erst das grösste Krankenhaus in Hebron mit Schulungen zum Infektionsschutz und half schliesslich, ein neues Krankenhaus speziell für Coronafälle einzurichten. Dank der Initiative und Spenden der reichen Hebroner Oberschicht sei das überraschend gut gelaufen, findet die Politikwissenschaftlerin.
Anders als in manchem afrikanischen Land kannte sich hier keiner aus mit Epidemien. Einige der Pflegefachfrauen kamen direkt aus der Schule und waren erstaunt, dass sie ihre Kittel nicht mehr zu Hause waschen durften. Andere Massnahmen mussten wie überall auf der Welt erst entwickelt werden. Lange lacht, als sie sich daran erinnert, dass sie anfangs selbst im Büro Einweghandschuhe trug.
Die Besatzung bedeute eine besondere Herausforderung. «Sie spannt sich wie ein Schirm über alles», sagt Lange. Sie habe allerdings gelernt, dass Schwarzweissdenken wenig bringt. So werde viel Verantwortung auf Israel abgewälzt. Dabei warteten die Pflegefachfrauen seit einem halben Jahr auf ihr Gehalt aus Ramallah, dem Sitz der palästinensischen Autonomiebehörde. Sie arbeiteten teilweise drei Schichten hintereinander und seien völlig am Ende.
«Die Pandemie erwischte die Gesellschaft hier an einem Punkt, wo sie schon sehr schwach war», sagt Lange. Die ersten strengen Lockdowns bis Ramadan wurden noch ernst genommen. Aber dann war die Angst vor dem Virus nur noch ein weiteres Problem obendrauf. «Die Leute sind müde.» Und im Westjordanland gibt es keine Hilfsgelder für Verdienstausfall.
Wie überall treffen die indirekten Folgen von Corona die Schwächsten am stärksten. Seit ein paar Monaten schickt Lange deshalb eine mobile Klinik in die Hügel südlich von Hebron. Masafer Yatta heisst die abgelegene Gegend. Dort leben rund 10 000 HirtInnen als HalbnomadInnen in Höhlen und Zelten – einerseits, weil sie es so gewohnt sind, andererseits, weil Israel den PalästinenserInnen dort keine Bauerlaubnis erteilt.
Zugang zu medizinischer Versorgung haben nur die Männer, die Käse und Butter in der nächsten Stadt verkaufen. Mütter und Kinder versorgen derweil Schafe und Ziegen. Einige der Dörfer liegen an Schotterpisten und sind kaum von SanitäterInnen zu erreichen – weder von israelischer noch von palästinensischer Seite. «Covid ist dort nicht das Problem», sagt Lange, «aber chronische Krankheiten.» Manche können sich die Medikamente ohne Job schlicht nicht mehr leisten.
Auch einige der Männer aus Masafer Yatta arbeiten hinter der Grünen Linie in Israel, auf dem Bau oder in Fertigungshallen. Mit der Pandemie wuchs nicht nur die Sorge, den Passierschein zu verlieren. Die Arbeiter hatten auch Angst, das Virus einzuschleppen, und wurden – vor allem nachdem die PA das Pendeln zeitweise untersagt hatte – in der eigenen Gemeinschaft heftig stigmatisiert. «In Masafer Yatta steckte man sie nach der Rückkehr in abgelegene Höhlen», sagt Lange. Aber auch in den Städten haben die PendlerInnen mit dem Vorwurf zu kämpfen, die eigenen Leute zu gefährden, wie Langes Team in Umfragen herausfand. Immerhin: Seit letzter Woche werden erstmals an den Checkpoints PalästinenserInnen geimpft, die mit Genehmigung in Israel arbeiten. Alle anderen werden wohl noch lange warten müssen.
Impfstoffe für ein Prozent
Israel hat bisher knapp 800 Millionen US-Dollar in Vakzine investiert, um seine Bevölkerung vor dem Coronavirus zu schützen. Premier Benjamin Netanyahu, der sich öffentlichkeitswirksam als Erster impfen liess, möchte mit der Impfkampagne die WählerInnen auf seine Seite ziehen. Bei den Parlamentswahlen am Dienstag brachte sie allerdings nicht die erhoffte Wirkung: Nach ersten Ergebnissen wird es für Netanyahu kompliziert, eine Mehrheit in der Knesset zu finden. Neuerliche Neuwahlen zeichnen sich ab.
Von der Logistik und Kühlung einmal abgesehen, können es sich die PalästinenserInnen gar nicht leisten, so viel wie Israel oder die europäischen Staaten für die Impfstoffe hinzublättern. Deshalb hofft die Autonomiebehörde, über das WHO-Impfstoffprogramm Covax Zugriff auf günstige Dosen zu erhalten. Dass man Israel nicht um Hilfe bitten will, ist verständlich. Immerhin verfolgte Netanyahu gerade noch die Absicht, das gesamte Westjordanland zu annektieren. Als verzweifelte Gegenwehr hatte Präsident Mahmud Abbas den Kontakt zur islamistischen Hamas wieder aufgenommen und die Kooperation mit den Israelis heruntergefahren.
Während humanitäre Organisationen der israelischen Regierung vorwerfen, ihre medizinische Verantwortung als Besatzungsmacht nicht wahrzunehmen, verweist Israel auf die Oslo-Verträge. Demnach ist die PA für die Gesundheitsversorgung im Autonomiegebiet selbst zuständig. Von gerade einmal 12 000 Dosen, die Präsident Abbas anfänglich arrangieren konnte, stammten dann doch 2000 aus Israel. Sie waren für medizinisches Personal vorgesehen. Dass die PA damit zuerst die Führungsriege und das Fussballnationalteam versorgt hat, kam in der Bevölkerung nicht besonders gut an.
Über das Covax-Programm trafen diese Woche weitere 40 000 Dosen im Westjordanland ein, 20 000 gingen nach Gaza. In der Westbank gibt es damit gerade einmal genug Impfstoff für ein Prozent der Bevölkerung. Weitere 400 000 Dosen sollen erst in den nächsten Monaten folgen. Eine Schwierigkeit liegt auch darin, die Bevölkerung von der Impfung zu überzeugen. Bei den Umfragen von Langes Teams kam heraus, dass nur knapp die Hälfte die Impfung FreundInnen und Familien empfehlen würde. Selbst PalästinenserInnen in Ostjerusalem, die sich bereits hätten impfen lassen können, verzichteten erst einmal.
Nasla Abu Sal aus dem Flüchtlingslager findet, die Impfung sei eine gute Sache – solange alte Menschen und medizinisches Personal bevorzugt würden. Aber noch schlimmer als ihre eigenen Erfahrungen mit dem Virus findet sie, dass sie ihren Sohn wegen der Pandemie nicht im Gefängnis besuchen darf.