Besetzung in der Waadt: Es geht nicht um einen kleinen Hügel, es geht um die ganze Welt

Nr. 13 –

Im Oktober besetzten KlimaaktivistInnen in der Westschweiz eine Anhöhe. Nun hat der Zementmulti Lafarge Holcim das Gelände räumen lassen – trotz des Widerstands eines Nobelpreisträgers, zahlreicher PolitikerInnen und internationaler AktivistInnen. Einblick in die letzten Tage der ersten Schweizer «Zone à défendre».

«Wir diskutierten von Anfang an darüber, wie wir ‹Defensive› interpretieren»: Die Räumung des Mormont am Dienstag dauerte den ganzen Tag.

Das Plateau gleicht einer Mischung aus Festung und Festival. Menschen tanzen und singen, in den Bäumen schweben Häuser. Es ist Freitag, der 26. März, vier Tage vor der Räumung der ersten «Zone à défendre» (ZAD) der Schweiz.

Die Zufahrten zum Mormont im Kanton Waadt, wo der Zementriese Lafarge Holcim seit 1953 einen Steinbruch betreibt, sind mit Baumstämmen blockiert, am Rand stehen Barrikaden aus Holz, Metall und Steinen. Aus der äussersten Reihe ragen spitze Pfosten, in der zweiten gibt es Gucklöcher.

«Wir werden nicht einfach gehen», sagt Jay* mit ruhiger Stimme. «Wir wollen diesen Ort beschützen, wir sind in einem Defensivmodus.» Jay ist schon länger aktivistisch unterwegs, doch irgendwann wollte sie mehr. «Ich hatte das Gefühl, für meine Mitstreiter war Aktivismus eher ein Hobby.» Als sie im November von der ZAD hörte, fand sie, wonach sie gesucht hatte: «ein Kampf ohne Kompromisse, bei dem alle ihr Know-how und ihr Können teilen».

Know-how aus Hessen

Begonnen hatte die Besetzung im Oktober, als AktivistInnen den Mormont mit seinen seltenen Orchideen und archäologischen Stätten zur ZAD erklärten – eine Widerstandsform, die bislang vor allem in Frankreich bekannt gewesen war. Lafarge Holcim produziert in der Ortschaft Eclépens neben dem Mormont jährlich 800 000 Tonnen Zement und verursacht so fast 400 000 Tonnen CO2. Damit gehört das Werk zu den zehn grössten Treibhausgas-Produzenten der Schweiz. Das Gesamtunternehmen rangiert auf Rang eins. Am Mormont will das Unternehmen den Steinbruch ausbauen; lokale UmweltschützerInnen zogen dagegen bis vors Bundesgericht. Der Entscheid ist noch hängig. «Der juristische Weg ist sehr langsam», erklärte eine Besetzerin im Herbst. «Mit der ZAD wollen wir zusätzlichen Druck aufbauen.»

Simon Kronenberg, CEO des Schweizer Ablegers des Zementproduzenten, zeigte sich davon wenig begeistert. «Die illegale Besetzung des Mormont, die mit erheblichen Sicherheitsrisiken verbunden ist, ist für uns nicht tolerierbar», sagte er. Das Unternehmen reichte Klage ein und bekam recht: Per 30. März durften die Behörden räumen.

Derweil erhielt auch die ZAD vielfältige Unterstützung: etwa durch AnwohnerInnen, die Essen und Getränke vorbeibrachten. Am Freitag vor der Räumung demonstrierten in Lausanne 1500 UnterstützerInnen. «Danke, danke, danke, seid ihr hier!», rief eine Besetzerin in ein Megafon. «Helft uns, diesen Ort zu beschützen!» Vor ihr die Massen und der Applaus. Hinter ihr das Bundesgericht und die Büros jener, denen ihre Worte eigentlich galten. Vor der Räumung wuchs das Protestlager täglich an. Am Freitag stehen vierzig bis fünfzig Zelte auf der Wiese. Der Klimastreik hat mobilisiert, ebenso Extinction Rebellion – dazu sind erfahrene AktivistInnen aus Deutschland und Frankreich angereist. Unter ihnen Oska*, die aus Deutschland angereist ist, «um mich der Räumung mit meinem Körper entgegenzustellen». Mitgebracht hat sie nicht nur ihren Körper, sondern auch praktisches Know-how aus dem Dannenröder Forst.

Hunderte AktivistInnen besetzten 2019 den Wald in Hessen, um mit über 500 Baumhäusern und Barrikaden den Ausbau einer Autobahn zu verhindern. Ende 2020 räumte die Polizei den Wald vollständig. Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen einen Aktivisten wegen versuchten Totschlags und gegen einen Polizisten wegen fahrlässiger Körperverletzung: Eine der AktivistInnen war aus fünf Metern Höhe auf den Boden gestürzt und hatte sich mehrere Wirbel gebrochen.

Mit den rechtlichen Konsequenzen einer Räumung, so Oska, lasse es sich leben, es gebe viel Solidarität aus der Bevölkerung. Auch bei der ZAD am Mormont wurde Geld für Prozesse gesammelt. «Angst habe ich eher vor den körperlichen Folgen.» Weder die meisten der BesetzerInnen noch die Polizei in der Westschweiz hätten sonderlich viel Erfahrung mit Baumhäusern.

Als Lafarge Holcim gegen die ZAD klagte, bekam das Unternehmen es neben den BesetzerInnen auch mit einem Nobelpreisträger und einem Lausanner Philosophen zu tun: Jacques Dubochet und Dominique Bourg gründeten einen Verein, um die Klagen anzufechten. «Ohne diesen Verein wäre die ZAD schon im Dezember geräumt worden», sagt Nobelpreisträger Dubochet. Die ZAD blieb.

Doch mit den zugereisten AktivistInnen kamen auch neue Fragen. «Wir diskutierten von Anfang an darüber, wie wir ‹Defensive› interpretieren», sagt Jay. Einer ihrer MitstreiterInnen stellte im Dezember ein Video auf Instagram. «Wir haben nie gesagt, dass wir gewaltfrei sind», sagte er und rief zu Sabotageakten auf, zu «aggressiven Antworten». Eine mediale Debatte darüber, wie friedlich die ZAD wirklich ist, kam ins Rollen.

An einem der regelmässigen Plenen gelangte die ZAD anschliessend zu einem Konsens: «Wir wollen, dass es Familien möglich ist, zu den Barrikaden zu kommen», fasst Jay den Beschluss zusammen. Das Video vom Dezember sei nicht in Absprache mit der ganzen Gruppe entstanden, sagten die AktivistInnen und löschten es wieder. Jacques Dubochet und Dominique Bourg gingen vor der Räumung trotzdem schon mal vorsichtig auf Abstand. «Wir sind keine ZADisten», sagte Bourg an einer Pressekonferenz. «Wir können sie nur ermutigen, nicht in die Falle der Gewalt zu tappen. Selbst wenn es sie juckt.»

Taten, keine Kompromisse

Zu vermitteln versuchten 130 gewählte PolitikerInnen aus dem Kanton. Sie forderten die Behörden zu einem Treffen mit den AktivistInnen auf, um eine «konstruktive, ökologische und demokratische Lösung» zu finden. Eine polizeiliche Räumung sei keine angemessene Reaktion, insbesondere angesichts der Dringlichkeit der Klimakrise.

Staatsrätin Béatrice Métraux (Grüne), in der Waadtländer Regierung verantwortlich für Umwelt und Sicherheit, traf sich daraufhin mit vier BesetzerInnen. Über den Inhalt des Gesprächs wurde Stillschweigen vereinbart. Klar ist jedoch: Métraux plädierte für eine freiwillige und gewaltlose Freigabe des Plateaus seitens der ZADistInnen. «Politiker haben uns Kompromisse angeboten, wenn wir friedlich gehen», sagt Jay auf dem Hügel. «Aber wir wollen Taten, keine Kompromisse.»

Nach einem Winter in den Bäumen gelangte auch ein inhaltliches Anliegen der BesetzerInnen auf die politische Agenda: Hadrien Buclin (Ensemble à Gauche) reichte mit zwanzig anderen linken und grünen KantonsparlamentarierInnen eine Motion ein: Es brauche Lösungen, um den Mormont zu erhalten.

Am Dienstag rückte die Polizei auf dem Mormont an. Die Räumung dauerte den ganzen Tag; um 20 Uhr waren alle Hütten und die gesamte Infrastruktur abgerissen. Die Polizei berichtete von Steinwürfen und einem verletzten Polizisten. Vier auf Bäumen verschanzte BesetzerInnen harrten die Nacht über auf dem geräumten Gelände aus.

Jay und Oska hatten gesagt, es sei wichtig zu verstehen, dass sie nicht nur gegen die Polizei kämpften, sondern auch für eine andere Form des Zusammenlebens. Und auf einem Schild in der Hand einer jungen Demonstrantin in Lausanne stand: «Unsere ZAD wird die ganze Welt sein.»

* Die AktivistInnen verwenden gegenüber den Medien Pseudonyme, um ihre Identität zu schützen.

Nachtrag vom 13. Januar 2022 : Uno kritisiert Waadtländer Polizei

Im Oktober 2020 besetzen ein paar Dutzend Klimaaktivist:innen einen Hügel in der Westschweiz. Mit einer «Zone à défendre» wollen die Besetzer:innen Druck auf den Schweizer Zementmulti Holcim aufbauen. Dieser baut im angrenzenden Steinbruch Rohmaterial für jährlich 800 000 Tonnen Zement ab und verursacht so fast 400 000 Tonnen CO2. Das Holcim-Werk in Éclépens gehört zu den zehn grössten Treibhausgasemittenten der Schweiz. Das Gesamtunternehmen schafft es auf Rang eins.

Die Aktion findet allerdings ein rasches Ende. Am 30. März beginnt die Polizei mit der Räumung. Sie vermeldet später einen verletzten Beamten, 29 Verhaftete und 93 strafrechtliche Ermittlungen. Weil sich einige Aktivist:innen bei der Einvernahme weigerten, ihre Ausweispapiere vorzulegen, sollen die Beamt:innen DNA-Proben und Fingerabdrücke entnommen haben. Die Staatsanwaltschaft schickte mindestens 37 Aktivist:innen für sechzig bis neunzig Tage ins Gefängnis. Weil sie ihre Identität nicht offenlegten, blieb ihnen der Einspruch verwehrt.

Dieses Vorgehen ruft erst Amnesty International und anschliessend die Vereinten Nationen auf den Plan. Amnesty International spricht von unverhältnismässig eingeschränkten Rechten und einem unfairen Verfahren. Und drei Uno-Sonderberichterstatter:innen zeigten sich nun in einem Brief an die Uno-Botschaft in Genf «beunruhigt» über Berichte zu den Haftbedingungen sowie den Vorwurf, Demonstrierende seien willkürlich festgehalten worden. Auch die in den kommenden Gerichtsprozessen drohenden Haftstrafen würden ihnen Kopfzerbrechen bereiten. Die Angeklagten verfolgten mit ihrem zivilen Ungehorsam schliesslich ein legitimes Ziel: die Rettung der Welt.

Sebastian Sele