Buch: Ein Glace von der Wärterin

Nr. 14 –

Die Autobiografie von Ingrid Strobl vereint mehrere Erzählerinnen: die Mittdreissigerin, die wegen Terrorismusverdacht in einem deutschen Gefängnis sitzt, teilweise in Isolationshaft; die Autorin, die im Gefängnis die Geschichten jener niederschreibt, die sie draussen getroffen hat – Frauen, die etwa gegen den spanischen Faschismus kämpften; und die dreissig Jahre ältere Frau, die über ihre damalige Haftzeit nachdenkt.

Strobls Sympathie für militante Gruppen in Deutschland brachte sie in den achtziger Jahren dazu, einen speziellen Wecker zu kaufen, der von den «Revolutionären Zellen» (RZ) als Zeitzünder eingesetzt wurde. Die RZ verstanden sich als Teil der autonomen Bewegung, der Strobl zwar nahestand, die aber damals wenig Raum in ihrem Leben einnahm – sie war in ihre Forschung über die Frauen im Widerstand gegen den Faschismus vertieft. Eine Arbeit, die von ihrer Verhaftung jäh unterbrochen wird.

Mit viel Aufmerksamkeit für Details, für innere Regungen und zwischenmenschliche Feinheiten beschreibt Ingrid Strobl ihre zweieinhalb Jahre dauernde Haftzeit. Sie holt die Lesenden in ihre Zelle und nimmt sie zu Umschlüssen mit, bei denen sie andere Insassinnen besuchen darf: Gleichzeitig tough und gebrochen, sind diese häufig nicht zum ersten Mal im Gefängnis und haben draussen kaum eine Perspektive – etwa eine Philippinin, die nur Englisch spricht und deswegen von den Wärterinnen zu Strobl gebracht wird. Ein deutscher Mann «bestellte» sie im Katalog, heiratete sie und schickte sie in die Prostitution. Gegen genau solche Männer richteten sich einige Anschläge der RZ.

Neben diesen schweren Themen schildert Strobl auch Anekdoten: Sie lässt sich etwa auf der Fahrt in ein anderes Gefängnis von der Schliesserin ein Eis kaufen – und bricht Konventionen für politische Gefangene, die wortkarg und abweisend zu den Wärterinnen sein sollten. Strobl bewahrt sich in der Haft eine eigene, sehr menschliche Haltung, und so wird ihr Buch zu einer reflektierten, einfühlsamen und erfrischenden Lektüre.

Ingrid Strobl: Vermessene Zeit. Der Wecker, der Knast und ich. Edition Nautilus. Hamburg 2020. 192 Seiten. 29 Franken