Prozess: Hat sie RAF gesagt?
Nach dreissig Jahren im Untergrund steht Daniela Klette vor Gericht. Vorgeworfen werden ihr Raubüberfälle. Doch im Prozess geht es um viel mehr: Um die Rote-Armee-Fraktion, der Klette einst angehört haben soll. Und damit um einen nie aufgearbeiteten Teil der deutschen Geschichte.

Es ist der 6. Mai und Prozesstag Nummer sechs in der Hauptverhandlung gegen Daniela Klette. Im Glaskasten mit den schusssicheren Scheiben im Staatsschutzsaal des Oberlandesgerichts Celle legt sich die 66-Jährige eine palästinensische Kufija um die Schultern und hält ein Notizheft vor die Kameras: «Stop Vertreibung, Bombardierung, Aushungern!» steht mit Kugelschreiber auf dem karierten Papier.
Es ist ein politisches Statement in einem Prozess, der von Beginn an seine eigene politische Dimension mitverhandelt, ja mit ihr ringt.
Da sind zunächst die rigorosen Sicherheitsmassnahmen: die jungen, maskierten Polizist:innen, die mit Maschinenpistolen alle Eingänge zum Gericht und zum Staatsschutzsaal bewachen. Hinzu kommen die über sechzig Medienvertreter:innen, die zum ersten Prozesstag anreisen, obwohl die Hälfte von ihnen die Verhandlung aus Platzgründen nur per Tonübertragung mitverfolgen können.

an Prozesstag Nummer zwei. Foto: Ronny Hartmann, Reuters
Wir verhandeln zwar in einem Hochsicherheitsstaatsschutzsaal, aber es handelt sich hierbei nicht um einen Terrorismusprozess.
Richter Lars Engelke, Prozesstag Nummer eins, 25. März 2025
Da ist der vorsitzende Richter, Lars Engelke, schwarze Robe, brauner Haarkranz, Ende vierzig, bemüht, den Prozess betont leger über die Bühne zu bringen. An Prozesstag Nummer sieben lässt er sich gar zu einem jovialen Witz über Capoeira hinreissen, die Sportart, die Daniela Klette vor ihrer Zeit im Gefängnis betrieben hatte, was die Ermittler:innen wohl auf die entscheidende Spur führte. Am 26. Februar 2024 wurde sie, nach über dreissig Jahren Fahndung, in Berlin Kreuzberg festgenommen.
Da ist das dreiköpfige Team der Verteidiger:innen, die gemeinsam mit Klette im Glaskasten sitzen und ein langwieriges juristisches Gefecht austragen: um die zwei Polizist:innen im Glaskasten, die auf ihren Antrag hin ausserhalb des Kastens postiert werden. Um die schwere Bleiweste, die Klette tragen muss, während ihres Transports – ein Konvoi aus fünf Polizeifahrzeugen – vom Gefängnis Vechta nach Celle, jeweils rund zweieinhalb Stunden Fahrt, während sie an Händen und Füssen gefesselt ist.
Weiter sind da die Unmengen – achtzehn Terabyte – an Daten aus den Akten, die Klettes Anwält:innen augenscheinlich erst am Nachmittag vor Prozessbeginn erhielten. «Das sind 99,9 Prozent der gesamten Akte», entrüstet sich Verteidiger Lukas Theune, schwarze Robe, Ende dreissig. «Umgewandelt in Papier, wären das etwa zehn Millionen Leitz-Ordner, aneinandergereiht die Strecke von Berlin bis München.» Hinzu kommt: Das Landeskriminalamt (LKA) Niedersachsen hat die digitalen Aktenberge mit der KI «Cellebrite Pathfinder» ausgewertet, einer Spionagesoftware – und zwar ohne entsprechende Rechtsgrundlage, konstatiert Theune.
Wenn über das hiesige Verfahren berichtet wird, dann geht es in den Überschriften nie um die Raubdelikte. Die Schlagzeilen werden bestimmt von dem Begriff der RAF-Terroristin.
Ulrich von Klinggräff, Verteidiger, Prozesstag Nummer eins
Da ist die kleine Solidaritätskundgebung, die seit zwei Monaten kontinuierlich im beschaulichen Celle auftaucht, zwischen Schlosspark und Gericht einen Pavillon aufstellt, mit dem Lautsprecherwagen Reden wiedergibt, Lieder der Punkband Wizo abspielt und Transparente aufhängt, auf denen steht: «Kein schlechter Mensch, der Knäste sprengt» oder: «Revolutionäre Geschichte verteidigen».
Und da ist die Angeklagte selbst, die, ihre grauweissen Haare zum Dutt gebunden, aufmerksam auf die Besucher:innenplätze schaut, freudig zurückwinkt, wenn Zuschauer:innen ihr winken. Als junge Frau engagierte sich Klette ab den späten siebziger Jahren in der Roten Hilfe und gegen Isolationshaft, war Teil der Antikriegsbewegung, demonstrierte gegen den Nato-Doppelbeschluss.
Seit 1993 wurde wegen mutmasslicher Mitgliedschaft in der Rote-Armee-Fraktion (RAF) nach ihr gefahndet. In einem zweiten, vom aktuellen Prozess getrennten Verfahren ermittelt die deutsche Bundesanwaltschaft gegen Klette wegen dreier Anschläge, zu denen sich die RAF bekannt hatte: 1990 auf die Deutsche Bank in Eschborn, 1991 auf die US-amerikanische Botschaft in Bonn und 1993 auf das just fertig gebaute Gefängnis Weiterstadt. Die Mitgliedschaft in der RAF – «einer terroristischen Vereinigung» – ist mittlerweile verjährt.
Dieser Prozess wird nicht gegen mich geführt, hier geht es einmal mehr um die Aburteilung der RAF, die seit 27 Jahren Geschichte ist; es geht um die Abrechnung mit dieser Widerstandsgeschichte von fundamentaler Opposition.
Daniela Klette, Prozesserklärung vom 25. März 2025
Die Geschichte von Celle, einer niedersächsischen Kleinstadt, ist derweil auf ihre ganz eigene Weise mit der Geschichte der RAF und gesprengten Gefängnismauern verbunden: Ein Gedenkstein erinnert heute an das vierzig Zentimeter grosse «Celler Loch». Es wurde 1978 bei der «Aktion Feuerzauber» in die Mauer der Justizvollzugsanstalt Celle gesprengt, angeblich von RAF-Mitgliedern, um ihren Mitstreiter Sigurd Debus aus dem Hochsicherheitstrakt zu befreien – tatsächlich aber vom Verfassungsschutz und der Antiterroreinheit GSG 9, um damit eine Legende für künftige verdeckte Ermittler:innen zu schaffen. In die «Aktion» verwickelt war auch der damalige niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU), Vater von EU-Präsidentin Ursula von der Leyen.

Dann ist da Ariane Müller mit dem roten Schal, die für die Zeitung «Junge Welt» über praktisch jeden Prozesstag in Celle berichtet und weiss, welches die guten Plätze in den Pressereihen des Staatsschutzsaals sind. Sie war es auch, die nach Klettes Verhaftung vor dem Frauengefängnis Vechta eine Kundgebung anmeldete, woraufhin sie ihre damalige Arbeitsstelle verlor: Das Spital in Bremen liess die Krankenpflegerin direkt freistellen. «Ach, wegen meines Engagements im Betriebsrat waren die ohnehin froh, mich loszuwerden», winkt Müller im Gerichtssaal ab. Die Leitung habe sich später bei ihr entschuldigt. Was sie jedoch weiterhin beschäftigt: Ihr sowie weiteren vier Personen, die Klette im Gefängnis besuchen wollten, ist das seitens der Behörden verwehrt worden.
So widerrief der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe etwa die Besuchserlaubnis einer Freundin von Klette – wegen eines Gesprächs im Besucherraum.
Wenngleich sich das hier anschliessende Gespräch damit befasste, was die Beschuldigte aus den Fenstern ihres Haftraumes sehen kann, besteht der Verdacht, dass es sich bei den Worten «Sonne. Fenster. Baum.» um Teile eines der Beschuldigten verständlichen Codes handelte, mittels dessen [die Besucherin] der Beschuldigten eine versteckte Botschaft zukommen liess.
Auszug aus dem BGH-Beschluss vom 28. Oktober 2024
Und dann ist da die Staatsanwältin Annette Marquardt, schwarze Robe, rote Fingernägel, 2019 für 25 Jahre gewissenhafte Pflichterfüllung mit einer Dankesurkunde geehrt. In ihrer Anklageschrift beschreibt sie «bandenmässige Raubüberfälle», Täter (nicht gegendert), die aus «Habgier» gar zum Töten bereit gewesen seien. Konkret wirft sie Klette vor, sich zwischen 1999 und 2016 an dreizehn Raubüberfällen auf Supermärkte und Geldtransporter beteiligt zu haben. Zudem soll sie unerlaubt Waffen besessen haben. Insgesamt wurden gut 2,7 Millionen Euro gestohlen. Bei zwei der dreizehn Überfälle feuerten maskierte Personen Schüsse ab. Die Staatsanwaltschaft wirft Klette nicht vor, selbst geschossen zu haben, klagt sie aber dennoch wegen versuchten Mordes an. Es erinnert an den juristischen Leitsatz aus aktiven RAF-Zeiten: Alle Mitglieder seien für alle Taten der Gruppe verantwortlich.
Dies ist ein Überfall. Wir sind bewaffnet. Wir wollen nur das Geld. Wir tun Ihnen nichts. Wo ist das Geld? […] Vielen Dank, meine Damen, und auf Wiedersehen!
Maskierte Personen beim Überfall auf das Walmart-Kassenbüro 2004 in Leverkusen, zitiert von der Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift
Es ist der missglückte Überfall auf den Real-Markt in Stuhr 2015, mit dem sich das Gericht während dieser ersten beiden Monate in Celle beschäftigt. Es ist der schwerwiegendste Vorwurf der Anklage: Beim Geldtransporter, der überfallen werden sollte, wurde nicht nur in den Vorderreifen, sondern auch auf die verriegelte Tür der Fahrerkabine geschossen. Er habe damals direkt in die Mündung der Waffe geschaut, berichtet der Fahrer des Geldtransporters, Jeans, weisses T-Shirt, an Prozesstag Nummer drei. Nach etwa vier Minuten brachen die maskierten Personen den Überfall ab, für ihn habe es sich «wie eine halbe Ewigkeit» angefühlt. Es hat ihn viel Zeit gekostet, den immensen Schock zu verarbeiten: Der heute 63-Jährige litt unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, begab sich für drei Monate in eine Klinik, war insgesamt fünfzehn Monate krankgeschrieben. Heute fährt er wieder Geldtransporter.
Damals hatte der Fahrer bei der Polizei zu Protokoll gegeben, es handle sich wohl um maskierte Männer mit einem «osteuropäischen Akzent», eher jung, unter vierzig – «so wie der da aus dem Lieferwagen rausgesprungen ist, das hätte ich nicht geschafft», sagt er auch heute. Die Jurist:innen im Staatsschutzsaal wollen nun von ihm wissen: Wie gross waren denn diese maskierten Personen damals – und wie sicher ist er, dass es Männer waren?
Ähnlich ergeht es dem Zeugen von Prozesstag Nummer vier, Soldat, kurz rasierte Haare, Jogginghose und Turnschuhe. Er habe an besagtem Samstagnachmittag mit seiner Frau fürs Grillieren eingekauft, den Überfall habe er zunächst für eine Polizeiübung gehalten, dann sei er stutzig geworden: «Die trugen ihre Waffen so unsicher.» Schon damals gab er zu Protokoll: Die Panzerfaust, die eine der Personen auf der Schulter getragen habe, die habe nicht echt ausgesehen.

Wie sich Erinnerung im Lauf der Zeit verändert, darüber ist der Fall Stuhr ein Lehrstück. Im Gerichtssaal werden die Aufnahmen einer Überwachungskamera abgespielt, Fotos eines weissen Lieferwagens, des mutmasslichen Tatfahrzeugs, Phantombilder und Skizzen gesichtet, die die Zeugen kurz nach dem Überfall angefertigt hatten – sie erkennen sie selbst fast nicht wieder. Zudem hat die Fernsehsendung «Aktenzeichen XY … ungelöst» 2016 und 2024 nachgestellte Szenen der Überfälle ausgestrahlt, versehen mit dem Hinweis: «Jetzt bittet die Kriminalpolizei wieder um Ihre Mithilfe.»
Das Tatfahrzeug, der Lieferwagen, sei ganz klar orange gewesen oder zumindest sehr rostig, sagt an Prozesstag Nummer sieben der siebzigjährige Zeuge, Hemd und Anzug, mit grosser Bestimmtheit. Er war 2015 ebenfalls für den Wochenendeinkauf auf dem Parkplatz des Real-Marktes. Heute ist er sich sehr sicher, dass er dort «die Frau Klette mit der Panzerfaust» sah. Zu Protokoll gegeben hatte er damals: Er habe einen vermummten, vermutlich jungen Mann gesehen.
Mit grosser Spannung erwartet wird der Zeuge an Prozesstag Nummer sechs: ein Polizeibeamter des LKA Niedersachsen, Kurzhaarschnitt, schwarzes Jackett, Sneakers, Anfang vierzig. Er war es, der Daniela Klette verhaftete. Er habe erst googeln müssen, was Capoeira sei, als ein entsprechender Hinweis eingegangen sei, erzählt der Fahnder. Auf die entscheidende Spur hätten ihn unter anderem Podcastjournalisten gebracht. Diese hatten ein altes Fahndungsbild von Klette in die Gesichtserkennungssoftware «PimEyes» eingespiesen – und ihre Erkenntnisse im Dezember 2023 publiziert.
Mit einem LKA-Kollegen und zwei Berliner Streifenpolizisten habe er an Klettes Wohnungstür in Kreuzberg geklingelt und gedacht, es handle sich um das routinemässige Abarbeiten des «250.» Hinweises, berichtet der Beamte. Klette sei ohne grosse Umstände mitgekommen. Sie sei nur kurz auf der Toilette verschwunden, von wo sie eine Nachricht an den «gesondert verfolgten» Burkhard Garweg geschickt haben soll: «Sie haben mich.»

Man konnte ganz normal mit ihr umgehen. Sie war ruhig, gefasst und kooperativ. Es war ganz harmonisch.
LKA-Beamter, Prozesstag Nummer sechs
Und dann, auf der Wache, sei auf dem Rechner, der Fingerabdrücke mit der Polizeidatenbank abgleicht, das alte Fahndungsbild «aufgeploppt». Wie sicher denn diese Identifizierung sei, habe Klette gefragt. «Also, wir gehen schon davon aus, dass Sie das sind», habe er geantwortet. Sie habe innegehalten und dann gefragt, ob ihre Mutter noch lebe. Ob er wisse, wo die Schwester wohne. «Die Situation war etwas sonderbar», meint der Fahnder. Sie hätten überlegt, wer sich um Klettes Hund kümmern könnte, und später, in der Nacht, sei er nochmals zu ihr in die Gefangenensammelstelle gefahren: Die Durchsuchung ihrer Wohnung stand bevor; ob das gefährlich sei, habe er sich erkundigt. «Jetzt halten Sie mal den Ball flach», habe sie geantwortet. «Gehen Sie da mal rein, da passiert nichts.»
In Kreuzberg sperrte die Polizei derweil die komplette Strasse, evakuierte das Haus.
Wir vergessen nicht. Diese Festnahme ist ein Meilenstein in der deutschen Kriminalgeschichte.
Daniela Behrens (SPD), niedersächsische Innenministerin, 27. Februar 2024
Der Rechtsstaat hat seine Beharrlichkeit und seinen langen Atem gezeigt. Niemand sollte sich im Untergrund sicher fühlen.
Nancy Faeser (SPD), Bundesinnenministerin, 27. Februar 2024
Im Wartesaal der Polizeistation aber, so der Fahnder, habe sie ganz plötzlich gerufen: «Ich bin Daniela Klette von der RAF. Ich bin festgenommen.» Nun wollen es die Jurist:innen genau wissen: Hat sie «RAF» oder «Raff» gesagt? Hat sie nur gerufen: «Ich bin Daniela Klette, ich bin verhaftet»? Oder gar: «Ich bin Daniela Klette. Ich bin festgenommen von der RAF»? Letztere Variante sorgt für heiteres Gelächter. «Daran hätte ich mich erinnert», meint der Beamte. Die Angeklagte schmunzelt.
Da ist die Geschichte der Rote-Armee-Fraktion, gegründet zwei Jahre nach dem progressiven Aufbruch 1968, nach den grossen Protesten gegen den Vietnamkrieg; in Zeiten aufgerüsteter Repression, 25 Jahre nach dem Nationalsozialismus. In Italien bilden sich ebenfalls 1970 die Roten Brigaden, in Griechenland 1975 – ein Jahr nach dem Ende der Militärjunta – die Stadtguerilla «17. November», in Spanien kämpft die Eta gegen die Franco-Diktatur und für die baskische Autonomie.
Auch in Deutschland sind es verschiedene linke Gruppen, die sich zu jener Zeit bewaffnen: ebenfalls ab 1970 die «Bewegung 2. Juni», ab 1973 die dezentral organisierten Revolutionären Zellen, aus denen später die Rote Zora, eine militant-feministische Gruppe, hervorgeht. Und doch ist es vor allem die RAF, die in Erinnerung geblieben ist.
Vor fünfzig Jahren, am 21. Mai 1975, begann in Stammheim der grosse Prozess gegen die RAF-Mitglieder der ersten Generation – Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe, Andreas Baader. Heute seien die beiden Prozesse gegen Daniela Klette das «vielleicht letzte juristische Gefecht zwischen RAF und BRD», bilanziert die Schriftstellerin Stephanie Bart in der Zeitung «Analyse & Kritik». Das «vielleicht» in Barts Satz: Es gilt, solange die «gesondert verfolgten» Burkhard Garweg und Ernst-Volker Staub untergetaucht bleiben. Die beiden sollen wie Klette zur dritten Generation der RAF gehört haben. Um ihr Leben im Untergrund zu bestreiten, sollen die drei gemeinsam Überfälle verübt haben.
Kurz vor Weihnachten 2024 erscheint in der Zeitung «taz» unter dem Titel «Grüsse aus der Illegalität» ein langer politischer Essay. Burkhard Garweg wehrt sich darin gegen die Darstellung in der Öffentlichkeit als «gewalttätige Kriminelle beziehungsweise Terroristen». Der Text ist adressiert an seine Familie, an Freund:innen und Verbündete, an die Wagenplatzbewohner:innen, mit denen er zuletzt in Berlin gewohnt hatte. «An alle», so Garweg, «die sich mit meiner und unserer Sicht auseinandersetzen wollen.»
Ich lebte viele Jahre mit Menschen, die nicht wussten, aus was für einer Geschichte ich kam. Als Illegale*r ist es nicht möglich, von der eigenen Illegalität zu erzählen. Bitte verzeiht das.
Burkhard Garweg, in der «taz», 21. Dezember 2024
Caroline Braunmühl hat Garwegs Text gelesen. Ihr Vater, Gerold von Braunmühl, Diplomat im Auswärtigen Amt, wurde 1986 von RAF-Mitgliedern erschossen. Seine Brüder veröffentlichten damals einen offenen Brief an die RAF: «Eure Sprache ist wie Beton.»
Gerold von Braunmühl ist einer von 34 Menschen, die von der RAF getötet wurden. Zu den bekanntesten gehören Generalbundesanwalt Siegfried Buback und Hanns Martin Schleyer, einst SS-Untersturmführer, später CDU-Mitglied und Arbeitgeberpräsident. Zu den unbekannteren Namen gehört jener von Edith Kletzhändler. 1979, auf der Flucht nach einem Banküberfall in Zürich, kam es zu einer Schiesserei zwischen Polizei und RAF. Kletzhändler, eine Passantin, wurde tödlich getroffen.
Im Umfeld der RAF gab es 27 Tote, darunter die zwanzigjährige Petra Schelm 1971 und der 23-jährige Tommy Weissbecker 1972, die – wie weitere zehn RAF-Mitglieder – zweifelsfrei von der Polizei erschossen wurden. Nach dem Tod von Ulrike Meinhof 1976 untersuchten Gerichtsmediziner ihr Gehirn auf «einen Hirnschaden» und gaben es erst 26 Jahre später zur Bestattung frei. 1974, als Holger Meins nach 58 Tagen im Hungerstreik starb, brach eine Protestwelle gegen Isolationshaft los. Bei der Beerdigung in Hamburg erklärte Rudi Dutschke: «Holger, der Kampf geht weiter!»
Caroline Braunmühl hat sich bisher nie öffentlich zur Ermordung ihres Vaters geäussert. Anders ihr Bruder, Patrick von Braunmühl, und andere Hinterbliebene wie die Autorin Carolin Emcke, die fordern, ehemalige RAF-Mitglieder sollten aktiv zur Aufklärung der damaligen Anschläge beitragen. Ihr Bruder und Emcke könnten nicht für alle Hinterbliebenen sprechen, schreibt Caroline Braunmühl nun in ihrem Essay für «nd aktuell». Trotz allen Schmerzes über den Tod ihres Vaters und der Sinnlosigkeit seiner Ermordung habe sie selbst der RAF immer ambivalent gegenübergestanden. Einseitig die «Gegengewalt der RAF» in den Blick zu nehmen, so wie ihr Bruder, findet Braunmühl politisch scheinheilig.
Dass solche Gegengewalt den Charakter politischen Widerstands hatte – auch die Gewalt der RAF, wie auch immer man sie beurteilt, und das muss für unterschiedliche Anschläge der RAF differenziert betrachtet werden –, [kann sich mein Bruder] nicht eingestehen.
Caroline Braunmühl, in «nd aktuell», 17. Januar 2025
Den meisten Aussagen von Garweg könne sie zustimmen, schreibt Braunmühl. Allerdings folge seine Rhetorik ihrerseits einer Art Vereinfachung, bei der – ob hegemonial oder linksradikal – jeweils eine Seite dämonisiert und die andere kritiklos idealisiert werde. Fehlende Selbstreflexion und Kritik nach innen schwäche heute letztlich linksradikale Positionen und «militanten linken Widerstand».
Wo es in seinem Text um die RAF geht, hätte Garweg sich sehr wohl mehr Differenzierung gestatten können und auch abverlangen sollen. […] Die gezielte Ermordung von Menschen durch die RAF, mit der sie sich von anderen, zeitgleich bewaffneten Gruppen unterschied, war falsch.
Caroline Braunmühl, in «nd aktuell», 17. Januar 2025
Mitte März antwortet Burkhard Garweg – noch immer auf der Flucht – auf das Schreiben. Er stimme mit Braunmühl überein: Für ein reflektiertes Bild der kämpferischen Geschichte sei es notwendig, auch deren Schwächen zu sehen – gerade auch, um daraus Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. Auf rund dreissig Seiten, die er ebenfalls an «nd» schickt, rekapituliert Garweg chronologisch die Geschichte der RAF. Er kritisiert die «militärische Dynamik», die sich ab Ende der siebziger Jahre zugespitzt habe, die zunehmende Isolation, den «Zweikampf Staat/Guerilla». 1991 sei die RAF von ihrer «Attentatspolitik» abgerückt.
Ein Jahr später, im April 1992, erklärte die RAF in einem öffentlichen Schreiben: «Wir haben uns entschieden, dass wir von uns aus die Eskalation zurücknehmen.» Fortan wolle sie auf «tödliche Aktionen» gegen Repräsentanten von Staat und Wirtschaft verzichten. 1993 ist das Jahr, in dem erstmals öffentlich nach Daniela Klette gefahndet wird. Es ist auch das Jahr, in dem ein RAF-Kommando das neu errichtete Gefängnis Weiterstadt Tage vor seiner Eröffnung in die Luft sprengt. Bevor es damals zur Tat schreitet, hat es das Wachpersonal überwältigt und in Sicherheit gebracht. Es wird der letzte Anschlag der RAF sein.

im Gefängnis Weiterstadt Tage vor dessen Eröffnung einen Sprengsatz. Foto: Keystone
1993 ist auch das Jahr von Bad Kleinen. Es ist Klettes Verteidigerin Undine Weyers, schwarze Robe, grau melierte Locken, die an Prozesstag Nummer eins den Satz zitiert, der sich als Warnung oder Drohung verstehen lässt und den Staatsanwältin Marquardt zu ihrer Mandantin gesagt habe, als diese dem Haftrichter vorgeführt worden sei.
Reden Sie doch mit mir, wir wollen doch wahrscheinlich beide ein zweites Bad Kleinen verhindern.
Auszug aus dem Opening Statement von Undine Weyers
Am 27. Juni 1993 wartet am mecklenburgischen Kleinstadtbahnhof Bad Kleinen ein Spezialkommando auf Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams. Die beiden RAF-Mitglieder wollten sich dort mit jemandem aus der linken Szene treffen – wie sich später herausstellte, spitzelte diese «Kontaktperson» für den Verfassungsschutz.
Es kommt zu einer chaotischen Schiesserei, der Polizist Michael Newrzella wird erschossen, Grams stürzt schwer verletzt auf die Gleise. Dort stirbt er durch einen aus nächster Nähe abgegebenen Schuss in den Kopf. Eine Kioskverkäuferin berichtet anschliessend, Grams sei von GSG-9-Beamten gezielt hingerichtet worden. Sie wird später anonym bedroht. Laut Polizeiangaben beging Grams Suizid. Das Projektil, das ihn tötete, wird nie gefunden.
1998 löst sich die RAF auf.
Es werden die Schatten der Vergangenheit beschworen, so, als ob sich seit Anfang der neunziger Jahre nichts Wesentliches verändert hätte, so, als ob es die RAF immer noch gäbe.
Ulrich von Klinggräff, Verteidiger
Ich fordere die sofortige Einstellung der hetzerischen Fahndung gegen Burkhard Garweg und Volker Staub! Das muss sofort aufhören.
Daniela Klette, Prozesserklärung
Nicht nur für die Gefangenen, sondern für die gesamte Menschheit gilt: Frei sein können wir nur, wenn alle frei sind. Freiheit für Daniela! smash the system.
Burkhard Garweg, in «nd aktuell», 14. März 2025
Die Kammer hat für dieses Verfahren zwei Jahre eingeplant. Je nach Verfahrensgang kann sich das verkürzen oder auch verlängern. Das ist immer schwer absehbar.
Ahmad Mohamad, Gerichtssprecher
Das Ringen im Staatsschutzsaal: Es zeugt vom Ringen um die politische Bedeutung der Rote-Armee-Fraktion; dem Ringen mit diesem Teil der deutschen und der linken Geschichte. Es zeugt vom Ringen um Deutungshoheit, um Aufarbeitung – und davon, wie die Geschichte der RAF heute, wo sie fast so lange nicht mehr existiert, wie es sie einst gab, noch nicht zu Ende ist.
In Celle sind die Verhandlungstage vorbei. Der Staatsschutzsaal war eine Übergangslösung, aus «Platz- und Sicherheitsgründen». Zuständig für den Prozess ist das Landgericht Verden. Nun wird die Verdener Reithalle wiedereröffnet, für rund 3,6 Millionen Euro extra umgebaut für den Prozess gegen Daniela Klette.