Durch den Monat mit Pia Zanetti (Teil 2): Ist die Welt ein unzufriedener Ort?

Nr. 14 –

Frauen sind hinter der Kamera und auf den Bildredaktionen in der Minderheit. Pia Zanetti erzählt, wie sie trotzdem immer alles gemacht hat, was ihr wichtig war – und wie sie an einer Vietnamdemonstration von der Polizei gepackt wurde.

«Ich habe auch Aufträge erhalten, gerade weil ich eine Frau bin»: Pia Zanetti in ihrer Wohnung – und 1967 in einer Kohlegrube im belgischen Blegny.

WOZ: Pia Zanetti, Sie haben letzte Woche erwähnt, wie Sie in der Lehre gelernt haben zu verkaufen. Wenn ein junger Mensch Sie heute fragt, wie man das macht, was antworten Sie?
Pia Zanetti: Geh auf den Wochenmarkt, und beobachte dort die Marktleute. Du musst einfach mutig sein und zu deiner Arbeit stehen. Sag nicht: «Schau, ich habe ein Foto, aber ich weiss schon, es ist mir nicht ganz gelungen, da war gerade noch ein Baum im Weg.» Wenn man ein Projekt vorschlägt, muss man begeistert sein davon, sonst funktioniert der Auftrag nicht. Und wenn du deine Fotos ausgewählt hast und zeigst, musst du überzeugt sein davon, sonst solltest du sie nicht zeigen.

Und wenn Sie so begeistert mit Abzügen von Zeitung zu Zeitung getingelt sind, arbeiteten da auch Frauen auf den Bildredaktionen?
Nein. Also in London schon. In Italien wars dagegen eine hundertprozentige Männergesellschaft. Mich haben sie ein bisschen belächelt, nannten mich «La Virgoletta», das kleine Komma. Wegen meiner Erscheinung. Die haben alle nicht geglaubt, dass ich immer wieder auftauchen würde, dass ich fotografieren wollte und dass ich die Fotografie als meinen Beruf betrachtete. Irgendwann sahen sie meine Publikationen in den italienischen Zeitschriften und haben mich langsam ernst genommen. Die Fotografenkollegen gaben dann auch etwas acht auf mich, nahmen mich bei Demonstrationen in die Mitte. Das war auch eine schöne Erfahrung.

Dass Sie eine Frau sind, hat sich also nicht als Nachteil ausgewirkt?
Am Anfang schon. Bei der Lehrstellensuche hiess es, ich könne ja das ganze Fotoequipment gar nicht tragen. Dann gibt es die Geschichte, als die Pietà von Michelangelo für den Transport an die Weltausstellung in New York verpackt wurde. Das sollte ich fotografieren. Die Pietà musste so verpackt werden, dass sie oben bliebe, sollte das Schiff untergehen. Ich musste also in den Vatikan, hatte Jeans an. Dann hiess es, mit Hose dürfe eine Frau nicht in den Vatikan. Da ging ich in den nächsten Laden und kaufte einen Jupe. Und dann standen sie wieder da und sagten: «Ma si vede tutto» (Man sieht ja alles). Ich dachte: Dann schaut halt, ich bin ja nicht nackt. Es war mir egal, denn ich wollte einfach gute Arbeit abliefern.

Aber die Frage, wer in einem reinen Männerbund die Aufträge erhält, stellt sich ja schon.
Ja, das hat man jetzt gerade wieder beim Protest der Frauen bei Tamedia gesehen. Aber ich hatte ja nie eine feste Anstellung. Und als Frau hast du eben auch Vorteile. Ich habe auch Aufträge erhalten, gerade weil ich eine Frau bin. Weil ich einen besseren Zugang zu anderen Frauen habe, zu sozialen Themen, etwa wenn es um Armut ging. In afrikanischen Ländern, da konnte ich einfach vor einer Hütte stehen und rufen, und die Frau kam raus. Weil sie keine Angst hatte, liess sie mich auch in ihre Hütte rein. Auch das Älterwerden war ein Vorteil. Ich war die Mutter, und die Menschen haben einen riesigen Respekt vor der Mutter. Ich hatte keine #MeToo-Erlebnisse. Dass das alles ans Tageslicht kommt, ist aber extrem wichtig.

Haben Sie beim Fotografieren je Gewalt erlebt?
An den Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg habe ich schlimmes Zeugs erlebt. An der wichtigen Demo in London mit der Schauspielerin Vanessa Redgrave rannte ich rückwärts, um die demonstrierende Masse zu fotografieren, wie sie auf einen zukommt. Das gab eindrückliche Bilder. Aber so bin ich auch in den Armen der Polizei gelandet. Die wollten nicht, dass man das fotografiert. Einer hat mich am Nacken gepackt, ein anderer an den Beinen, und dann haben sie mich einfach über einen Gartenzaun geworfen. Ob sie das mit einem Mann auch getan hätten?

Hatten Sie nie Angst?
Das hat alles etwas mit der Erziehung meiner Mutter zu tun. Sie hat mir ein Urvertrauen in die Menschen mitgegeben. Früher machte ich viel Autostopp, und ich hatte immer Pfeffer bei mir. Ich dachte, ich kann den Männern Pfeffer in die Augen werfen, das Steuer übernehmen und sie rauskicken. Ich sehe zwar nicht so aus, aber ich bin recht stark und frech.

Die Anwesenheit der Frauen wirkt in Ihren Bildern schon sehr stark.
Das ist keine Absicht, es geschieht nicht bewusst. Aber die eigene Gefühlswelt als Fotografin spielt da sicher immer mit. Die Geschichte, die man selbst dichtet. Zum Beispiel dieses Bild der schlafenden Frau mit den Lockenwicklern beim Rodeo. Sie wurde vermutlich von ihrem Mann gezwungen mitzukommen und hatte einfach keine Zeit mehr, die Lockenwickler zu entfernen.

Die Frau sieht tatsächlich sehr unzufrieden aus. Ist die Welt ein unzufriedener Ort? Auch die Nonne in jener Strassenaufnahme in New York sieht nicht wahnsinnig zufrieden aus …
Das würde ich auch nicht, wenn ich eine Nonne wäre. Ist die Welt ein unzufriedener Ort? Nein, aber hier bei uns wird oft gejammert, obwohl es vielen gut geht. Wenn der Zug zwei Minuten zu spät abfährt, höre ich Fluchen und Jammern. Das verstehe ich nicht. Ich finde, dass wir auch für vieles dankbar sein sollten.

«Ich möchte mit den Bildern nicht moralisieren», sagt Pia Zanetti (77). Und wird im nächsten Teil erzählen, warum sie so viel gereist ist.