Durch den Monat mit Pia Zanetti (Teil 5): Würden Ihre Bilder heute geradegestellt?

Nr. 17 –

Ein Loblied auf den ersten Eindruck, Unschärfen und den Zufall. Die Fotografin Pia Zanetti spricht über die Arbeit von KollegInnen – und über verschlossene Türen, die einem das Leben schwermachen.

«Sobald mir ein Foto eine Geschichte erzählt, ist es mir egal, ob es im Lot oder im Goldenen Schnitt ist»: Pia Zanetti.

WOZ: Pia Zanetti, waren Magnum-Fotografen für Sie eine Referenz?
Pia Zanetti: Ja. Aber ich habe nicht so viel darüber nachgedacht, was ich gut finde. Das war einfach emotional. Ich bin kein intellektueller Mensch in dem Sinn, ich kann das Zeug nicht so gut auseinanderdividieren. Das bremst mich.

Wer hat Sie denn emotional inspiriert?
Der Italiener Antonio Sansone, er war für mich eine wahnsinnig wichtige Person. Er war einer der fünf Fotografen, die ich in Rom kennenlernte. Alle hatten ursprünglich einen anderen Beruf, Antonio war Arzt gewesen, alle waren in der Kommunistischen Partei. Durch ihre Parteimitgliedschaft kamen sie in all diese Ostländer, wo sonst niemand eine Bewilligung erhalten hat.

Was macht seinen Blick aus?
In seinen Bildern hat es immer etwas Zufälliges. Es sieht so aus, als würde er schmunzelnd durch die Strasse spazieren und abdrücken. Von ihm habe ich sehr viel gelernt, dieses Zufällige, aber auch die Unschärfen in seinen Bildern gefallen mir extrem gut. Durch die Handyfotografie ist so eine Perfektion und Schärfe entstanden. Am Computer meinst du ja, jedes Bild sei ein Hit, weil es dich so anleuchtet.

Haben Sie Ihre Fotos im Labor oder am Computer verändert?
Zum Beispiel das Foto aus Polen, da sind vier Buben drauf. Einen weiteren Buben, der wegschaute, den habe ich weggeschnitten. Jetzt in der Ausstellung habe ich plötzlich gedacht: Bin ich blöd. Das wäre ja genau die Spannung, dass der Junge wegschaut.

Ihre Bilder sind auch oft nicht ganz im Lot. Heute würden die wohl alle geradegestellt.
Ja. Oder die Leute sagen, die kann ja nicht mal scharf fotografieren. Dabei hat das auch alles etwas Emotionales. Da ist zum Beispiel dieses Bild von Antonio Sansone, eine Beichtszene in Napoli: Es hat eine fantastische Stimmung, das Korn, das Licht. Da saust meine Fantasie durch: «Ah, das ist vielleicht ein Mafioso, der jetzt beichten muss, dass er vier Leute umgebracht hat. Vielleicht ist es aber auch ein Familienvater, der fremdgegangen ist. Und dann der Pfaff, der fast verzweifelt zu fragen scheint: Was soll ich jetzt mit dem machen?» Sobald mir ein Foto eine Geschichte erzählt, mich emotional anspringt, ist es mir egal, ob es gestochen scharf oder im Lot oder im Goldenen Schnitt ist.

Bei Geschichten, die entlang von mehreren Fotografien erzählt werden, gibts da für Sie auch Vorbilder?
Die Arbeiten der jungen kolumbianischen Fotografin Juanita Escobar. Sie lässt sich viel mehr Zeit, war zwölf Jahre mit den Gauchos in Kolumbien unterwegs und ist in ihren Bildern auch sehr frauenaffin. In ihrem Buch wird die ganze Lebenswelt der Gauchos gezeigt, der brutale Umgang mit den Tieren und den Menschen. Bei ihr erfahre ich viel mehr, weil die Fotos ein einziges Thema behandeln. Anders als bei den alten Magnum-Fotografen oder bei Antonios Bildern, wo jedes Foto ein anderes Thema behandelt.

Sind die Erwartungen gestiegen, muss eine Fotografin heute viel länger an einem Thema dranbleiben?
Wie tief du gehen kannst, merkst du ja erst, wenn du vor Ort bist. Manchmal sind der erste Eindruck und die ersten Bilder etwas ganz Gutes; wenn du mit deinen ersten Emotionen direkt auf die Dinge losgehst. Wenn du länger bleibst, gewöhnst du dich daran, und es wird viel schwieriger, das Spezielle herauszufinden und zu merken, was du eigentlich zeigen möchtest.

Ist die Arbeit komplexer geworden?
Das glaube ich nicht. Aber es ist vielleicht komplizierter geworden, weil es schwieriger wird, an Leute ranzukommen: Viele haben Angst. Die Türen werden nicht mehr so schnell geöffnet. Auch in Europa. Ich habe 2001 eine Arbeit über Max Frisch gemacht – für eine Ausstellung im Istituto Svizzero in Rom. Wir hatten die Idee, die Orte zu fotografieren, wo Frisch in Rom überall gewohnt hat. Ich ging mit einer jungen Frau vom Schweizer Institut von Ort zu Ort. Wir haben geklingelt, und die haben uns alle die Tür vor der Nase zugedrückt. Wir kamen in keine einzige Wohnung rein, konnten mit niemandem reden. Da hat eine grosse Veränderung stattgefunden.

Was passiert nach der Ausstellung? Sie werden am MAZ unterrichten, habe ich gehört.
Ein Projekt mit einer argentinischen Theaterfrau ist geplant. Aber gell, ich bin bald achtzig. Und vor dem Unterrichten habe ich ziemlich Respekt. Manchmal finde ich ein Foto heute super und am nächsten Tag überhaupt nicht mehr. Das kannst du ja den Jungen nicht antun, die brauchen einen klaren Geist.

Gibts einen Ort, wo Sie unbedingt noch hin möchten?
Ja, ich möchte, dass mir mein Sohn Luca Kolumbien zeigt. Er kennt dieses Land sehr gut. Aber ich weiss gar nicht, ob das ein fotografischer Traum ist oder mehr ein persönlicher. Und sonst überallhin, einfach nirgends, wo es eisig kalt ist.

Die Ausstellung «Pia Zanetti. Fotografin» ist noch bis am 24. Mai 2021 in der Fotostiftung Schweiz in Winterthur zu sehen. Das gleichnamige Buch zur Ausstellung ist bei Scheidegger & Spiess erschienen – und bereits vergriffen.