Durch den Monat mit Pia Zanetti (Teil 3): Sollen junge Fotografinnen nicht mehr reisen?

Nr. 15 –

Nicht die Zürcher Bahnhofstrasse, sondern der Fischerhafen in Kapstadt oder die Goldmine bei Durban haben sie interessiert. Pia Zanetti über ihr lebenslanges Reisen und warum es für eine Fotografin wichtig ist, gewisse Dinge am eigenen Leib zu erfahren.

Pia Zanetti: «Je beschützter man aufwächst, desto mehr muss man schauen, was es sonst noch gibt auf der Welt.»

WOZ: Pia Zanetti, Sie sind stets viel und weit gereist. Gibt es vor der Haustür nicht auch interessante Sujets, die Zürcher Bahnhofstrasse zum Beispiel?
Pia Zanetti: All diese jungen Menschen, die vor dem Louis-Vuitton-Laden Schlange stehen, kaum durften die Geschäfte wieder öffnen? So was kann ich nicht fotografieren, weil ich die Kritik an diesem Verhalten gar nicht auf ein Bild bringen könnte. Das zu fotografieren, wäre, wie mit dem Mahnfinger auf sie zu zeigen, und das möchte ich nicht: mit den Bildern moralisieren.

Lieber fotografierten Sie Menschen, die am Fischerhafen in Kapstadt auf Arbeit warteten?
Wir wussten, es gibt Apartheid in Südafrika. Aber diese Wirklichkeit mit eigenen Augen zu sehen, war ein riesiger Schock für mich. Ich habe mir nie und nimmer vorstellen können, dass mit der Schwarzen Bevölkerung so umgegangen wird. Da spazierst du am Meer, und auf einem Felsen steht «whites only». Ein gemeinsames Essen mit Schwarzen Menschen war unmöglich. Ich konnte es nicht fassen.

Bei den Bildern aus Südafrika spürt man eine gewisse Unruhe. Waren Sie angespannter als bei Aufträgen in Europa?
Angespannt ist man immer, wenn man fotografiert. Aber in der Goldmine Roodepoort bei Durban zum Beispiel gab es ein doppeltes Problem. Man darf als Frau nicht in die Mine, das bringt Unglück. Und dann war ich auch noch weiss. Es brauchte viel Überzeugungskunst, um eine Bewilligung zu bekommen. In der Mine arbeiteten junge Männer, die alle seit sechs Monaten ihre Frauen und Familien nicht mehr gesehen hatten, und dann kam ich, eine weisse Frau. Ich schaute einfach durch den Fotoapparat, um mich nicht mit diesen Blicken zu konfrontieren.

Haben Sie sich in diesen Momenten nicht gefragt: Was mache ich hier eigentlich?
Eine solche Selbstreflexion hatte schon vorher angefangen. Deshalb wusste ich: Ich möchte den Leuten in Europa zeigen, was hier passiert. Das hatte ich immer in meinem Kopf, in der Seele, im Finger, der abdrückt. Und ich wollte auch einfach die Welt sehen. Es sind deine Interessen, die dich irgendwo hinführen, und für das muss man sich ja nicht schämen.

Ihre aktuelle Ausstellung in der Fotostiftung in Winterthur endet mit einer Reportage aus Usbekistan von 1999. War Ihre Reiselust danach gestillt?
Nein, das hatte mit der Veränderung im Journalismus zu tun. Es sagte niemand mehr: Komm, hol dir einen Vorschuss, und zieh los. Nun hiess es: Geh mal, und zeige uns nachher die Bilder. Aber wenn du eine Familie hast, dann geht das nicht. Dann starb Gerardo, mein Mann. Ich war öfter in Zürich. Da habe ich mich neu geordnet. Die Ausstellung ist wie ein Paket aus meinem ersten Leben.

Inwiefern hat sich der Journalismus sonst noch verändert?
Das Geld steckte nicht mehr in den Presseerzeugnissen. Ich habe dann für Kundenzeitschriften wie das «Bulletin» der Credit Suisse gearbeitet und so auch meine Arbeit für die NGOs querfinanziert. Da hatte ich aber viel weniger Freiheiten: Eine Frau erhält von einer Organisation eine Nähmaschine, also musste ich eine Frau an der Nähmaschine fotografieren. Oder du landest irgendwo, dann kommen alle Dorfältesten, und du musst einen Tag in einem Büro sitzen und zuhören. Ziemlich langweilig. Dazu kommt das verrückte Licht in Afrika oder Indien. Du musst morgens um fünf fotografieren oder abends, bevor das Licht wieder weg ist. Da bleibt nicht viel Zeit. Doch das Reisen ist geblieben, mit Jörg Arnold von der Caritas bin ich danach noch um die halbe Welt gezogen. Er ist auch der Initiant der Organisation Fairpicture.

Was ist Fairpicture?
Die Idee ist, nicht FotografInnen von hier in die Ferne zu schicken, so wie ich das gemacht habe, sondern mit Leuten vor Ort zusammenzuarbeiten, die Sprache und Kultur kennen. Sie bekommen so auch etwas mit von hier, etwa was unsere Ansprüche sind. Eine umgekehrte Öffnung. Ich bin eine Art fotografische Supervisorin für Fairpicture und setze mich dafür ein, dass mehr Frauen als Fotografinnen arbeiten können.

Sollen junge Fotografinnen nicht mehr reisen?
Unbedingt sollen sie reisen! Um die Welt zu sehen. Je beschützter man aufwächst, desto mehr muss man schauen, was es sonst noch gibt. Es ist nicht das Gleiche, nach dem Fotografieren in einem Militärlager in einem fensterlosen Raum auf einer versifften Matratze mit «cucarachas» zu liegen oder heimzugehen und sich abzuduschen.

Wie gingen Sie mit diesen Unterschieden um?
Mein grösster Schock war immer, am Flughafen in Zürich die ersten Schaufenster mit Kaschmirpullovern für 1500 Franken zu sehen. Ich habe viel mit Freunden und Berufsleuten über das Erlebte gesprochen. Die Psyche musste sich wieder einpendeln. Ich kann die Kinder nicht zwingen, den «Röselichöhl» aufzuessen, weil sie in Afrika nichts zu essen haben. Aber ich wollte etwas dazu beizutragen, dass man sich mehr für ein Land interessiert.

«Ich mache keine Fotos von Kindern mit Schnudernase und Fliegen in den Augen», sagt Pia Zanetti (77) und spricht im nächsten Teil über ihre persönlichste Arbeit.