Fang Fang: Die Untoten der Revolution

Nr. 17 –

Fang Fang sorgte mit ihrem «Wuhan Diary», einem Tagebuch aus dem Epizentrum der Pandemie, für Furore. Mit «Weiches Begräbnis» ist jetzt ein Roman der chinesischen Autorin auf Deutsch zu entdecken, der sich mit der Zeit der Landreform auseinandersetzt.

Die Geschichte entfaltet sich rückwärts: Schriftstellerin Fang Fang bringt die Vergangenheit zur Sprache. Foto: Wu Baojian

Vergessen kann auch heissen: Die Erinnerung wird zugedeckt. Die Vergangenheit ist zwar präsent, aber in Kriegserzählungen von Veteranen, die niemand mehr hören mag, oder in hohlen offiziellen Reden. Die chinesische Schriftstellerin Fang Fang setzt im Roman «Weiches Begräbnis» eine solche vertrackte Konstellation in Szene. Angelpunkt ist ein Moment, in dem sich alles in Glück auflösen sollte. Wu Qinglin, ein erfolgreicher Architekt in Wuhan, hat für seine Mutter eine Stadtvilla gebaut. Nach dem frühen Tod des Vaters hatte sie ihn als Hausangestellte in ärmlichen Verhältnissen aufgezogen. Über ihre Jugend weiss der Sohn nichts.

Auch die Mutter selbst erinnert sich nicht. Nachdem sie als junge Frau halb tot aus einem Fluss gezogen worden war, erlitt sie einen Gedächtnisverlust. Jetzt, als alte Frau, soll sie ihren Lebensabend geniessen. Aber beim Eintritt in die Villa wird Ding Zitao von seltsamen Erinnerungsfragmenten befallen. Sie zitiert geistesabwesend eine klassische Gedichtzeile und erkennt auf einer antiken Vase einen weisen Eremiten, sie nennt ihn beim Namen. Bestürzt sagt sie zu ihrem Sohn: «Das ist ja wie das Anwesen eines Grossgrundbesitzers! Hast du keine Angst, dass man es dir wegnimmt und unter die Leute verteilt? Dass sie das Haus stürmen?» Ihr Sohn lacht, und im Roman heisst es weiter: «Nicht einmal der Fahrer, der Qinglins Gepäck in der Hand hielt, konnte das Lachen zurückhalten. Er sagte: ‹Tante, Direktor Wu gehört nun mal zu den Grossgrundbesitzern und Kapitalisten.›»

Immer weiter zurück

Zur Verwirrung des Sohnes trägt bei, dass die Mutter ein ganz unbekanntes Gedicht zitiert. Die antike Vase hat ihm ein Freund aus Taiwan mitgebracht, ein teures und deshalb sehr geschätztes Geschenk. Für chinesische Kunst interessiert sich Qinglin nicht, das Bild des Eremiten ist ihm nicht aufgefallen. In der Gegenwart, die hier erscheint, ist die Geschichte des Landes nicht abwesend, sie kommt aber in ganz bestimmten Ausschnitten vor.

Fang Fang hat den Roman 2015 geschrieben, kurz bevor die totalitären Tendenzen des Regierungschefs Xi Jinping voll zum Durchbruch kamen. Stolz auf die klassischen Traditionen gehörte bereits zum verordneten Patriotismus. Ausserdem floriert im kapitalistischen China der Antiquitätenmarkt: AufsteigerInnen wollen ihren Reichtum in kulturelle Distinktion ummünzen. In diese Gegenwart passt Ding Zitao mit ihren unorthodoxen Gedächtnisfragmenten nicht hinein. Ob der aufsteigenden Panik versinkt sie in ein Wachkoma, fällt immer weiter in ihre Vergangenheit zurück. Ein besonderer Sog des Romans geht davon aus, dass sich die Geschichte von Ding Zitao rückwärts entfaltet, in einer immer weiter zurückschreitenden Erzählung. In der Gegenwart von Wuhan bleibt die alte Frau stumm. Nur die Fiktion Fang Fangs bringt die Erinnerung zur Sprache.

Kollektiver Ausnahmezustand

Es ist die Geschichte zweier Familien von Grossgrundbesitzern. Sie kollaborieren mit der kommunistischen Bewegung. Ein Sohn hat in Japan studiert und sucht nach Wegen in eine moderne Gesellschaft; er wäre bereit, Land zu verteilen. Aber auch Pächter, die unter diesen Familien enorm gelitten haben, treten in neuen Funktionen auf. Langsam nähert sich die Erzählung einer «Kampfversammlung» – jenem Moment in der Landreform, da die kommunistischen AktivistInnen die Dorfbevölkerung versammelten, um in einer bewusst gestalteten, auf einen kollektiven Ausnahmezustand hinzielenden Inszenierung jede Anhänglichkeit an die ehemaligen Herrenfamilien zu brechen.

Hunderttausende überlebten diese Prozedur nicht. Zur Brutalität des Geschehens trägt im Roman von Fang Fang auch bei, dass die Begriffe der Parteisprache, die dafür geprägt wurden, von den Opfern übernommen werden. Sie sollen in einer Versammlung «bekämpft» und «kritisiert» werden. Die dörfliche Umgangssprache bringt ihre eigenen Blüten hervor. Das Einwickeln und Verbrennen zweier Frauen bei lebendigem Leibe heisst hier: «Eine Himmelslaterne anzünden.»

Während Ding Zitao immer weiter in der Katastrophe versinkt, recherchiert ihr Sohn. Er reist mit einer Gruppe von Architekten zu verfallenen Landsitzen. Auch mit einem Veteranen der Volksarmee besucht er die Gegend, aus der seine Mutter stammt. Qinglin bewundert, wie dieser Mann damals gegen Warlords gekämpft hatte, die oft von Grossgrundbesitzern finanziert wurden. Lange bleibt unklar, ob im Roman die verschiedenen Perspektiven und Erzählstränge zusammenkommen. Ist es möglich, dass eine dieser Figuren alles zusammendenkt? Dass sie zu einem Urteil über die Landreform und ihren unglaublichen Überschuss an Gewalt und Willkür kommt? Wenn nicht: Welche Rolle nimmt dann die Autorin ein, die verschiedenste Perspektiven in Szene setzt?

Begriffliche Schwierigkeiten

Als der Roman «Weiches Begräbnis» 2016 in China erschien, wurde er mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Es folgte bald eine französische Übersetzung. 2019 berichtete «Le Monde», dass eine Lesegruppe von «Arbeitern, Bauern und Soldaten» in Wuhan eine Kritikversammlung organisiert hatte, um die Darstellung der Landreform durch Fang Fang zu verurteilen. Dem folgte eine breit orchestrierte Internetkampagne gegen das Buch, sodass es aus dem Handel verschwand. Diejenige Kampagne, die Fang Fang 2020 wegen ihrer Darstellung des Alltags während der Abriegelung Wuhans beim Ausbruch der Coronaepidemie als Landesverräterin brandmarkte, führte weiter dazu, dass sämtliche ihrer Bücher nicht mehr greifbar sind. Persönlich sehe sie sich aber nicht in Gefahr, sagte sie dieses Jahr in Interviews. Sie nennt die UrheberInnen der Kampagnen gegen sie «Linksextremisten». Ihr deutscher Übersetzer, Michael Kahn-Ackermann, schreibt im Nachwort zu «Weiches Begräbnis», dass er diese «Linksextremen» im europäischen Kontext eher als «Rechtsextreme» bezeichnen würde. «Le Monde» spricht von einer «neomaoistischen, extrem konservativen Linken». Die begrifflichen Schwierigkeiten beim Übersetzen politischer Kennzeichen führen zurück in die Konstellation, in der ein Fahrer haltlos darüber lacht, dass die Mutter seines Chefs Angst davor hat, enteignet zu werden. So selbstverständlich ist ihm die Situation, dass die KP China mit den Mitteln und Ansprüchen einer maoistischen Kaderpartei ein kapitalistisches Land führt.

Ausflüge ins Rotlichtmilieu

In den ersten Jahren der Öffnung, von 1976 bis 1989, sorgte eine neue Generation von AutorInnen für einen ungeheuren Aufschwung der chinesischen Literatur. Fang Fang gehörte dazu, sie wird den «NeorealistInnen» zugerechnet. Diese nahmen sich vor, den Formeln des sozialistischen Realismus neue Alltagserzählungen entgegenzusetzen. Besonders eindrücklich ist ein Kurzroman Fang Fangs, der 2001 unter dem französischen Titel «Début fatal» erschienen ist. Auch hier steht eine Frau im Zentrum, die kaum spricht. Allerdings ist es eine junge Frau, die in heimlichen Ausflügen ins Rotlichtmilieu aus einer bodenlosen Einsamkeit ausbricht. Die Sprache Fang Fangs ist in diesem Text härter als in «Weiches Begräbnis». Sie vermittelt die Wucht einer unglaublichen Leere und Verlorenheit.

Zur Verödung während der zehn Jahre Kulturrevolution trug auch ein Kulturverständnis bei, das jede literarische Ausdrucksform der politischen Aufklärung oder Stellungnahme unterordnete. Die fragile Befreiung aus diesem Korsett erinnert an eine Dynamik, die im Werk der DDR-Schriftstellerin Christa Wolf nachzuvollziehen ist. Wenn Literatur die verborgenen, «wahren» Gesetzmässigkeiten der Geschichte aufdecken soll, diese Gesetzmässigkeiten aber von der herrschenden Lehre bereits erkannt sind, dann heisst das: Die Parteilinie diktiert, was Realität ist. Nach ihrem Bruch mit dieser Auffassung schrieb Wolf 1965: «Ahnte ich, dass es diesmal darum ging, in die Wirklichkeit gestossen zu werden? Von Anfang an dieses schmerzhafte, angespannte Gefühl. (…) Zu denken, dass immer neue Wirklichkeiten hinter dieser sind.»

Fang Fang: Weiches Begräbnis. Roman. Aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackermann. Hoffmann und Campe. Hamburg 2021. 432 Seiten. 38 Franken