Siri Hustvedt: «New Yorker können schrecklich provinziell sein»

Nr. 27 –

Warum sind Genies immer noch automatisch Männer? Und was hat es mit dem Sexismus in der Linken auf sich? Die US-Schriftstellerin Siri Hustvedt durchmisst ein halbes Jahrhundert US-Politaktivismus am eigenen Leben und landet beim herrschenden Backlash und der Literatur als Kur.

«Für mich hat die Literatur einen Wert, der gerade nicht von historischen Momenten abhängig ist»: Die Schriftstellerin Siri Hustvedt.

WOZ: Siri Hustvedt, kürzlich wurde Yoko Ono ein Songwriting-Credit für den Song «Imagine» verliehen. Wie ist es möglich, dass sie 46 Jahre auf diese Anerkennung warten musste, obwohl sogar Ko-Autor John Lennon selber immer gesagt hatte, sie hätten den Song zusammen geschrieben?
Siri Hustvedt: Solche Geschichten begegnen mir ständig. Sogar wenn es keine absichtliche Verschwörung ist, werden Frauen in fast allen Bereichen immer noch an den Rand oder ganz aus dem Bild gedrängt: Man sieht es in den Wissenschaften, beim Nobelpreis, in der Kunst. Vor nicht allzu langer Zeit ist mir wieder so ein Fall begegnet. Kennen Sie Emmy Noether?

Noch nie von ihr gehört.
Sie stammt aus Deutschland und war eine wichtige Mathematikerin des 20. Jahrhunderts. Eines dieser raren Genies. Albert Einstein und Werner Heisenberg und zahlreiche andere Grosse haben sie namentlich gelobt. Unter anderem hat sie eine mathematische Formel zur Symmetrie gefunden, die bis heute jeder Physiker kennt: die Formel, nicht sie. Wir haben diese fixe Idee darüber, was oder wer ein Genie ist und dass das zwingend ein Mann sein muss. Die Leute müssen nicht mal absichtlich gemein sein – wie gesagt: Einstein rühmte Noether als brillant – und trotzdem erhalten Frauen keinen Platz im kulturellen Gedächtnis. Die Genieidee ist männlich codiert.

Was ist mit Marie Curie?
Es gibt immer Figuren, die es irgendwie schaffen, diese unsichtbaren Grenzen zu überwinden und Teil des kollektiven Bewusstseins zu werden. Trotz aller Mühsal und vieler Vorurteile, gegen die sie kämpfen musste, hat Marie Curie das erreicht. Das Problem bleibt trotzdem virulent. Wir hatten ja auch einen schwarzen Präsidenten, was keineswegs bedeutet, dass der Rassismus einfach verschwunden ist. Bei Yoko Ono kommt noch dazu, dass sie ja selber eine berühmte Künstlerin ist. Gleichwohl wird sie immer noch stark als Ehefrau von John Lennon wahrgenommen, als Teil dieses berühmten Paares.

In einem Ihrer Essays berichten Sie von einer Begegnung mit dem norwegischen Starautor Karl Ove Knausgard, der Ihnen auf einem öffentlichen Podium ins Gesicht sagte, dass Autorinnen für ihn schlicht «keine Konkurrenz» seien. Dies, nachdem Sie ihn gefragt hatten, warum er kaum Frauen zitiere.
(Lacht.) Diese Antwort hat mich derart erschüttert, dass ich unbedingt darüber schreiben musste. Was wollte er damit sagen? Ich glaube nämlich nicht, dass Knausgard denkt, Frauen könnten nicht schreiben oder hätten nichts von Bedeutung geschaffen. Aber er meint dezidiert, dass er nicht mit ihnen in einem Wettbewerb stehe, sondern allein mit männlichen Kollegen.

Können Sie sagen, wann und wie Sie politisiert wurden?
Das kann ich. Es gab mehrere Momente. Ich wurde 1955 geboren, und als ich neun oder zehn Jahre alt war, verfolgte ich die US-Bürgerrechtsbewegung. Das war vor allem eine TV-Erfahrung. Martin Luther King war in meiner Familie quasi ein Heiliger. Meine Eltern redeten viel mit uns darüber, und ich erinnere mich sehr lebhaft an die Ermordung der vier kleinen Mädchen durch diese Bombe in der 16th Street Baptist Church. Eines der Mädchen war nicht viel älter als ich. Das hat mich extrem geprägt. So bin ich zu einem politischen Bewusstsein gekommen.

Wie ging die Politisierung weiter?
Mit elf oder zwölf Jahren war ich regelrecht besessen von Texten zur Sklavenbefreiung. Ich ging in die Bibliothek und las alles, was sie zum Thema hatten. Kennen Sie Harriet Tubman? Sie war eine ehemalige Sklavin, die unter dem Codenamen Moses als Fluchthelferin bei der sogenannten Underground Railroad arbeitete, dem geheimen Netzwerk, das Sklavinnen und Sklaven bei der Flucht nach Kanada unterstützte. Ich liebte diese Biografie von Tubman, sie posierte auf dem Cover in einem weissen Kleid mit einem Gewehr in der Hand und wurde meine Heldin. Was ich Ihnen sagen will: Meine Beschäftigung mit Harriet Tubman und dem Abolitionismus fand vor allem in meiner Fantasie statt. Vermutlich war ich auch stark geprägt von den Romanen, die ich gelesen hatte. Mir gings um diese edlen Figuren – und vor allem auch um diese heldenhaften Frauen. So formte sich ein frühes politisches Denken. Ich glaube aber nicht, dass ich mit elf Jahren die Sklavenbefreiung und die Bürgerrechtsbewegung zusammenbrachte. Das klingt jetzt vielleicht blöd, aber wenn man elf ist, stimmt noch nicht alles im Gehirn. Mit vierzehn verändert sich das.

Welche Dinge haben Sie denn mit vierzehn interessiert?
Nachdem ich dreizehn geworden war, 1968 also, kehrte meine Familie aus Norwegen in die USA zurück, und Vietnam kam über mich wie ein Knüppelschlag. Meine erste Reaktion auf so ziemlich alles ist es, zu lesen. Ich setzte mich also in die Unibibliothek, wo mein Vater Professor war, und las alles über die Geschichte Vietnams, über die französische Kolonialzeit, das Regime von Ngo Dinh Diem, die Verstrickungen der USA und den aktuellen Krieg. Gegen Krieg zu sein, steckt tief in mir drin. 1970 erschoss die Polizei vier Demonstrierende der Kent-State-Universität, und an vielen Unis wurde aus Protest gestreikt. Ich war da erst in der Highschool, aber wir hatten eine kleine politische Gruppe mit einem befreundeten Trotzkisten und druckten Streik-T-Shirts in seiner Garage. 1970 entdeckte ich dann auch den Feminismus, vor allem dank der Anthologie «Sisterhood Is Powerful». Dieses Buch habe ich ständig mit mir herumgetragen, bis es völlig zerfleddert war. Dann habe ich auch noch Simone de Beauvoirs «Das andere Geschlecht» in der schlechten englischen Übersetzung eines Zoologen gelesen. Das ist kein einfaches Buch. Kürzlich habe ich es wieder gelesen und mich gefragt, was ich wohl mit fünfzehn davon gehabt hatte.

Und haben Sie es herausgefunden?
Ich erinnere mich nur, dass es damals einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen hat. Und dass ich es schwierig zu verstehen fand. Aber ich mache das schon mein ganzes Leben so, auch wenn es schwierig ist, pflüge ich mich halt irgendwie durch (lacht). Natürlich habe ich dann auch einfachere Dinge gelesen, Germaine Greer zum Beispiel, «Der weibliche Eunuch», das war damals sehr populär. So erwachte mein Feminismus.

Das war also Ihre Politisierungsdreieinigkeit: Bürgerrechtsbewegung, Antikriegsbewegung, Feminismus?
Ja. Aber es war auch kompliziert. Das ist jetzt kein besonders origineller Kommentar: Alle wissen, dass der Feminismus auch aus der Linken heraus entstanden ist. Beziehungsweise aus der Tatsache, dass linke Männer die linken Frauen oft schlecht behandelten. Und schreckliche Sätze von sich gaben wie: «Die Stellung der Frauen in der Bewegung ist liegend.» Oder: «Mach Kaffee! Denk nicht so viel nach. Leg dich hin!» Misogynie und Sexismus waren ziemlich virulent in der Linken.

Das heisst, man war als linke Frau quasi automatisch gespalten in der 68er-Bewegung …
Für die 68er-Generation war ich ja etwas zu jung. Als ich mit achtzehn an die Uni kam, gab es ein Picknick für die neuen Studierenden, und ich geriet in eine heftige Diskussion mit einem Soziologieprofessor über den Niedergang der neuen Linken. Mein Mann ist acht Jahre älter als ich, er war 1968 während der Studentenrevolten an der Universität von Columbia. Ich hingegen stiess relativ spät dazu. Als ich an die Uni kam, war die neue Linke bereits für tot erklärt worden.

Als jemand, der von all diesen ikonischen politischen Bewegungen und Revolten des 20. Jahrhunderts geprägt wurde: Wie beurteilen Sie die politischen Strömungen der Gegenwart?
Es ist schon sehr anders. Gleichzeitig sind einige der rhetorischen Strategien fast gleich geblieben. Eine weitere Gemeinsamkeit sehe ich – zumindest was die USA betrifft – in der extremen Spaltung der Bevölkerung: Wie schon während des Vietnamkriegs, als Richard Nixon von der «schweigenden Mehrheit» sprach. Damit meinte er, verkürzt gesagt, viele weisse Menschen im mittleren Amerika. Heute ist es genau gleich, obwohl der Begriff nicht mehr sehr geläufig ist. Aber die Trump-Anhängerinnen und -Anhänger unterscheiden sich gar nicht so sehr von denjenigen, die damals den Vietnamkrieg und Nixon unterstützten.

Wie kam es zu diesem Backlash, den Trump repräsentiert mit seinem Sexismus, Rassismus und Klassenkampf von oben?
Ich hatte da eigentlich so eine schöne Vorstellung: Die Demografie in den USA hat sich seit 1968 dramatisch verändert. Zum ersten Mal sind die weissen Protestanten nicht mehr in der Mehrheit. Durch die stetige Immigration sind die Bevölkerungsanteile der Hispanoamerikaner und der Asiaten entscheidend gewachsen, der Anteil der Schwarzen ist etwa gleich geblieben. Unsere Bevölkerung hat sich verändert. Deshalb war meine Hoffnung vor der Präsidentenwahl (lacht), dass diese weissen Typen über sechzig, die ja den harten Kern der Trump-Unterstützer ausmachen, wirklich am Aussterben seien, dass also die demografische Entwicklung uns retten würde. Diese Erwartung hat sich ganz offensichtlich nicht erfüllt. Nun müssen wir schauen, wie alles herauskommen wird. Ist Trump ein Phänomen, das uns nachhaltig beschäftigen wird? Erleben wir gerade einen dramatischen Backlash gegen acht Jahre Obama – und dagegen, dass die Weissen an Macht einbüssen müssen? Bekanntlich gibt es nichts Schlimmeres, als sich unhinterfragt privilegiert zu fühlen, nur um dann zu merken, dass die Verhältnisse kippen.

Könnte man nicht auch spekulieren, dass Trump quasi das letzte Aufbäumen dieser zerstörerischen weissen männlichen Arroganz repräsentiert, die eigentlich bereits verloren hat?
Das ist möglich. Man wird es erst im Nachhinein wissen. Aber es besteht kein Zweifel daran, dass wir im Moment mitten in einem Backlash stecken.

Wie engagieren Sie sich ganz persönlich?
Ich habe zum Beispiel Geld gespendet für die ausserplanmässige Wahl, die gerade in Georgia stattgefunden hat, um einen frei gewordenen republikanischen Sitz im Repräsentantenhaus. Der Demokrat Jon Ossoff trat gegen die Republikanerin Karen Handler an. Soeben habe ich erfahren, dass er knapp verloren hat, und ich bin natürlich enttäuscht. 2018 werden wir sehen, ob die Demokraten eine starke Opposition bilden können. Es gibt Widerstand. Ich war mit meiner Tochter am Women’s March in Washington und hatte das überwältigende Gefühl, dass hier eine Massenbewegung gegen die Trump-Regierung am Entstehen ist. Es passiert etwas. Und zwar mit einer Menge Leute, die keine typischen Anhängerinnen und Anhänger der Demokratischen Partei sind, sondern verschiedenen linken Gruppen angehören.

Klingt ermutigend …
Es ist grossartig. Wir müssen alle diese Menschen zusammenbringen, ohne dass unter ihnen allzu viele Reibereien entstehen. Wichtig ist, dass man nicht zu sehr auf harten Positionen besteht. Das hat damals die neue Linke zerstört. Wir hatten diese Anti-Vietnamkrieg-Massenbewegung, die mehrheitlich aus ganz gewöhnlichen Amerikanerinnen und Amerikanern bestand, die gegen den Krieg waren. Ihnen gegenüber standen die Weathermen, die eine Revolution organisieren und die Regierung in die Luft jagen wollten. Das war Irrsinn. Sie hatten keine Chance. Sogar wenn man der Ansicht wäre, dass ihre Strategie gut war: Diese Leute waren lächerlich und verblendet.

Aber sind solche radikalen Gruppierungen nicht auch notwendig, damit Widerstandsbewegungen nicht zu brav und träge werden?
Betrachtet man rückblickend die historische Realität der Weathermen, haben sie nichts Sinnvolles gebracht. Natürlich gehört es zur Polarisierung, dass gewisse Leute denken, Veränderung sei nur mit Gewalt möglich. Nun, ich war schon mit fünfzehn dagegen. Ich hatte immer schon eine moderate Seele.

Sie sind ja auch nicht hauptberuflich politische Aktivistin, sondern Schriftstellerin. Welche Rolle spielt die Fiktion als politischer Faktor?
Mir ist klar, dass Agitprop seine Berechtigung hat, vor allem in konkreten drängenden Umständen. Gleichzeitig interessiert mich dieser unverblümte Aktivismus bei meiner Arbeit als Schriftstellerin nicht. Für mich hat die Literatur einen Wert, der gerade nicht von historischen Momenten abhängig ist. Ein Roman verschafft uns Zugang zum Innenleben anderer Menschen. Im geschützten Rahmen der Literatur kann man Zonen betreten, die im echten Leben sogar gefährlich sein könnten. Das erweitert unsere Erfahrung.

Nun galt Barack Obama als Vielleser, und zwar nicht nur von Sachbüchern, sondern auch von Romanen. Trump hingegen liest erklärtermassen sehr ungern, und Literatur interessiert ihn erst recht nicht.
Und das merkt man, dass Trump nicht liest! Diese zwei Menschen sind wirklich brutal verschieden. Obama ist nicht zuletzt eine interessante Fallstudie zum Thema Herkunft mit seinem schwarzen Vater und der weissen Mutter. Er wuchs in einem internationalen Umfeld auf und bewegt sich mühelos in und zwischen verschiedenen Welten. Gleichzeitig geben ihm seine Neugier und seine Leselust einen weiten Geist – ein geräumiges Innenleben, wenn man so will.

Lesen wäre also nicht zuletzt ein einfaches, aber effizientes Mittel gegen Engstirnigkeit und Provinzialismus?
Provinzialismus ist überall gleich, und es gibt auch so etwas wie einen städtischen Provinzialismus. New Yorker können schrecklich provinziell sein! Sie betrachten New York als den Nabel der Welt und meinen, ganz genau zu wissen, welche Stücke man gesehen und welche Bücher man gelesen haben muss, um dazuzugehören. Wenn man wie ich einen zweisprachigen Hintergrund hat, muss man da oft mit den Augen rollen. Engstirnigkeit gibt es überall. Deshalb ist es gut, wenn man lesend einen Schritt zurücktreten kann und so Abstand gewinnt, um wenigstens für eine Weile nicht mehr nur um sich selbst zu kreisen.

Man sagt ja, Romane verbesserten ganz konkret unsere Empathiefähigkeit. Und im Freiraum der Lektüre könnten wir auch ganz andere Perspektiven als die eigene einnehmen.
Genau. Ich unterrichte an einer Medizinschule ein Seminar für Psychiatriestudierende. In diesem Seminar lasse ich die Studierenden auch lesen und schreiben. Und wir reden viel über Empathie und die Tatsache, dass man sich als Psychiaterin in einem gefährlichen Feld bewegt, wo es um Leben und Tod gegen kann. Bei Psychiatriepatienten ist die Frage nach dem Selbst und der Geschichte entscheidend. Man muss zuhören. Nun hatten wir aber alle schon mit Ärzten zu tun – egal ob das nun ein Arzt für deinen Fuss oder eine Ärztin für deinen Kopf war –, die einem das Gefühl gaben, man sei bloss ein Fuss oder eine Diagnose. Ein solcher Mangel an Empathie gefährdet die medizinische Behandlung fundamental. Gerade in der US-Psychiatrie gibt es eine Tendenz, die Patienten und Patientinnen nur als Diagnosen zu betrachten. Hat man hingegen zu viel Einfühlungsvermögen, kann man den Job aber auch nicht ausüben. Dann bricht man unter der Last schlicht zusammen. Und natürlich sind diejenigen, die bei mir ins Seminar kommen, von Anfang an sensibilisiert, weil sie sich für Literatur interessieren und keine psychiatrischen Hardliner sind.

Schaut man die Entwicklung Ihrer Romane an, sieht man, wie sich die Perspektiven immer mehr vervielfältigt haben. Ihr letzter Roman, «Die gleissende Welt», ist eine Art Ekstase der Selbstvervielfältigung: Sie spalteten sich beim Schreiben in Herausgeberin, Künstlerin, Künstler, Kunstkritiker, Ehemann, Ehefrau, Sohn und Tochter zugleich.
So ist es. Für mich ist «Die gleissende Welt» eine Art multiple Persönlichkeitsstörung. Meine Freude darüber, viele zu sein, war riesig. Und ich bin auch überglücklich, dass ich dafür eine passende Form gefunden habe, die fast unendlich wandelbar war. Es fiel mir schwer, die Welt dieses Romans wieder zu verlassen. Das Grossartige daran ist, dass auch alle möglichen Reaktionen und Kritiken im Buch bereits vorweggenommen werden: die guten wie die verärgerten und bissigen. Die Rezensionen werden so gewissermassen automatisch ein Teil des Buchs. Normalerweise lese ich keine Kritiken, aber hier war es anders: Es machte mir Spass, sie zu lesen, weil ich ihre Kritteleien in meinem Buch bereits antizipiert hatte.

Mit der Hauptfigur, der Künstlerin Harriet Burden, werden weibliche Stereotype und Projektionen vorgeführt und gleichzeitig unterwandert. Haben Sie das bewusst so konstruiert?
In meinem ganzen Werk gibt es keine einzige Figur, die Harriet Burden an intellektueller Brillanz übertrifft. Und die Leserinnen und Leser sollten auch realisieren, dass die fiktionale Herausgeberin, die Jahre nach Harriets Tod versucht, ihr Geheimnis zu ergründen, ihr gar nie richtig auf die Schliche kommt. Was die Herausgeberin schreibt, trifft nie ganz, was Harriet Burdens eigentliches Anliegen war. Vermutlich haben das nicht viele Leserinnen und Leser begriffen, aber das ist schon okay. Ich wollte auch, dass Harriet eine imposante physische weibliche Präsenz ist, mit riesigen Brüsten und breiten Hüften. Sie ist 1,88 Meter gross und hat diese wilde Frisur. Man kann ihr schon rein physisch unmöglich ausweichen. Sie ist extrem weiblich. Deshalb ist das Buch auch eine Meditation über den uralten Geist-Körper-Dualismus: Harriet Burden verkörpert genau die Verweigerung dieses Dualismus.

Sie verweigern mit Harriet Burden also die uralte einseitige Assoziation von Frau mit Körper statt Geist …
Mit Körper, mit Natur, mit Emotion, das ganze Programm halt. Harriet ist sehr emotional, eine Mutter, leidenschaftlich. Gleichzeitig ist sie superintellektuell und kann besser denken als alle anderen in diesem Buch. Sie hat auch mehr gelesen als alle anderen.

In diesem Sinn ist der Roman aber schon auch klar eine politische Geste.
Ja. Harriet Burden trägt die ganze Last (englisch «burden») der Kulturgeschichte mit sich herum. Und es gehört zu ihrer Tragik, dass sie erst nach ihrem Tod die Anerkennung bekommt, die sie auch verdient hat. Wie bei Yoko Ono glaubt ihr niemand, dass sie all diese Werke geschaffen hat, auch diejenigen, die vermeintlich von einem männlichen Künstlerstar stammen, den sie benutzt, um der Kunstwelt vorzuführen, wie man jungen Männern automatisch viel mehr zutraut als älteren Frauen. Gleichzeitig soll der Roman die Leserinnen und Leser radikal auf sich selbst zurückwerfen. Sie müssen lernen, mit Ambivalenz umzugehen, mit einer widersprüchlichen Persönlichkeit wie Harriet Burden. Auch in diesem Sinn ist das Buch definitiv eine politische Geste.

Siri Hustvedt in Zürich: «Meine erste Reaktion auf so ziemlich alles ist zu lesen.»

Ist «Die gleissende Welt» auch eine Art «Guerrilla Girl»-Aktion in Romanform, eine Hommage an die Künstlerinnengruppe, die seit vielen Jahren auf die groteske Untervertretung der Frauen in der Kunstwelt aufmerksam macht beziehungsweise darauf, dass sie es vor allem als nackte Modelle in die Museen schaffen?
Nun, die Guerrilla Girls machen, was man Agitprop-Kunst nennen würde. Ihnen geht es darum, Missstände in der Kunstwelt aufzudecken. Zufällig habe ich erfahren, dass einige der Guerrilla Girls meinen Roman sehr mögen. Er erfüllt also diese Funktion schon auch. Mir ging es aber um etwas anderes: Der Roman ist eine Polyfonie, er hat viele Stimmen und Ebenen, keine eindimensionale, leicht fassbare Wahrheit oder Aussage. Gleichzeitig habe ich beim Schreiben viel über die klassische griechische Tragödie nachgedacht. Harriet Burdens Raserei ist nicht durch eine Depression getrübt. Aus meinem psychiatrischen Leben weiss ich, dass viele Depressive gleichzeitig sehr wütend sind. Harriet sollte aber nur wütend sein, so wie die klassischen Figuren in der Tragödie auch ganz reine Emotionen verkörpern. Sie ist eine komplexe Persönlichkeit, doch ihre Wut, ihr Ärger ist ganz rein. Die Tatsache, dass mir das Schreiben dieser Figur so viel Spass gemacht hat, zeigt wohl, dass auch irgendwo hier drin (zeigt auf ihre Brust) eine grosse Wut wohnen muss.

Siri Hustvedt : Die Universalistin

Eigentlich steckt sie mittendrin in ihrem neuen Roman. Nun muss Siri Hustvedt aber zuerst einen Essay über biokulturelle Einflüsse in der Erzähltheorie fertig schreiben. Sie hat ihn einem befreundeten Neurowissenschaftler versprochen, der in den neunziger Jahren die Spiegelneuronen mitentdeckt hat, die vermutlich bei Empathie und Spracherwerb eine wichtige Rolle spielen: Nur eines der vielen Themen, für die sich Hustvedt begeistert.

Ihre Reaktion auf alles, was sie nicht verstehe, sei zu lesen, sagt die 62-jährige Hustvedt im Interview. Und dieses Einlesen in verschiedene Fachbereiche geht oft so tief, dass sie als Expertin an hochkarätige Philosophie-, Neurologie- oder Psychologiekongresse eingeladen wird. In ihren letzten Roman, «Die gleissende Welt», flossen zwei Lektürejahre, die sie mit Sigmund Freuds und Sören Kierkegaards Gesamtwerken verbracht hatte. Gleichzeitig ist der Roman eine witzige, bissige Auseinandersetzung mit der Kunstwelt und der dort herrschenden Ungleichbehandlung von Frauen. Hustvedts Hauptfigur, die New Yorker Künstlerin Harriet Burden, verwandelt die ganze Kunstszene in ein Versuchslabor: Sie lässt drei männliche Künstler ihre, Burdens, Kunst in Einzelausstellungen ausstellen. Was zuvor kaum jemanden interessiert hatte, wird nun plötzlich gefeiert, weil vermeintlich Männer die Urheber der Kunstwerke sind.

Nach dem Tod ihres Vaters überkam Hustvedt bei öffentlichen Auftritten ein unkontrollierbares Zittern am ganzen Körper. Daraus, wie auch aus ihrem Migräneleiden, erwuchs eine intensive Beschäftigung mit Neurologie und Psychoanalyse – und das autobiografische Buch «Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven» (2010). Bei ihrem Besuch kürzlich am Englischen Seminar der Universität Zürich las Hustvedt aus ihrem noch unveröffentlichten Roman vor, der um eine Familiengeschichte, Verdoppelungen und schriftliche Hinterlassenschaften kreist. Aber auch um die Überlagerung von Erinnerung, Fantasie und sinnlicher Wahrnehmung und deren enge Verflechtung mit früheren Wohnräumen.

Siri Hustvedt ist als Tochter einer norwegischen Mutter und eines amerikanischen Vaters zweisprachig in Minnesota aufgewachsen. Seit 1982 ist sie mit dem Schriftsteller Paul Auster verheiratet und lebt im New Yorker Stadtteil Brooklyn.