Dokumentarfilm «Il mio corpo»: Die Maria im Altmetall

Nr. 19 –

Als ob die gleissende Sonne Siziliens die ohnehin unstabile Grenze zwischen der Realität und der Fiktion weggebrannt hätte: Michele Pennettas poetischer und profunder Dokumentarfilm «Il mio corpo» folgt zwei ausgegrenzten Protagonisten, die auf den ersten Blick nichts gemeinsam haben, auf den zweiten aber alles.

Oscar, dessen traurige, verträumte Augen nicht so ganz zu seinem Irokesenschnitt passen, fährt mit seinem Vater und seinem älteren Bruder durch die karge Landschaft, um unter Brücken und anderswo nach Metallschrott zu suchen, mit dem sich die kleine Familie ihr Leben finanziert. Die Mutter ist schon lange weg, der Ton des Vaters vor allem Oscar gegenüber rau: «Der ist ein Nichtsnutz. Bei der nächstbesten Gelegenheit tausch ich ihn gegen einen Schwarzen ein.» Nur wenige Kilometer von Oscars Familie entfernt lebt Stanley, der aus Nigeria stammt. Während er auf seine Aufenthaltserlaubnis wartet, putzt er in einer Kirche, erntet Weintrauben oder hütet Schafe bei einer stillgelegten Schwefelmine. Wie Oscar träumt er von einem anderen Leben, bleibt aber ein Gefangener seiner Armut: Das Einzige, was ihm wirklich zu gehören scheint, ist sein Körper.

Pennetta fängt das Leben seiner zwei Protagonisten mit einer solchen Unmittelbarkeit ein, dass sie schon wieder inszeniert wirkt. Natürlich ist das spiegelhafte Verhältnis zwischen Oscar und Stanley filmisch konstruiert. Doch das Vertrauensverhältnis zwischen dem Regisseur und seinen Protagonisten lässt eindringliche Momente entstehen, die rein äusserlich kaum sichtbare soziale Realitäten zutage fördern. Kamera und Montage schaffen dabei, ob inszeniert oder nicht, immer wieder poetische Momente von eindrücklicher Schönheit – ein Bad Stanleys im azurblauen Meer etwa, oder Oscars symbolträchtige Entdeckung einer Marienstatue mitten im Metallschrott. Das von einem Kinderchor gesungene «Stabat Mater» im Abspann ist dann auch der perfekte Ausklang eines Films, der besonders mit seinen religiösen Untertönen über seinen Status als scheinbar einfaches Porträt hinausweist.

Il mio corpo. Regie: Michele Pennetta. Italien/Schweiz 2020