Visions du Réel: Sichtbar machen, was sonst nicht wahrnehmbar ist
Eine unvollständige Momentaufnahme vom bedeutenden Dokumentarfilmfestival in Nyon zeigt: Die Perspektiven mögen sich ändern, manche Themen bleiben aber zeitlos.
Das Problem mit der Wirklichkeit ist nicht nur, dass sie in der Regel deprimierend ist, sondern auch, dass das, was sie ausmacht, weniger eindeutig ist, als es auf den ersten Blick scheint. So stellt sich die Frage, wie die Realität in Dokumentarfilmen dargestellt wird, womöglich sogar noch dringlicher als beim fiktionalen Kino.
Um es anhand eines Beitrags aus dem diesjährigen Programm der Visions du Réel, des Dokumentarfilmfestivals in Nyon, zu illustrieren: Vielleicht verhält es sich mit der Wirklichkeit wie mit den Vulkanen in «Fire of Love» von Sara Dosa. Unsichtbare, nur mit grosser Mühe erforschbare tektonische Vorgänge tief unter der Erdoberfläche führen bei genügend Zeit und Druckaufbau immer wieder zu gewaltigen Eruptionen. Werden die wenigen Zeichen, die von einem bevorstehenden Ausbruch zeugen, ignoriert oder falsch entziffert, kann das zu vielen Opfern führen.
Gleichzeitig ist in «Fire of Love», montiert aus dem über Jahrzehnte gesammelten Material zweier miteinander verheirateter Vulkanolog:innen, noch eine andere, vielleicht noch mächtigere Kraft am Werk: die Liebe zu den Vulkanen selbst, zur Wissenschaft, aber vor allem zueinander. Alle diese Vorgänge sind unsichtbar, und alle bewegen sie die Welt.
Radikaler Sex
Nicht weniger gewaltig, aber etwas unmittelbarer verhält es sich mit der Sexualität. Selbst wenn niemand deren Einfluss auf die Wirklichkeit bezweifelt, ist auch hier eine direkte Repräsentation kaum möglich. Das gilt selbst für die Pornografie, die über Jahrzehnte von einem männlichen Blick geprägt wurde und so nur einen Teil der möglichen Wahrnehmungsformen abdeckte. Ein bedauernswerter Umstand, den das queere Kollektiv Oil Productions aus Lausanne, porträtiert von Patrick Muroni in seinem Festivalbeitrag «Ardente·x·s», frontal angreift. Dynamisch geschnitten, inszeniert und vertont, leidet der Film zwar etwas an der unverhohlenen Verehrung Muronis für seine Protagonist:innen, schafft es so aber auch, dem Publikum ein durchaus radikales Verständnis von Sexualität und Geschlechterrollen näherzubringen.
Andere Realitäten, andere Affekte. Wer etwa die Vergangenheit abweichend interpretiert, nimmt auch die Gegenwart anders wahr. Die Mitglieder der AfD, in «Eine deutsche Partei» über drei Jahre dem kalten, aber genauen Blick des Dokumentaristen Simon Brückner ausgesetzt, leben in einer gänzlich anderen Realität und sind so dann auch darüber irritiert, dass nicht alle so denken und fühlen wie sie. Aus der Nähe betrachtet, wirken die Rechtspopulist:innen noch unheimlicher, und am Ende weiss man immer noch nicht, ob man sich vor den zynischen Opportunistinnen oder den überzeugten Eiferern mehr fürchten sollte.
Wohin falsch eingeschlagene Wege führen, zeigt Pierre-Yves Vandeweerd in seinem wunderschönen und tieftraurigen «Inner Lines», in dem er die gleichsam zyklische Gewaltgeschichte der Region um den Berg Ararat auf essayistisch-poetische Weise zusammenfasst. Berichte von Überlebenden des Völkermords an den Armenier:innen, der Jesid:innenverfolgung durch den IS oder des jüngsten Konflikts um Bergkarabach legen ein eindrückliches, unverfälschtes Zeugnis von der Sinnlosigkeit aller Kriege ab. Und selbst wenn manche Symbolik etwas fragwürdig bleibt und die Verbindung eines kaum vergangenen Konflikts mit biblischem Symbolismus nicht von allerhöchster Pietät zeugt: der Wirkung der herzzerreissenden Zeug:innenberichte, die mit wunderschönen Landschaftsbildern unterlegt werden, von deren Wirklichkeit sich die Gewalt nicht mehr ablösen lässt, kann man sich kaum entziehen.
Rätselhaft und schön
Es bleibt schliesslich bloss die Hoffnung, die zwar auch zur Gegenwart gehört, aber auf die Zukunft verweist. Sie ist eng verknüpft mit der Vergänglichkeit und dem Glauben. In «Taamaden» von Seydou Cissé suchen sich junge Männer aus Mali und anderen westafrikanischen Ländern Rat beim Marabout, um ihre Reise nach Europa möglichst sicher zu überstehen. Er rät ihnen, dem Meer Opfergaben zu bringen, in Form von Milch und Eiern, die über dem Wasser aufgeschlagen werden sollen, und er gibt ihnen Glücksbringer mit, die dann ihrerseits mit dem Aberglauben der Schlepper kollidieren. Ein schöner, rätselhafter Film, aus einer dezidiert anderen Wirklichkeit, die sich von der unseren doch nicht trennen lässt.
Davon schliesslich, dass der Glaube an die unsichtbare Sphäre der Götter direkt an die Vergänglichkeit geknüpft ist, die sich am unmittelbarsten beim Älterwerden der eigenen Verwandten aufdrängt, zeugt «A Holy Family» des Taiwaners Elvis A-Liang Lu. In dessen lichterfülltem Porträt der eigenen Familie – bestehend aus einem spielsüchtigen Vater, einem Bruder, der vom Medium zum Tomatenbauern wird, und der Mutter, die trotz aller Liebe und Aufopferung nicht einmal im Fotostudio, in dem das Grabfoto ihres kranken Mannes gemacht werden soll, dessen Hand halten will – können auch die Unmengen an verbranntem Papiergeld das Unausweichliche nicht hinauszögern. Am Ende – und es sind Filme wie dieser, die dies überzeugend demonstrieren – unterscheiden sich die jeweiligen Realitäten dann nicht mehr.