Dokumentartheater: Der Korridor der Befreiung

Nr. 19 –

Die Volksbühne Basel thematisiert in «Shengal – die Kraft der Frauen» den Genozid an den JesidInnen im Nordirak und macht gleichzeitig auf einen erstaunlichen Emanzipationsprozess aufmerksam.

Mal kommt der Horror wie ein gehetzter Livebericht auf die Bühne, mal als intimes Kammerspiel: Szene aus «Die Kraft der Frauen». Foto: Matthias Wäckerlin

Es ist ein Theaterabend, der weit über sich hinausweist. Und heftig nachhallt, im Schrecken wie in seiner Überwindung. «Shengal – die Kraft der Frauen» setzt sich mit dem Genozid am kleinen Volk der JesidInnen auseinander und zeigt, wie im Widerstand und im Wiederaufbau neue Strukturen entstehen, die entscheidend von Frauen geprägt werden. Nichts in diesem Dokumentartheater ist erfunden, aber alles ist gestaltet. Der Schrecken ist nur auszuhalten, weil er eine Form bekommt. Das ist eine der zentralen Aufgaben von Kunst.

Am 3. August 2014 fallen Kämpfer des IS in den Shengal ein, das letzte Siedlungsgebiet der JesidInnen im Nordirak. Über 5000 Männer werden zusammengetrieben und sofort erschossen, die Frauen vergewaltigt, verschleppt, versklavt und wie Vieh auf Märkten verkauft. Gegen 250 000 JesidInnen können in die Berge flüchten. Ihnen hätte das gleiche Schicksal gedroht, wenn es der kurdischen Befreiungsarmee nicht gelungen wäre, einen Korridor in den Belagerungsring des IS zu schlagen, durch den die Geflüchteten abziehen konnten. Nach der Befreiung vom IS Ende 2017 beginnt der Wiederaufbau.

Das Stück der Volksbühne Basel zeigt, raffiniert gebaut, Stationen aus diesem Leidens- und Befreiungsweg. Mal kommt der Horror wie ein gehetzter Livebericht auf die Bühne, mal als intimes Kammerspiel, mal als fragende Reflexion. Alle Texte wurden aus über fünfzig Interviews mit direkt Betroffenen entwickelt, alle SpielerInnen haben einen eigenen biografischen Bezug zum Shengal. Das schafft eine Authentizität, wie man sie selten sieht, mit Livemusik und Gesang als eindringlichen Mitakteuren.

Seit Jahrhunderten verfolgt

Anina Jendreyko, verantwortlich für Konzept, Text und Regie, ist auf transkulturelle Projekte spezialisiert. Seit den neunziger Jahren reist sie immer wieder in die kurdischen Gebiete. 2012 gründet sie die Volksbühne Basel und schlägt mit ihr Kulturbrücken auch in politische Krisengebiete. Etwa mit «Selam Habibi», einer multikulturellen «Romeo und Julia»-Adaption, die in der Schweiz, aber auch in der nordirakischen Stadt Dohuk gezeigt wird, in Flüchtlingslagern, in Schulen und auf offenen Plätzen.

Die Geschichte der JesidInnen, die eine religiöse Minderheit unter den KurdInnen sind und von denen es weltweit noch knapp eine Million gibt, ist geprägt von massiver Doppelverfolgung – ethnisch und religiös. Das Massaker des IS von 2014 war bereits das 74. in den letzten 600 Jahren. Die Angriffe kommen durchgehend von muslimischer Seite, weil die JesidInnen als abgefallene Ungläubige gelten. Ihr Religions- und Weltbild kennt kein Paradies und keine Hölle, sondern Seelenwanderung und Wiedergeburt, weshalb sie paradoxerweise als TeufelsanbeterInnen verachtet werden. Umgekehrt haben in den jesidischen Siedlungsgebieten ethnisch und religiös unterschiedliche Gruppen immer friedlich nebeneinander gelebt.

Das Jesidentum ist eine monotheistische Religion, deren Wurzeln bis 2000 Jahre vor Christus zurückreichen. Es kennt keine verbindliche religiöse Schrift, die Glaubenslehre wird mündlich überliefert, verehrt werden in vielfältigen Ritualen die Natur, das Licht, das Feuer. Anina Jendreyko ist in den letzten Jahren viermal in den Shengal gereist. Wie hat sie diese Religion erlebt? «Sie ist geprägt von einer grossen Achtsamkeit gegenüber der Natur, stark gebunden an die Landschaft mit ihren Heiligtümern», sagt die Regisseurin. «Frauen üben viele religiöse Rituale aus und können auch geistliche Oberhäupter sein. Wenn es den Shengal nicht mehr gibt, wird es in drei Generationen das Jesidentum kaum mehr geben.»

JesidIn kann nur sein, wer zwei jesidische Elternteile hat. Eine Heirat mit Andersgläubigen gilt als Austritt aus der Glaubensgemeinschaft. Die systematisch als Kriegswaffe eingesetzten Vergewaltigungen durch die IS-Kämpfer bekommen dadurch eine weitere Dimension: Wer akzeptiert die so entstandenen Kinder? Immerhin: Das jesidische Oberhaupt hat schliesslich alle aus der Versklavung befreiten Frauen und Mütter wieder in die Gesellschaft aufgenommen – ein historischer Schritt.

«Die Leute tanzen wieder»

Auf der Bühne in Basel kehrt eine versklavte Frau zurück. Wird ihr Mann sie wieder aufnehmen? Und mehr noch: Wird sie die tief sitzende Scham je überwinden können? Ein Moment so still und intim, dass einem der Atem stockt.

Erst vor wenigen Wochen besuchte Jendreyko den Shengal erneut. «Ich war total beeindruckt», sagt sie. «Vor zwei Jahren war etwa Tel Ezer, wo früher 80 000 Menschen lebten, völlig zerstört, eine Geisterstadt. Ich hätte nie gedacht, dass hier je wieder gelebt werden kann.» Bisher seien 4000 Menschen zurückgekehrt, einzelne Läden wieder geöffnet, die erste Schule funktioniere. «Ich erlebte ein Fest, die Leute tanzen wieder – unvorstellbar.»

20 000 JesidInnen haben die Region nie verlassen, an die 80 000 sind inzwischen zurückgekehrt, aber manche Gebiete sind noch vermint, es gibt kaum Strom oder fliessendes Wasser. Zwölf unterschiedliche Milizen agieren in der Region, alle paar Kilometer steht ein Checkpoint. Von den 360 000 JesidInnen, die durch den IS aus ihrer Heimat vertrieben wurden, harren an die 300 000 immer noch unter erbärmlichsten Bedingungen in Flüchtlingslagern aus. 3000 verschleppte Frauen und Mädchen werden weiterhin vermisst. Sie leben – wenn sie noch leben – verschachert und x-mal weiterverkauft bei ihren «Besitzern» in Saudi-Arabien, Katar, Pakistan, im Jemen, im Irak, in Syrien, Libyen, Tunesien.

Jendreyko hat als Übersetzerin und Mitglied von Menschenrechtsdelegationen mehrere Jahre in den kurdischen Gebieten der Türkei gelebt und spricht fliessend Türkisch. Der Genozid gehe schleichend weiter, sagt sie, indem die Bevölkerung nicht in ihre Heimat zurückgelassen werde. «Ihr Schutz müsste garantiert werden, und zwar in der irakischen Verfassung und international. Es braucht eine Flugverbotszone über dem Shengal.» Die Türkei liquidiere mit gezielten Drohnenangriffen Persönlichkeiten, die im Vermittlungs- und Aufbauprozess eine wichtige Funktion hätten. Was es jetzt ganz dringend brauche, sei die Anerkennung der jesidischen Selbstverwaltung und eine gross angelegte internationale Aufbauhilfe.

Etwas vom Wichtigsten des Theaterabends: Er belässt die Frauen nicht in einem Opferstatus. Als Mädchen durften sie nicht zur Schule, jetzt werden sie Lehrerinnen, Vorsteherinnen der Gemeinden, kämpfen mit dem Gewehr in der Hand und bringen ihre innersten Fragen zur Sprache. Auch das neue Rollenverständnis muss erkämpft werden: Die Bühnenfiguren treten dabei in einen spannenden Dialog mit Personen aus eingespielten Videosequenzen. Shengal und Schweiz verschmelzen.

Gemeinsam das Trauma überwinden

Was «Shengal – die Kraft der Frauen» zeigt, ist eindrücklich. Aber besteht vielleicht nicht doch die Gefahr, dass man einer westlich geprägten emanzipatorischen Projektion erliegt? «Das glaube ich nicht», sagt die Regisseurin. «Die Befreiung der Frau orientiert sich nicht an der – ich sage das jetzt mal verkürzt – vom Kapital geprägten Gleichstellung mit dem Mann. Befreiung im Shengal meint grundsätzliche Befreiung von Herrschaft und Sklaverei.» Der Massstab sei konsequent basisdemokratisch. In allen gesellschaftlichen Gremien gebe es gemischte Doppelbesetzungen von Führungspositionen – und daneben überall auch noch reine Frauenstrukturen.

Natürlich seien die Bilder andere als bei uns. «Man wird dort in den nächsten Jahren keine Männer sehen, die Wäsche aufhängen und den Kinderwagen schieben.» Aber die Rettung vor dem IS habe ein Bewusstsein wachsen lassen, dass man seine Geschichte selbst und gemeinsam in die Hand nehmen und Verantwortung für die Zukunft tragen müsse. «Das hat Energien freigesetzt. Wenn alle das gleiche Schicksal erleiden, ist es leichter, ein Trauma zu überwinden», so Jendreyko. «Insofern ist der Korridor zur Flucht vor dem IS wie ein Symbol geworden für die gesellschaftliche Öffnung und Befreiung.»

Noch selten ist man aus einem thematisch so bedrückenden Abend auch so hoffnungsvoll herausgekommen.

«Shengal – die Kraft der Frauen». Regie: Anina Jendreyko. Wiederaufnahme in der Druckereihalle des Ackermannshofs in Basel, Mi, 12., bis Fr, 21. Mai 2021, 18 Uhr und 20 Uhr. www.volksbuehne-basel.ch