Aufarbeitung des Völkermords: Wie konnte die Welt das zulassen?

Nr. 32 –

Die internationale Anerkennung des Genozids ist für die Jesid:innen eine wichtige Respektbekundung – doch nur konkrete Taten können ihre Zukunft verbessern. Zwei Stimmen aus der grossen deutschen Diaspora.

In den frühen Morgenstunden des 3. August 2014 hört Jan İlhan Kızılhans Telefon nicht auf zu klingeln. «20, 50, 100 Anrufe. Die Leute schrien mich an: ‹Hier passiert etwas Unvorstellbares: Die töten Menschen! Kannst du irgendwas tun?›» Kızılhan lebt damals im süddeutschen Villingen, die Anrufe erreichen ihn von Freund:innen aus der nordirakischen Region Sindschar, über 3000 Kilometer Luftlinie entfernt. Kızılhan ist Psychologe und Gewaltforscher – und er ist Jeside. Damit gehört er zu jener Glaubensgemeinschaft, die der Islamische Staat (IS) in den darauffolgenden Stunden im August 2014 auszurotten versuchen wird.

Genauso wie Rosa Burç. Sie ist damals 24, lebt in London und schreibt gerade ihre Masterarbeit in Internationalen Beziehungen, als sie über Social Media von den Ereignissen im Nordirak erfährt. Quasi per Livestream verfolgt sie, wie der IS Männer zwingt, zum Islam zu konvertieren, und diejenigen, die es nicht tun, abschlachtet. Wie Kızılhan hofft Burç, dass die Peschmerga – die bewaffneten Einheiten der kurdischen Autonomieregion, die für den Schutz der Bevölkerung Sindschars verantwortlich sind –, den Jesid:innen zu Hilfe kommen. Oder dass die im Nordirak stationierten US-Streitkräfte ein paar Flugzeuge losschicken. Doch die Peschmerga fliehen mitsamt ihren Waffen, und die US-Jets heben nicht ab.

Flucht aus Sindschar

Karte des Irak und umliegende Länder: Sindschar-Gebirge, Autonome Region Kurdistan, Flüchtlingscamps
Karte: WOZ; Quelle: UNHCR

Kızılhan und Burç fühlen sich alleingelassen und ohnmächtig. Burç, die in Deutschland geboren wurde, sagt: «Damals habe ich verstanden, was es bedeutet, Jesidin zu sein, zur Minderheit einer Minderheit einer Minderheit zu gehören.» Während sie in Talkrunden bei Channel 4, BBC und CNN sitzt, um immer wieder zu erklären, wer die Jesid:innen überhaupt sind, legt Jan İlhan Kızılhan sein Handy nicht mehr aus der Hand. Er versucht, Politiker:innen dazu zu bewegen, Traumatisierte nach Deutschland zu evakuieren.

Als endlich etwas passiert, sind bereits 5000 bis 10 000 jesidische Männer vom IS ermordet worden, mehr als 7000 Frauen und Kinder entführt; Hunderttausende sind in die Camps im Nordirak geflohen. Bis heute fragen sich Kızılhan und Burç: Wie konnte die Welt das zulassen?

Erst mal territoriale Sorgen

Die Jesid:innen sprechen von 74 Genoziden, die an ihnen begangen wurden, der vorerst letzte 2014. «Das ist mehr eine symbolische Zahl: Ich würde eher von einem seit Jahrhunderten andauernden Völkermord mit kontinuierlichen Massakern sprechen», sagt Soziologin Burç, die am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) forscht. Das Jesidentum gilt als älteste Religion in Kurdistan, 2000 Jahre älter als das Christentum. Die Jesid:innen haben eigene Schöpfungsmythen, verehren die Sonne und sind monotheistisch. Seit vielen Jahrhunderten werden sie immer wieder zur Zielscheibe von Angriffen. «Die Jesid:innen seien Ungläubige, Gottlose, Teufelsanbeter: Das sind die gängigen Rechtfertigungen, wieso man sie vernichten und versklaven will», sagt Burç.

Es ist eine Geschichte, die Jan İlhan Kızılhan aus der eigenen Familie kennt. Seine Eltern sind in den siebziger Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen, um Rassismus und Diskriminierung zu entkommen. Als das Militär in der Türkei in den achtziger Jahren gegen Kurd:innen und andere Minderheiten vorging, flohen Tausende weitere Jesid:innen nach Deutschland. Auch nach 2014 sind viele aus dem Irak dorthin geflohen. Von den weniger als eine Million Jesid:innen leben heute rund 220 000 in Deutschland – mehr sind es nur im Nordirak.

Dass sich die Massaker an den Jesid:innen wiederholen, hat laut Kızılhan damit zu tun, dass Hass und Vorurteile Generationen überdauerten – und dass die Jesid:innen im Westen lange keine Lobby hatten. Das habe man 2014 besonders gut an den internationalen Reaktionen auf den Angriff des IS sehen können. Statt eine unmittelbare Rettung der Zivilbevölkerung einzuleiten, standen erst einmal territoriale Sorgen im Mittelpunkt. Nach einigen Tagen habe man sich dazu durchgerungen, aus Flugzeugen Trinkwasser über den vor dem IS auf den Berg Dschabal Sindschar Geflohenen abzuwerfen, sagt Rosa Burç. Erst als die syrisch-kurdischen Milizen YPG und YPJ sowie die PKK mit Unterstützung durch Luftschläge des US-Militärs einen Fluchtkorridor öffnen konnten, wurden Zehntausende Eingezingelte gerettet.

In Deutschland dauert es Monate, bis Kızılhan einen Stein ins Rollen bringen kann: Im Januar 2015 erteilt die Bundesregierung dem Land Baden-Württemberg die Erlaubnis, ein Kontingent von tausend jesidischen Frauen und Kindern aus den Camps im Nordirak zu evakuieren, um die durch den IS erlittenen Traumata behandeln zu lassen. Hundert weitere kommen nach Schleswig-Holstein und Niedersachsen. Kızılhan fährt in den Irak, um jene mit den schlimmsten Traumata auszuwählen.

Und in der Schweiz?

Dass einige westliche Staaten Jesid:innen zur Behandlung aufgenommen hätten, sei lobenswert – genug sei es nicht. «Um wirklich an den Traumafolgestörungen arbeiten zu können, hilft es den Betroffenen, wenn offiziell anerkannt wird, was ihnen zugestossen ist», sagt Kızılhan. Im Fall der Jesid:innen bedeutet das: die Anerkennung der IS-Massaker als Völkermord. «Bis 2014 kannte ja niemand die Jesid:innen. Mit der Anerkennung des Völkermords werden ihre Existenz und ihre Identität erstmals weltweit anerkannt. Das ist eine Respektbekundung und eine Art von Gerechtigkeit.»

Der Deutsche Bundestag erkannte den Genozid an den Jesid:innen im Januar 2023 offiziell an, ebenso wie die Uno, die Europäische Union und Parlamente in den Niederlanden, in Frankreich und Australien. In Deutschland begann auch die juristische Aufarbeitung des Genozids: Das Oberlandesgericht Frankfurt verurteilte 2021 einen irakischen IS-Anhänger, der mehrere Jesidinnen versklavt und ein fünfjähriges jesidisches Mädchen zu Tode gefoltert hatte. Es ist das erste Mal überhaupt, dass ein Mitglied der Terrormiliz wegen Völkermord verurteilt wird.

Und in der Schweiz? Hier passierte in punkto Anerkennung lange nichts. Bis Delshad Ido 2023 eine Petition ans Parlament lanciert. Ido kommt aus einem Dorf nahe Mosul, seine Familie konnte fliehen – eine halbe Stunde bevor der IS das Dorf stürmte. 2015 flüchtet er über den Landweg nach Deutschland, wo er bis heute lebt. «Die Schweiz ist das Zentrum der internationalen Diplomatie; eine Anerkennung hier hätte Auswirkungen weltweit», sagt Ido.

Er fordert nicht nur die Anerkennung durch das Parlament, sondern auch, dass die Schweiz Kontingente traumatisierter Frauen und Kinder aufnimmt – und bei der Suche nach 2500 verschleppten jesidischen Frauen und Kindern mithilft, die bis heute nicht zurückgekehrt sind. Die Petition mit mehr als 90 000 Unterschriften hat Ido vor einem Jahr übergeben. Passiert ist bislang nichts. Auf Anfrage bei den Parlamentsdiensten heisst es: Die Petition sei der Aussenpolitischen Kommission beider Räte zugewiesen worden, diese haben sich allerdings noch nicht damit befasst. Und: «Aktuell sind keine parlamentarischen Vorstösse zu einem Schutzstatus oder ‹Kontingenten› hängig.»

3000 Dollar für Rückkehrer:innen

Rosa Burç sagt: Wenn auf die symbolische Anerkennung des Völkermords keine Taten folgten, ändere diese nur wenig im Leben der meisten Jesid:innen. Noch immer leben nach offiziellen Angaben bis zu 280 000 in den Camps im Nordirak. Die irakische Regierung wollte diese bis Ende Juli auflösen – was allerdings nicht passiert ist. Den Geflüchteten werden Prämien von jeweils 3000 US-Dollar versprochen, wenn sie in ihre Dörfer und Städte zurückkehren.

Am 9. Oktober 2020 haben die irakische Zentralregierung in Bagdad und die Regierung der kurdischen Autonomieregion im Nordirak in Erbil das Sindschar-Abkommen geschlossen, das darauf abzielt, die administrative und die sicherheitspolitische Situation in der Region zu stabilisieren. Es beinhaltet die Schaffung einer einheitlichen lokalen Verwaltung, die Reduzierung der Präsenz nichtlokaler bewaffneter Gruppen und die Förderung von Wiederaufbau und öffentlichen Dienstleistungen.

Obwohl die Ideen des Abkommens positiv klingen, habe es einige grosse Schwächen, kritisieren Burç und Kızılhan. «Es waren keine jesidischen Organisationen oder Persönlichkeiten involviert. Man hat den Vertrag über ihre Köpfe hinweg mit der Arroganz von Machthabern geschlossen, die über das Schicksal von Untergebenen entscheiden, ohne sie einzubeziehen», sagt Jan İlhan Kızılhan.

Besonders heikel sei nicht nur die Frage, wer die jesidischen Ortschaften verwalte – sondern auch, wer sie schütze. Die jesidischen Selbstverteidigungseinheiten, die seit 2014 nach dem Vorbild und unter Mithilfe der PKK aufgebaut wurden, könnten Teil der regulären Streitkräfte des Irak oder der Peschmerga der kurdischen Autonomieregierung im Nordirak werden. Das wäre fatal, sagt Rosa Burç. «Seit 2014 ist das Vertrauen zerstört. Die Jesid:innen wurden von den Peschmerga und der irakischen Armee im Stich gelassen. Wer garantiert, dass das nicht wieder passiert?»

Die Lage ist für die Jesid:innen auch zehn Jahre nach dem Völkermord bedrohlich. «Auch wenn der IS auf dem Papier besiegt ist, trägt die Ideologie in der Region Früchte. Die Islamisierung der Zivilbevölkerung hat zugenommen», sagt Kızılhan. Einer der Treiber dahinter sei die Türkei. Aussenminister Hakan Fidan hat erst im Mai das Ziel ausgegeben, die Region Sindschar «vollständig» von der PKK zu säubern. Das bedeutet auch: keine PKK-nahe jesidische Selbstverwaltung in Sindschar. Dafür führte das türkische Militär in den vergangenen Jahren zahlreiche Drohnenangriffe in der Region durch, bei denen nicht nur Milizionäre, sondern auch Zivilist:innen ums Leben kamen.

Wie aber könnte eine Lösung in Sindschar aussehen? Um eine Antwort zu finden, hat Rosa Burç im Rahmen ihrer Forschung mit zahlreichen Jesid:innen gesprochen. «Ein Wunsch, der immer wieder kommt: ‹Ezidxan› – eine jesidische Autonomie für Sindschar.» Für eine Volksgruppe, die immer wieder genozidalen Angriffen ausgesetzt war, sei das eine hoffnungsvolle Perspektive. Eine Perspektive aber auch, die ohne externe Sicherheitsgarantien schwer umsetzbar sei. «Deutschland hat in der jüngeren Vergangenheit eine besondere Rolle für die Jesid:innen eingenommen und könnte international als Mediator agieren», sagt Burç.

Ob Deutschland bereit ist, dieser Rolle gerecht zu werden? Daran darf derzeit gezweifelt werden. Letztes Jahr begann das Land, aus dem Nordirak geflohene Jesid:innen wieder dorthin auszuschaffen. Kızılhan sagt: «Das ist ein Skandal. Das Siedlungsgebiet der Jesid:innen ist zerstört. Und verschiedene religiöse Führer lassen weiterhin verlauten, dass sie Ungläubige seien und man das Recht habe, sie zu töten. Die genozidale Bedrohung ist noch lange nicht vorbei.»