Flüchtlinge im Irak: Verfolgt vom IS, eingeschlossen im Gebirge

Nr. 34 –

Zehntausende JesidInnen flohen vor der Gewalt der IS-Terroristen ins nahe gelegene Sindschargebirge. Dort waren sie tagelang abgeschnitten von der Aussenwelt. Ihre letzte Hoffnung auf Schutz liegt im kurdischen Autonomiegebiet.

Die meisten Entkommenen sind barfuss oder haben sich Tücher um die nackten Füsse gewickelt. Einige humpeln über die Grenze, ihre Lippen sind aufgesprungen, die Haare kleben vom Dreck zusammen, Kinder weinen und schreien an der Hand ihrer Eltern. Wer das Glück hatte, eine Wasserflasche aufzufangen, die die US-Armee aus der Luft abgeworfen hatte, hält diese ganz fest. Viele Flaschen seien an den scharfen Steinen zerschellt. «Neben mir ist das Wasser ausgelaufen, ich konnte nichts machen», sagt Hozam Saleh. Und das bei 45 Grad Celsius, ohne Schatten.

Schweiss perlt auf Salehs Stirn, er bewegt sich erschöpft vorwärts in einem nicht enden wollenden Tross von Flüchtlingen im nordirakischen Dorf Fischchabur nahe der syrischen Grenze. Sie hoffen, im autonomen Kurdengebiet Schutz zu finden. In den letzten Tagen mussten sie Blätter und Baumrinde essen, um nicht zu sterben. Väter und Mütter mussten mit anschauen, wie ihre Söhne und Töchter verdursteten, verhungerten oder vor Schwäche tot umfielen. «Meine drei Kinder sind auf der Flucht gestorben», sagt Saleh. «Ihre Leichen mussten wir zurücklassen.»

Diese Menschen sind auf der Flucht vor den Dschihadisten der extremistischen Gruppierung Islamischer Staat (IS). Die Eroberungswelle der Terroristen begann Anfang Juni. Sie überrannten weite Landesteile im Irak, hissten ihre schwarzen Flaggen, und ihr Anführer Abu Bakr al-Bagdadi rief einen Gottesstaat – ein Kalifat – aus. Seitdem sind Hunderttausende auf der Flucht. Im kargen Sindschargebirge im Norden Iraks waren während Tagen Zehntausende Flüchtlinge eingeschlossen. Die meisten von ihnen gehören der religiösen Minderheit der JesidInnen an, die bis vor kurzem noch in den Dörfern am Fuss des Höhenzugs lebten.

Über die Lautsprecher der Moscheen hätten die Fundamentalisten den ChristInnen und JesidInnen ein Ultimatum gestellt: entweder zum Islam übertreten, Steuern zahlen oder das Land verlassen. Wer sich widersetzte, wurde getötet, erzählen die Flüchtlinge. Die Menschen flohen ins Gebirge, nur mit ihren Kleidern am Leib und den wenigen Habseligkeiten, die sie in der Panik einpacken konnten. Von da an waren sie von der Aussenwelt weitgehend abgeschnitten. Zwar warfen irakische Soldaten und die US-Luftwaffe Wasser, Essenspakete und Medikamente ab. Doch die hätten nicht gereicht für die Zehntausende von Menschen, berichten die Entkommenen, die jetzt über die Grenze stolpern.

Brutalität grösser als je

Inzwischen wurde ein Teil der Flüchtlinge nach Angaben der Uno gerettet, ein Grossteil ist auf eigene Faust geflohen. Wie viele Menschen noch immer in Sindschar eingeschlossen sind, ist unklar. Die Uno spricht noch von rund 1000 Flüchtlingen, das US-Verteidigungsministerium schätzt, es seien höchstens 5000 Menschen. Etwa 50 000  sollen die Grenze zu Syrien erreicht haben, von wo sie via Fischchabur wieder zurück in den Irak, in die kurdischen Autonomiegebiete wollen. Jeden Tag überqueren Tausende Menschen die Grenze an diesem elenden Ort.

Die Überlebenden in Fischchabur erzählen grausige Geschichten: IS-Kämpfer hätten ihre Häuser geplündert, sie gejagt, Angehörige enthauptet, Frauen vergewaltigt, Kinder verschleppt. Eine Frau, Duaad Tulan, sagt, die Männer aus ihrem Viertel seien bei einer Massenerschiessung ermordet worden. «Wir haben ihre Hilferufe gehört», sagt sie. Eine andere, Hedija Anwar, berichtet, sie wisse nicht, wo ihr Mann und ihre Schwiegereltern seien. «Wir haben uns während einer Massenpanik in unserem Dorf verloren. Daraufhin bin ich allein geflohen», sagt sie apathisch und mit schwacher Stimme. Ihre Beine sind angeschwollen von der Hitze, sie kann kaum noch laufen. Dann fällt sie in Ohnmacht, ein Helfer des Kurdischen Halbmonds rennt zu ihr hin.

Die Flüchtlingstragödie hat die Religionsgemeinschaft der JesidInnen ins Licht der Weltöffentlichkeit gerückt. In Europa wissen die wenigsten, wer sie sind und woran sie glauben. Karl-May-LeserInnen kennen den Namen vielleicht aus dessen Buch «Durchs wilde Kurdistan», in dem sie als TeufelsanbeterInnen verfolgt werden. Solche jahrhundertealten Vorurteile haften der Minderheit bis heute an. Nach der Invasion der US-Armee 2003 wurde keine andere religiöse Minderheit derart gejagt wie die JesidInnen. Doch die jetzige Gewalt der IS-Kämpfer gegen die Volksgruppe übertrifft alle bisherige Brutalität.

Das Pentagon teilte mit, dass ein zunächst erwogener US-Militäreinsatz zur Rettung der Flüchtlinge unwahrscheinlicher geworden sei. Durch den Abwurf von Lebensmitteln sei die Situation nicht mehr so dramatisch – eine Einschätzung, die die Entkommenen nicht teilen. «Die schlachten uns doch ab», sagt Samia Omar, die drei Tage auf dem Berg herumgeirrt ist.

Einseitige westliche Interessen

Der IS entstand nach der US-Invasion 2003 im Irak. Die Gruppe ist in ihrem Hass auf alle, die nicht ihre eigene radikale Interpretation des sunnitischen Islam teilen, noch extremer als das Al-Kaida-Netzwerk. Der IS ist nicht mehr nur im Irak aktiv; er hat seinen Vormarsch nach Syrien ausgeweitet, wo seit dreieinhalb Jahren ein Bürgerkrieg tobt. Dort hat er sich in den Waffenlagern und Munitionsdepots der Armee und verschiedener Rebellenbrigaden bedient. Diese Ausweitung sowie die Radikalisierung galten als absehbar, denn – auch wenn es zynisch klingen mag – das Ausmass der humanitären Notlage in Syrien ist weitaus grösser als jetzt im Irak.

Warum intervenieren jetzt die EU-Staaten und auch die USA im Irak, aber nicht in Syrien? «Im Irak haben wir eine einfache Einteilung in Schwarz und Weiss», sagt Paul von Maltzahn, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. «Auf der einen Seite stehen die bedrohten Minderheiten und die kurdischen Kämpfer, auf der anderen Seite die Terroristen.» In Syrien hätten die westlichen Regierungen zudem befürchtet, dass man mit Aktionen gegen den IS indirekt das Regime von Präsident Baschar al-Assad gestützt hätte. «Auf dessen Untergang haben viele Politiker zu früh gewettet», sagt von Maltzahn.

Hinzu komme, dass eine Unterstützung der KurdInnen im Irak völkerrechtlich betrachtet leichter zu begründen sei, da die irakische Regierung die USA und die europäischen Staaten um Hilfe gebeten habe. In Syrien dagegen verbittet sich Assad jede «ausländische Einmischung». «Ausserdem gibt es im Irak keinen Konflikt mit Russland und dem Iran, die sich gemeinsam im Syrienkonflikt hinter das Assad-Regime gestellt haben», sagt von Maltzahn. Er ist sich sicher, dass der IS-Terror demnächst wieder nach Syrien überschwappen wird. «Denn die Dschihadisten haben nicht mit dem massiven Widerstand der Kurden gerechnet.»

Alte gegen moderne Waffen

Aber die kurdischen Kämpfer, die Peschmerga, verteidigen lediglich ihr Autonomiegebiet im Norden. Der Rest des Lands zerfällt. Und ob die KurdInnen vielleicht nicht doch eines Tags von den Islamisten überrollt werden, ist unsicher – ihre Ausrüstung ist veraltet, wohingegen die IS-Kämpfer modernste Waffen besitzen. Massud Barsani, der Präsident der kurdischen Autonomieregion, hat daher mehrfach die Lieferung moderner Waffen sowie Ausbilder aus den Ländern des Westens gefordert, um die Terrormiliz besiegen zu können. In einem Dorf im Nordirak haben die Dschihadisten vor wenigen Tagen mehr als achtzig JesidInnen getötet, weil diese nicht zum Islam übertreten wollten. Trotzdem bewegt sich der Flüchtlingstreck in Richtung Nordirak – wo sollen sie sonst hin?

Jesidische Religion: Eine weit verstreute Gemeinschaft

Die religiöse Minderheit der JesidInnen stammt aus dem Irak, aus Syrien, der Türkei und dem Iran. Schätzungen zufolge gibt es bis zu einer Million JesidInnen weltweit, die meisten leben im Nordirak und sind kurdischer Abstammung. Die grösste Exilgemeinschaft befindet sich in Deutschland, wo zwischen 50 000 und 90 000 von ihnen leben. Die JesidInnen sind in doppelter Hinsicht eine Minderheit: als KurdInnen im Exil, aber auch in ihrer Heimat innerhalb der mehrheitlich muslimischen kurdischen Gemeinschaft.

Die Wurzeln der Religion, die unterschiedlichste religiöse Strömungen und Traditionen vereint, reichen 4000 Jahre zurück. So kennen die JesidInnen zum Beispiel ein Ritual, das an die christliche Taufe erinnert, oder die Beschneidung von Jungen, wie sie aus dem Islam und dem Judentum bekannt ist. Es gibt Ähnlichkeiten mit dem Sufismus, aber auch altiranische Einflüsse. Das Jesidentum ist eine monotheistische, aber keine Offenbarungsreligion. JesidInnen haben keinen Propheten und kein heiliges Buch, sie glauben an einen allmächtigen Schöpfer und an Seelenwanderung.

Nur wer als JesidIn geboren wurde, kann JesidIn sein. Heiraten JesidInnen Andersgläubige, werden sie aus der Gemeinschaft ausgestossen. Damit will die Gemeinschaft ihre Religion vor dem Aussterben bewahren. Von Muslimen, aber auch von Christen werden die JesidInnen seit Jahrhunderten immer wieder angefeindet. Deswegen haben sie ihre Religion bis heute zumeist im Geheimen praktiziert.