Jesid:innen im Nordirak: Die Überlebenden

Nr. 24 –

Acht Jahre nach dem Genozid des IS kämpfen Jesid:innen im Nordirak noch immer jeden Tag gegen die Traumata – und dafür, nicht vergessen zu werden. Fernab von der Aufmerksamkeit der Welt brachen im Mai im Sindschar erneut Kämpfe aus.

  • die Jesidin Fauzia, 16 Jahre alt
    Mit acht Jahren vom IS gefangen genommen und immer wieder weiterverkauft: Fauzia, heute 16, sieht im Irak keine Zukunft mehr für sich.
  • die Jesid:innen Mulhim Hussain und Naro Hasso vor ihrer zeltähnlicher Behausung
    «Alles, was wir möchten, ist ein Ort, wo wir ohne Stress sein und einfach wie normale Leute leben können»: Mulhim Hussain und Naro Hasso (links) sind im Mai zum zweiten Mal vor Gewehrschüssen aus Sindschar geflohen.
  • Abdullah Shrem
    Vom Imker zum Sklav:innenbefreier: Abdullah Shrem schlich sich in Telegram-Gruppen ein, in denen jesidische Mädchen verkauft wurden.
  • Abdullah Shrem zeigt auf seinem Smartphone eine Telegram-Gruppe, wo jesidische Mädchen verkauft wurden
     
  • der Jeside Chaled mit einem Therapie-Pferd auf einem eingezäunten Feld
    «Für mich ist es das Schönste, mich um das Tier zu kümmern»: Chaled – hier mit einem Pferd für die Therapie traumatisierter Jesid:innen – geriet als Teenager in die Hände des IS.

Manchmal hört das Ende nie ganz auf. Es zieht sich zäh dahin, während ein neuer Anfang weit weg bleibt. Abdullah Shrem (47) breitet Landkarten auf dem Boden seines Wohnzimmers im nordirakischen Dorf Khanke aus. Er fährt mit dem Finger über das Papier, mit dem er jahrelang Leben rettete. Obschon er an vielen dieser Orte noch nie war, kennt er jedes Gebäude. Er blättert durch einen Block mit Skizzen, in denen er einzelne Strassen und Friedhöfe mit einem Lineal vergrössert nachgezeichnet hat. Seit 2014 befreite Abdullah Shrem 399 verschleppte Jesid:innen aus den Fängen des sogenannten Islamischen Staats (IS).

Mit seinem akkuraten Haarschnitt und dem gebügelten Hemd wirkt Shrem eher wie ein Büroangestellter als jemand, der mit IS-Terroristen via Telegram Preise für jesidische Sexsklavinnen verhandelte. Mittlerweile sind seine Karten nutzlos, die Telegram-Chats inaktiv. Die Techniken, mit denen er früher den IS austrickste, funktionieren bei den verschiedenen bewaffneten Gruppen, die seit 2019 das Machtvakuum nach dem Abzug des IS auffüllen, nicht mehr. Doch er kann seine Suche nicht beenden. Bis heute gelten immer noch 2719 Menschen als vermisst. Deshalb telefoniert Shrem auch an diesem Morgen Ende Mai mit Kontaktpersonen in Syrien, die Informationen über einen kleinen Jungen haben. «Jede weitere Person, die ich heraushole, motiviert mich weiterzumachen», sagt er. Das letzte Mal, als er jemanden befreite, war vor zweieinhalb Jahren.

Sindschar, die Heimat von Shrem und mehreren Hunderttausend weiteren Jesid:innen, ist ein Ort, den bis 2014 kaum jemand kannte. Dann töteten und verschleppten IS-Terrorist:innen am 3. August über 10 000 Jesid:innen. Die Uno spricht von einem Genozid. Einige Jahre stand die religiöse Minderheit in den Schlagzeilen, meistens wenn eine Jesidin erzählte, wie oft sie von IS-Soldaten vergewaltigt wurde. Dann schwand das internationale Interesse.Seither ist sehr viel und sehr wenig passiert. Wie machen Menschen weiter, die den Genozid überlebt haben?

Das ist die Geschichte vom Schmuggler Abdullah Shrem und von der jungen Frau Fauzia, die Shrem befreien konnte. Es ist die Geschichte von Basaam und Chaled, die als Kindersoldaten für den IS kämpfen mussten. Und die von Naro Hasso und Mulhim Hussain, einem älteren Paar, das im Mai zum zweiten Mal vor Gewehrschüssen aus Sindschar floh.

Acht Jahre nach dem IS-Angriff liegen grosse Teile ihrer Heimat noch immer in Trümmern. An die Häuser, in denen sie alt werden wollten, erinnern teilweise nur noch Steinhaufen. Ihre Nachbar:innen und Glaubensverwandten leben verstreut in der ganzen Welt. Etwa 100 000 Menschen, fast ein Fünftel der jesidischen Bevölkerung im Irak vor dem Genozid, sind ins Ausland geflohen. Mehr als 200 000 leben in Flüchtlingscamps im Nordirak.

Der Tag, der alles veränderte

Bevor er seine Geschäftskontakte für sein Schmuggelnetzwerk nutzte, war Abdullah Shrem Imker und hat seinen Honig bis nach Aleppo in Syrien verkauft. Der Vater von zwei Söhnen und zwei Töchtern lernte von den Bienen, was ihn später beim Schmuggeln erfolgreich machte: Die weiblichen sind die besseren Arbeiterinnen als die männlichen.

Als der IS am 3. August 2014 im Morgengrauen anrückte, packte Shrem vier Honiggläser und reihte sich in eine Kolonne ein, die sich Richtung Berg bewegte. Manche gingen barfuss, Mütter umklammerten Kleinkinder, Männer schleppten alte Menschen auf ihren Rücken. Neben den Jesid:innen marschierten auch Muslim:innen, die in Sindschar seit Jahrzehnten ihre Nachbar:innen gewesen waren.

Sindschar, oder Schingal, wie die Jesid:innen auf Kurdisch sagen, ist ein trockenes Gebiet mit vielen Dörfern im Norden des Irak, eines Landes, in dem um fast alles gestritten wird – darum, wer im Restaurant wen einladen darf, um Macht, Land und um Gott. Sindschar liegt direkt an der syrischen Grenze, es hat mehr Feldwege als Betonstrassen, jahrzehntelang gab es weniger Schulplätze als Kinder. Auf den Äckern wachsen viele Tomaten, und in der Mitte der Region erhebt sich ein braches Berggebiet.

Dort hinauf flüchteten Anfang August 2014 mehrere Zehntausend Jesid:innen. So auch Abdullah Shrem. Oben melkte er Wildziegen, um die Kinder seiner Familie zu ernähren. Bilder des kleinen Volks, das tagelang bei Temperaturen bis zu vierzig Grad auf dem belagerten Berg ausharrte, gingen um die Welt. Helikopter von westlichen Ländern warfen Trinkwasser und Mahlzeiten ab, viele Staatschefs versprachen Hilfe. Das Massaker an den Jesid:innen war für den damaligen US-Präsidenten Barack Obama mit ein Grund, im Krieg gegen den IS mit Luftschlägen einzugreifen.

Bald hörten die Menschen auf dem Berg Gerüchte, dass der IS viele Jesid:innen, die in den Dörfern zurückgeblieben waren, getötet hätte. Sie fühlten sich von den Peschmerga verraten, den Militärtruppen der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak, die versprochen hatten, sie zu beschützen. Tagelang mussten die Geflüchteten auf dem Berg ausharren, bis es der kurdisch-syrischen Miliz YPG und Kämpfer:innen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gelang, von Syrien aus einen Korridor bis Sindschar freizukämpfen. Von dort reiste Shrem zurück in den nordirakischen Ort Khanke, wo er bis heute in einem kleinen Haus wohnt, direkt neben einem grossen Flüchtlingscamp. Er überlebte, doch über fünfzig seiner Verwandten galten als vermisst.

Dass Shrem in den folgenden Jahren zum Schmuggler wurde, war nicht geplant. Doch eines Tages erhielt er einen Anruf. Seine Nichte rief ihn aus einem Internetcafé in Syrien an, nachdem der IS-Kämpfer, der sie gekauft hatte, die Haustüre hinter sich nicht verschlossen hatte. Shrem nutzte seine alten Geschäftskontakte, um einen Fahrer zu engagieren, der die Nichte in die Türkei brachte. Das war Anfang November 2014. Schnell habe sich die Aktion herumgesprochen, erinnert sich Shrem. Viele Familien hätten ihn gefragt: «Kannst du auch unsere Verwandten befreien?» Er habe sich gedacht: «Das ist ein guter Job, den ich übernehmen kann.»

In den Jahren danach bestand sein Team aus über dreissig Menschen. Den schwierigsten Teil hätten Frauen übernommen, sagt er. Eine arbeitete als Krankenschwester, eine verkaufte Brot, eine andere hausierte mit Kleidern. Sie waren die perfekte Tarnung: Diesen Frauen war es möglich, die Jesid:innen in flüchtigen Momenten unauffällig anzusprechen. Sie merkten sich Name und Adresse, machten wenn möglich ein Foto, schickten alles an Shrem. Dieser liess den versklavten Frauen über die Mitarbeiterinnen Instruktionen zukommen, wann sie wo auf einen Fahrer warten sollten, der sie aus dem IS-Gebiet schmuggeln würde. Treffpunkte waren zum Beispiel Bäckereien oder Friedhöfe.

Beim Befreien nutzten Shrem und sein Team die Schwächen der Extremist:innen. Sie wussten, dass der IS sogar bei Checkpoints an Strassen eine Frau nicht auffordern würde, den obligatorischen Gesichtsschleier abzulegen. Deshalb gaben sie den Jesid:innen Identitätskarten von alten Frauen. Shrems Team lernte, dass sich Kontrollen umgehen liessen, wenn sie die Grussformel des IS aufsagten: «Inschallah anta ala tarik al-Schahid» (So Gott will, bist du auf dem Weg zum Märtyrer) – was eine höfliche Form dafür ist zu sagen: «Ich hoffe, du wirst sterben.»

Manche Fahrer, die für Shrem arbeiteten, schmuggelten zuvor Zigaretten und waren das Risiko gewohnt. Für sie gab es zwei Optionen: Entweder die Aktion gelingt, oder sie sterben. Mehrere aufgeflogene Mitarbeiter:innen brachte der IS um. Shrem bezahlte sein Team mit Geld, das die Regierung der Autonomen Region Kurdistan zur Verfügung stellte. Ein anderer Weg, Jesidinnen zu finden, ging über Telegram-Gruppen, in denen die IS-Männer Waffen und Sklavinnen feilboten. Shrems Team schleuste sich in die Chats ein.

Auf seinem alten Smartphone hat er Screenshots der Konversationen gespeichert. Ein IS-Mann schrieb über eine Sabaya, eine Sklavin: «Salam aleikum Bruder, ihr Preis ist 10 000 Dollar. Sie ist in der Provinz Nineveh, aber das Internet hier ist langsam. Du kannst vorbeikommen und sie dir ansehen, wenn du willst.» Shrems Antwort: «Das ist sehr weit weg von mir. Falls es möglich ist, ein Bild zu haben, wäre das grossartig.» – «Ich werde versuchen, eins zu schicken, Inschallah.» Manchmal, erzählt Shrem, kauften sie die Jesidinnen via Mittelsmänner frei, manchmal nutzten sie die Informationen aus dem Chat, um sie rauszuschmuggeln. Shrem scrollt durch die Bildergalerie seines Telefons, unzählige Fotos von Mädchen und jungen Frauen in Blusen und Jupes, die gezwungen in die Kamera lächeln. Bei einem Bild einer Frau mit drei kleinen Kindern friert sein Daumen ein. «Der IS tötete die Kinder vor ihren Augen, danach wurde sie vergewaltigt», sagt er.

Die versklavten Frauen

An einem Tag, wahrscheinlich Ende 2017, wird in dem Chat wieder ein Mädchen zum Kauf angeboten: Fauzia, damals zwölf Jahre alt. Sie wird die 372. Person, die Shrem bislang befreite. In einem langen Dokument hat er die Namen und Daten aller Personen aufgelistet, die er retten konnte.

Bevor die Terrorist:innen die acht Jahre alte Fauzia zusammen mit ihren Brüdern und Eltern gefangen nahmen, spielte sie Verstecken in ihrem Haus in Wardya, einem Dorf in Sindschar. Mit ihrem kleinen Körper, der bis heute klein geblieben ist, vergrub sie sich jeweils in Holzkisten, in denen die Familie Kleider aufbewahrte. Als sie davon erzählt, entspannt sich ihre Mimik kurz. «Wir waren arm, aber es war schön, weil wir als Familie zusammen waren», sagt die heute Sechzehnjährige.

Fast vier Jahre lang hielt der IS sie gefangen. Erst wurde sie gezwungen zu beten, später von ihren Eltern und Brüdern getrennt. Ihre Eltern hat sie bis heute nie wieder gesehen. Das erste Mal, daran erinnert sich Fauzia, bezahlte ein IS-Mann 500 Dollar für sie. In den Jahren danach wurde sie fünf Mal weiterverkauft, manchmal brachten sie die Männer in die Häuser ihrer Freunde. Als sie versuchte zu fliehen, sperrte sie ihr Besitzer einen Monat lang in einem Keller ein.

Viele Mädchen wie Fauzia wussten nicht, was Sex ist, und sie wurden nie zuvor von einem Mann berührt. Ihre Geschichten gleichen sich alle: Sie wurden vergewaltigt und geschlagen, weiterverkauft, vergewaltigt, weiterverkauft, vergewaltigt – so lange, bis sie starben, sich umbrachten oder es schafften, zu fliehen. Der IS schrieb Regeln auf, was laut ihrer fundamentalistischen Interpretation des islamischen Rechts zulässig sei: Der «Besitzer» darf eine vorpubertäre Sklavin vergewaltigen, wenn er es für angemessen hält. Ansonsten solle er sich mit ihr ohne Penetration vergnügen.

Als Abdullah Shrem das Foto von Fauzia in einem Chat sah, versuchte er zuerst, sie freizukaufen, doch der Plan scheiterte. Shrem verlor ihre Spur für drei Monate, bis ihn ein irakischer Kontaktmann im Al-Hol-Flüchtlingscamp in Syrien erneut auf Fauzia aufmerksam machte. Zu dieser Zeit lebte sie mit einem Mann und dessen Familie, die keine IS-Mitglieder, sondern bloss Sympathisant:innen waren. Der Mann willigte ein, Fauzia ihrem Bruder zu übergeben. Am 16. April 2018 schloss dieser sie in die Arme. «Ich fühlte mich, als ob ich nochmals geboren wäre», sagt Fauzia.

Die meisten befreiten Jesidinnen befürchteten, sie würden von ihrer Gemeinschaft verstossen. Frauen im Jesidentum müssen in der Hochzeitsnacht bluten, Jesid:innen dürfen nur innerhalb ihrer Religion heiraten, und niemand von aussen kann zum Jesidentum konvertieren. Doch dann sprach das religiöse Oberhaupt, Baba Scheich, ein Machtwort: Seither werden vergewaltigte Frauen wieder in die Gemeinschaft aufgenommen. Fauzia durfte sich im heiligen Tempel Lalisch ein zweites Mal taufen lassen.

Kinder hingegen, die bei den Vergewaltigungen gezeugt wurden, müssen die Jesid:innen verstossen. Es gibt Frauen, die deshalb freiwillig nach Syrien zu ihren Kindern zurückgekehrt sind. Die Jesid:innen glauben, dass Gott vor dem Menschen den Engel Tawusi Melek erschuf, den er als Pfau auf die Erde ins Tal Lalisch schickte. Diesen Engel beten sie an. Manche Muslim:innen sagen, dass er die gleiche Figur sei wie im Koran der Teufel. Auch darum wollte der IS die Jesid:innen vernichten.

Keine Heimat mehr

Wohin gehen Menschen, die einen Genozid überlebt haben? Zurück an jenen Ort, wo der Schrecken passierte? Wo sie permanent daran erinnert werden, dass ihre Liebsten nicht mehr sind?

Fauzia will auf keinen Fall wieder nach Sindschar. «Ich sehe keine Zukunft für mich im Irak», sagt sie. Für Australien hatte sie sich als Flüchtling registriert, sei aber abgelehnt worden. Jetzt lebt sie mit ihrem erwachsenen Bruder, seiner Frau und zwei jüngeren Brüdern einige Hundert Meter von Abdullah Shrem entfernt, in einer Konstruktion mit zwei Zimmern, halb Zelt, halb Mauern. Im Winter sinken die Temperaturen manchmal unter null Grad.

Schmuggler Shrem möchte eines Tages nach Sindschar zurückkehren, aber nicht jetzt, sagt er. Die Erinnerungen an seine sechzehn vermissten Verwandten bedrückten ihn zu sehr. Zudem ist die Sicherheitslage in Sindschar fragil.

Es gibt regelmässig türkische Raketenangriffe auf Stellungen der PKK, die in diversen Ländern als Terrororganisation gilt. Und erst kürzlich, Anfang Mai, rückte das irakische Militär in Sindschar ein (vgl. «Sindschar kommt nicht zur Ruhe» im Anschluss an diesen Text). Rund 10 000 Jesid:innen flüchteten erneut, darunter auch das Ehepaar Mulhim Hussain und Naro Hasso, das nun in einem Zelt in einem der 27 Camps lebt, die in der Region rund um Dohuk verteilt stehen.

Mulhim Hussain verbreitet im Gespräch gute Laune und spricht viel, ihr Mann dagegen schweigt die meiste Zeit. Als der IS kam, gehörten sie zu jenen, die direkt nach Kurdistan flüchten konnten. Danach aber begann die endlose Suche nach einem Zuhause. Wie viele Jesid:innen lebten sie in Rohbauten ohne Türen und Fenster – solange der Besitzer nicht weiterbauen wollte. Ein Dutzend Mal ist das Ehepaar umgezogen, schliesslich wurden sie dessen so müde, dass sie im Sommer 2020 nach Sindschar zurückkehrten.

Sie renovierten ihr altes Haus, doch knapp zwei Jahre später schlugen erneut Geschosse in die Wände ein. Mulhim Hussain musste ihre Nähmaschine zurücklassen, mit der sie auch ihr Kleid, das sie an diesem Tag trägt, genäht hatte. Sie hofft, die Maschine bald holen zu können, doch eine Rückkehr kann sie sich zurzeit nicht mehr vorstellen. «Alles, was wir möchten, ist ein Ort, wo wir ohne Stress sein und einfach wie normale Leute leben können», sagt sie. Die Situation im Camp sei schlecht, sie teilen sich eine Toilette mit vielen anderen Menschen, oft falle der Strom aus, die Tage ziehen sich dahin.

Die Schatten der Vergangenheit

Früher hätten sich mehr als 120 NGOs vor Ort engagiert, um den Jesid:innen zu helfen, erklärt uns jemand aus dem Leitungsteam des Camps. Jetzt seien es noch rund 15. Eine davon ist die Springs of Hope Foundation, gegründet von der Britin Lisa Miara. Auf einem grossen Areal innerhalb des Camps, in dem Mulhim Hussain und Naro Hasso leben, stellten sie mehrere Baracken auf, bauten einen Pausenplatz und einen Garten. Hier geben sie ehemaligen Sklavinnen und Kindersoldaten Raum für eine gewisse Normalität. Sie bieten Englisch, Computerkurse oder Singstunden an, spielen mit ihnen Fussball und unternehmen Ausflüge.

«Viele NGOs gehen dorthin, wo alle hinschauen, sie markieren Präsenz und verschwinden dann wieder», sagt Lisa Miara, die sich gegen Terrorismus einsetzt, seit vor zwanzig Jahren ihr Sohn bei einem Attentat in Jerusalem verletzt wurde. Sobald der IS 2017 aus der Region vertrieben worden sei, sei es schwieriger geworden, Spendengelder aufzutreiben, sagt sie.

Wieso ist internationale Solidarität bei schrecklichen Ereignissen zunächst gross – und nimmt dann irgendwann ab? Ist es vielleicht besonders anstrengend, sich jahrelang für das Gleiche einzusetzen, wenn man selbst nicht direkt davon betroffen ist? Gewöhnen wir uns an schlechte Nachrichten von weit weg?

Chaled (22), der aus dem gleichen Dorf wie Fauzia stammt, holt zusammen mit seinem gleichaltrigen Freund Basaam Pferde aus einem Stall, den Lisa Miaras NGO kürzlich baute. Die jungen Männer lassen die Pferde im Kreis traben. Heben sie die Hand, stoppen die Tiere, und die beiden streichen ihnen liebevoll übers Fell.

Lange war der Alltag der beiden jungen Männer voller Gewalt. Der IS nahm sie als Teenager gefangen, fünf Jahre mussten sie an der Seite der Terroristen kämpfen. Die beiden Jesiden wurden wie viele andere Kinder einer Gehirnwäsche unterzogen. Als die Freunde 2019 dem IS entkamen und in den Nordirak zurückkehrten, hatten die Menschen Angst vor ihnen. Im Gegensatz zu den vergewaltigten Frauen erhielten die Kindersoldaten kaum Aufmerksamkeit.

Lisa Miara gab ihnen eine Chance. Sie habe gesagt: «Ihr könnt für die NGO arbeiten, aber beim ersten Problem oder Sicherheitsrisiko werfe ich euch raus.» Miara möchte nicht, dass wir mit Chaled und Basaam über die IS-Zeit sprechen, auch ihre richtigen Namen dürfen wir nicht nennen. Sie legt viel Wert darauf, den Jugendlichen als Menschen zu begegnen, die mehr sind als ihre Vergangenheit. Nun kümmern sich die zwei jungen Männer um Pferde, die bald für die Therapie von Jesid:innen eingesetzt werden. Die Aufgabe wirkt für beide selbst wie eine Therapie. «Für mich ist es das Schönste, mich um das Tier zu kümmern», sagt Chaled, dessen Hintergrundbild auf dem Telefon eines der Pferde zeigt.

Fauzia hingegen hat bisher kaum Hilfe erhalten. Sie arbeitet vormittags in der Küche einer NGO, die sich um Waisenkinder kümmert. Ablenkung findet sie in türkischen Fernsehserien, am liebsten mag sie Mafiafilme. Drei Mal war sie bei drei verschiedenen NGOs in einer Therapiesitzung. Das habe ihr geholfen, sich zu entspannen. Was genau sie alles erlebte, habe sie bisher niemandem erzählt.

Von der Regierung im Stich gelassen

Die irakische Regierung hat im vergangenen Jahr ein Gesetz verabschiedet, das für Überlebende wie Fauzia, Basaam und Chaled Entschädigungen vorsieht. Doch niemand der drei hat bis jetzt Geld erhalten. Auch Shrem fühlt sich bei seiner Suche nach den Vermissten von der Regierung im Stich gelassen: «Wenn in einem demokratischen Land ein Tier in den Bergen feststeckt, wird es mit einem Helikopter gerettet.» Er hingegen erhalte seit kurzem nicht einmal mehr Geld, um die Suche alleine fortzuführen. Aufgeben will er trotzdem nicht: «Was immer ich auch tue, es macht nicht wett, was der IS getan hat.»

Die Extremist:innen wollten die Jesid:innen auslöschen. Selbst den Überlebenden wie Abdullah Shrem, Fauzia, Basaam, Chaled, Mulhim Hussain und Naro Hasso haben sie alles genommen. Ihnen bleibt der tägliche Kampf mit der Vergangenheit – und die Frage, wie sie als kleine Gemeinschaft wieder zusammenfinden. Manchmal hört das Ende nie ganz auf – aber die Überlebenden hoffen auf einen neuen Anfang. Chaled träumt davon, in Sindschar eine Reitfarm zu eröffnen. Basaam will weit weg ziehen, in ein fremdes Land. Und Fauzia wünscht sich, Anwältin zu werden, irgendwann.

Karte der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak
Nordirak Karte: WOZ

Mitarbeit: Nechirvan Mando.

Eskalation im Frühling : Sindschar kommt nicht zur Ruhe

Von Mitte April bis Anfang Mai stand die Region Sindschar unter Beschuss des türkischen wie auch des irakischen Militärs. Mehr als 10 000 Menschen mussten flüchten. Das Machtgefüge vor Ort ist so komplex, dass die International Crisis Group kürzlich einen 37-seitigen Bericht dazu verfasste. Landesintern streiten die Zentralregierung in Bagdad und die Autonome Region Kurdistan um Einfluss in Sindschar. Zudem kontrollieren schiitische Milizen, die jesidische Selbstverteidigungseinheit YBS sowie die PKK Teile der Region. International spielen Interessen der Türkei und des Iran mit.

Seit Jahren fliegt die Türkei Luftschläge gegen PKK-Stellungen in Sindschar – zuletzt besonders intensiv in der zweiten Aprilhälfte. Auch die jesidische Miliz YBS ist Ziel der Angriffe, da diese als eng verbunden mit der PKK gilt. Die Autonome Region Kurdistan lässt die Türkei gewähren, während Bagdad die Angriffe ab und zu kritisiert.

Stärker eskalierte die Situation nun im Frühling, als kurz nach der türkischen Offensive das irakische Militär in einen Aussenbezirk der Stadt Sindschar vorrückte. Laut Analyst:innen seien die beiden Operationen vermutlich koordiniert gewesen, was Yehia Rasul, Sprecher der irakischen Armee, allerdings bestreitet. Er sitzt in Bagdad hinter einem Holzschreibtisch, vor ihm liegen drei Smartphones, und er beteuert, seine Armee wolle die Jesid:innen schützen. Die Armee sei eingerückt, da die YBS das irakische Militär angegriffen und Strassenblockaden errichtet habe: «Wir können keiner Seite im Sindschar erlauben, Waffen zu tragen, ausser den Kräften der Landesregierung.»

Um die Region zu stabilisieren, haben Bagdad und die Autonome Region Kurdistan im Oktober 2020 das Sindschar-Abkommen ausgehandelt. Dieses sieht unter anderem vor, alle Milizen sowie die PKK aus der Region zu vertreiben und Jesid:innen für die lokalen Sicherheitskräfte zu rekrutieren – die Umsetzung lässt auf sich warten.

Mittlerweile sei die Lage wieder sicher, er hoffe, die Jesid:innen kehrten bald zurück, sagt Rasul. Doch viele Jesid:innen in den Camps rund um Dohuk sagen, die erneuten bewaffneten Kämpfe schreckten sie zu sehr ab.
Karin A. Wenger

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

Förderverein ProWOZ unterstützen