Fotografie: «Referenzkarten bildeten fast immer eine Frau mit heller Haut ab»

Nr. 19 –

Ist Fototechnik rassistisch? Lorna Roth untersucht, wie die Fotoindustrie auf die historischen Defizite in der Wiedergabe von Hautfarben reagierte – und was die Möbel- und die Schokoladenbranche dabei für eine Rolle spielten.

Referenzkarte mit drei Hauttypen und einem Känguru für die Graustufen
In den neunziger Jahren trieb es die Agentur Getty Images bunt: Referenzkarte mit drei Hauttypen und einem Känguru für die Graustufen. Foto: Dry Creek Photo, Getty Images

WOZ: Lorna Roth, was bedeutet Ihnen Haut?
Lorna Roth: Mich faszinieren alle Aspekte der Haut, einschliesslich ihrer Anatomie und Physiologie. In meiner Arbeit widme ich mich aber hauptsächlich den Herausforderungen, die sich stellen, wenn es um die visuelle Darstellbarkeit von Hauttönen geht. Damit Fleischtöne in einem analogen oder digitalen Bild genau wiedergegeben werden, braucht es Apparate und Anwendungen, die für ein breites Spektrum von Hauttönen empfindlich sind, ohne dass dabei eine Farbe bevorzugt würde – sei das durch die analoge Filmemulsion oder durch die Algorithmen einer Digitalkamera. In meiner Forschung untersuche ich vor allem die technischen Möglichkeiten und Richtlinien der visuellen Industrie. Mich interessiert, wie diese Industrie die Palette der Hautfarben schrittweise angepasst hat und in welchen historischen und gesellschaftlichen Kontext diese Anpassungen eingebettet waren.

Eine dieser industriellen Richtlinien war die «Shirley Card» von Kodak, eine Normkarte für Belichtungseinstellungen an Kameras. Entworfen in den 1940er Jahren, zeigte sie ursprünglich eine weisse Frau in farbenfrohem Kleid.
Solche Referenznormen sind wichtig für den Prozess der Farbbalance bei analogen und digitalen Kameras sowie für den Labordruck. Historisch war es so, dass die Hautreferenzkarten von Kodak fast immer eine Frau abgebildet haben, und bis in die späten 1990er Jahre war es eine mit heller Haut. Shirleys Haut galt als universelle Norm, sie stand für ein standardisiertes Schönheitsideal, verbunden mit Macht und Privilegien. Sie wurde oft als «normal» bezeichnet, entweder auf der Vorder- oder Rückseite ihres Bildes. Ihr heller Teint war in der Materialität der analogen Filmemulsion als Standard chemisch festgeschrieben; er war auch die bevorzugte Farbe in den früheren Versionen der Digitalkameras. Als vorgefertigte Messschablone wurde diese «White Shirley» ab den 1940er Jahren zur «Norm». Schwarze, Indigene und People of Color blieben als Abweichung an den Rand der Bildwelt verwiesen.

Wie hat die Shirley-Norm unsere Art, die Welt zu sehen, verändert?
Ich glaube nicht, dass die ursprünglichen Shirley-Karten unsere Art, die Welt zu sehen, verändert haben. Vielmehr war es so, dass eine bereits existierende, unbewusste Sichtweise gegenüber Menschen mit dunkler Hautfarbe dadurch in der Fototechnik und in industriellen Anwendungen verankert wurde. Genauer gesagt: Diese Normkarten sorgten dafür, dass hellhäutige Menschen im Film und auf Fotos deutlich sichtbar waren. Und umgekehrt führte dieselbe Technologie dazu, dass Menschen mit dunklerer Hautfarbe auf eine Weise abgebildet wurden, die ihre Züge verschattete und sie gewissermassen unsichtbar machte. Die Grundlagen der fotografischen Darstellbarkeit von Menschen hatten also offensichtlich eine unbewusst rassistische Schlagseite.

Führte das nicht schon früh zu Reklamationen?
Kritische Rückmeldungen von Kunden, die das geringe Farbspektrum der Hauttöne beanstandeten, gab es seit den 1950er Jahren. Die Anpassungen, die Firmen wie Kodak und Fuji darauf vornahmen, waren allerdings meist wirtschaftlich motiviert und nicht durch die Proteste von Lobbygruppen. Zu jener Zeit waren die Interessengemeinschaften mehr mit wirtschaftlichen Anliegen und mit Bürgerrechten beschäftigt als mit Ästhetik. Kameras wurden hauptsächlich zur Aufzeichnung von Familiengeschichten verwendet, und die meisten Menschen nahmen an, dass die Qualität ihrer Bilder das Ergebnis eines rein wissenschaftlichen Prozesses war, der auf den physikalischen Eigenschaften des Lichts beruhte.

In den Schwarzen Communitys ging man also davon aus, dass es rein physikalische Gründe hatte, wenn die eigenen Familienfotos nicht ansprechend waren?
Den Leuten war nicht bewusst, dass es nicht ihre Schuld war, dass ihre privaten Fotos die Feinheiten ihrer Gesichter nicht einfangen konnten. Sie vermuteten, dass sie einfach inkompetente Fotografinnen oder Fotografen waren, weil es ihnen an Ausbildung und Können fehlte. Dabei lag die Ursache dafür, dass die Details so schlecht wiedergegeben wurden, in Wirklichkeit darin, dass die analogen Filmemulsionen wie auch die frühen Digitalkameras nicht für dunklere Haut konzipiert waren. Schwarze mussten entweder selbst innovativ sein und mit kompensatorischen Strategien experimentieren, um die Qualität von Hauttönen zu verbessern – oder sie mussten warten, bis die Kritik so verbreitet war, dass sich die Industrie aus finanziellen Überlegungen dazu veranlasst sah, in Forschung und Entwicklung für inklusivere Produkte zu investieren.

Wann war es so weit, dass die Fotolabors das Problem erkannten?
Erst nach vielen Rückmeldungen im Zuge der Aufhebung der Segregation in den USA. Damals wurde den Fotolabors bewusst, dass die Technik sehr mangelhaft war, was die Wiedergabe von Details dunkler Hauttöne anging. Man erkannte, dass man das kompensieren und technische Verbesserungen entwickeln musste. Um diese Defizite ihrer Filme zu kompensieren, empfahlen die Fotolabors eine stärkere Beleuchtung, kürzere Verschlusszeiten, ein für dunkle Hautfarben geeignetes Make-up und grössere Blendenöffnungen. Angewandt wurde das schliesslich von Auftragsfotografinnen, meist aus der afroamerikanischen Bevölkerung. Diese hatten noch vor den Herstellern herausgefunden, wie sie Fotos von Personen mit dunkler Hautfarbe so erstellen und bearbeiten mussten, dass sie schön wirkten.

Und die Industrie zog dann nach?
Es gab mehrere Faktoren, die Kodak dazu veranlassten, Änderungen an der Chemie seiner Filmemulsionen und später seiner Shirley-Karten vorzunehmen. 1959 zum Beispiel beschwerten sich die Eltern von Schülerinnen und Schülern einer Highschool in Rochester, New York, bei Kodak. Sie beanstandeten, dass die Schulfotos ihrer Kinder abstossend wirkten: In den Gesichtern Schwarzer Schülerinnen waren Details, wenn überhaupt, nur sehr schlecht zu erkennen, während das Weisse ihrer Augen und Zähne hervorstach. Bei Schülern mit heller Haut zeigten die Bilder viel mehr Details, sie wirkten aber überbelichtet. Bei Kodak war man besorgt über diese Kritik der Eltern, und man begann sich zu fragen, wie man das Problem in den Griff bekommen könnte.

Und fand man eine Lösung dafür?
Erst in den 1970er Jahren. 1974 gingen bei Kodak Beschwerden von Holzmöbel- und Schokoladenherstellern ein, die sich über den Mangel an dynamischen Abstufungen in den Brauntönen auf ihren Anzeigen beklagten. Es war schwierig, zwischen Milch- und dunkler Schokolade sowie zwischen dunklen und hellen Holzmaserungen zu unterscheiden. Als Kodak seiner Chemie mehr Brauntöne hinzufügte, führte das ganz nebenbei dazu, dass auch die Feinheiten von Gesichtern mit dunkleren Hauttönen viel besser wiedergegeben wurden. Der Unterschied war enorm – theoretisch, aber noch nicht in der praktischen Anwendung. Tatsächlich dauerte es noch zwei Jahrzehnte, bis Kodak öffentlich reagierte. Um 1996 herum produzierten dann Richard Wien und sein Team bei Kodak die erste multiethnische Referenzkarte, die eine schwarze, eine asiatische und eine weisse Frau zusammen zeigte. Wobei sie diese weiterhin «Shirley-Karte» nannten, als nostalgisches Echo ihrer Anfänge.

Die Agentur Getty Images produzierte später ein Referenzbild, das drei Frauen mit einem breiten Spektrum an Hautfarben zeigt, zusammen mit einem Känguru für die Graustufen und bunten Haushaltsgegenständen.
Dieses Bild ist für mich immer noch ein herausragendes Beispiel für eine inklusive Referenzkarte. Die allmähliche Erweiterung vom traditionellen Shirley-Einzelbild hin zu einer umfassenderen Palette mit Hauttönen, Tierfellen, Farbbalken, Graustufen und einem Regenbogen von Objektfarben bietet mit ihren Farbbeispielen eine viel realistischere Repräsentation internationaler Bevölkerungsgruppen. Der dynamische Farbbereich war viel grösser als bei den früheren Ein-Personen-Karten. Die Shirley-Karten, die jeweils im Umlauf waren, kann man so fast linear in Beziehung setzen zur Bürgerrechtsbewegung, zu Desegregation und Integration, zur Einwanderung und zum Multikulturalismus. Im Design einer visuellen Technologie ist immer sichtbar, wer diese gestaltet – seine oder ihre Werte und Vorurteile sind der Chemie des analogen Films und den Algorithmen digitaler Kameras eingeschrieben.

Inzwischen hat Getty dieses Muster der Inklusion als Referenzbild aber wieder zurückgezogen. Wie erklären Sie sich das?
Ich bin mir nicht sicher, warum sie beschlossen haben, es aus dem Verkehr zu ziehen. Vielleicht kam man zum Schluss, dass es angemessener, einfacher und auch billiger wäre, wenn jedes einzelne Labor seine eigenen Shirley-Karten erstellen würde, die die tatsächliche multiethnische Zusammensetzung der Bevölkerung vor Ort widerspiegelten. Oder man sah das Risiko, dass durch die Getty-Karte doch wieder ein neuer einziger Standard zementiert würde – einer, dessen Vielfalt auf die in dieser speziellen Karte enthaltenen Beispiele beschränkt bleibt und der dabei immer noch mehrere Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichen Hautfarben auslässt. Was wir auch nicht vergessen dürfen: Diese Karten waren anfangs sehr teuer in der Herstellung und im Vertrieb. Wenn Labors ihre eigenen Karten erstellten, konnten sie damit nicht nur die lokalen Identitäten besser widerspiegeln, es verursachte auch weniger Kosten für die Industrie. Die Nachfrage nach einer vordefinierten, singulären Norm nahm also ab, dafür stieg das Interesse an einem flexiblen Kartendesign, das auf lokalen kulturellen Referenzbildern beruht.

Warum ist es überhaupt wichtig, dass man nicht nur die strukturelle Ungleichheit in der Fotografie betrachtet, sondern auch die Technologie, auf der sie beruht?
Bis vor kurzem richtete sich die Kritik an der Fotografie mehrheitlich auf die Defizite auf der Ebene der Repräsentation, etwa die Tatsache, dass ethnische, geschlechtliche und andere Minderheiten unterrepräsentiert sind. Auf einer tieferen Ebene liegt dieser Mangel aber bis zu einem gewissen Grad in einem technischen Apparat begründet, der unbewusst so konzipiert ist, dass eine einfache Wiedergabe dunklerer Hauttöne damit nicht möglich ist. Man kann visuelle Apparate nicht mehr als politisch unschuldig oder neutral betrachten. Mittlerweile ist bekannt, dass helle Hautfarbe in früheren Versionen von Filmemulsionen und in den Farbwerten von Digitalkameras als Standard eingeschrieben war. Das ist heute nicht mehr umstritten. Und es sollte ein Menschenrecht sein, dass die moderne Technologie alle gleichberechtigt und so fair wie möglich darstellt. Stellen Sie sich das als eine Form von ästhetischer Gerechtigkeit vor.

Dieses Interview ist in einer längeren Version zuerst auf Englisch in der Zeitschrift «[kon]. Magazin für Literatur und Kultur» erschienen. www.kon-paper.com. Übersetzung und Bearbeitung: Florian Keller.

Lorna Roth

Die emeritierte Professorin für Kommunikationswissenschaft lehrt an der Concordia University im kanadischen Montreal. Lorna Roth ist Autorin von «Something New in the Air. The Story of First Peoples Television Broadcasting in Canada» (2005). Derzeit arbeitet sie an einem Buch mit dem Titel «Colour Balance. Race, Technologies, and ‹Intelligent Design›».