Wissenschaft: Eine Frage der Glaubwürdigkeit

Nr. 19 –

Ein Verlag mit Hauptsitz in Basel mischt die akademische Publizistik auf. Nutzt MDPI den Publikationsdruck von AkademikerInnen aus? Oder tut der Branche eine Auffrischung gut? Die Meinungen gehen auseinander.

Eigentlich ist Geschwindigkeit die grosse Stärke von MDPI. Für eine Firma, die 2020 zu einem der weltgrössten akademischen Open-Access-Verlage aufstieg, zigtausende Artikel veröffentlicht und über vierzig neue Fachzeitschriften lanciert hat, ist MDPI aber ganz schön schwer erreichbar. Über die offizielle Telefonnummer gelangt man tagelang bloss zum Anrufbeantworter, die Nachricht auf Band wird nicht erwidert, per Kontaktformular zugestellte Fragen bleiben unbeantwortet. MDPI hat seinen Hauptsitz in Basel, im schmucken Gellert-Quartier, ist hinter dieser Adresse aber schwer greifbar.

Der Verlag hat in der akademischen Welt zuletzt für einigen Wirbel gesorgt. Vor allem wegen seines Wachstums: Gemäss Jahresbericht 2020 stieg die Zahl der veröffentlichten Artikel von 36 000 im Jahr 2017 auf 165 000 im letzten Jahr. Sie erschienen in mittlerweile über 300 Journals, wie akademische Fachzeitschriften genannt werden. Jene von MDPI tragen meist generische Namen wie «Physics», «Biology», «Viruses» oder «Social Sciences». Und sie entstehen in hohem Tempo: Vom Einreichen bis zur Onlinepublikation eines Artikels dauerte es im letzten Jahr gemäss Eigenangaben durchschnittlich 35 Tage.

Unter WissenschaftlerInnen gehen die Meinungen zu MDPI auseinander, auch in der Schweiz. Zu den KritikerInnen gehört Jochen Markard, der an der ETH und der ZHAW in Zürich zu nachhaltiger Transformation forscht. «Das Geschäftsmodell von MDPI untergräbt die wissenschaftliche Integrität», sagt er. Weil der Verlag sein Geld mit Quantität statt Qualität verdiene, bestehe die Gefahr, dass jeder Artikel, für dessen Veröffentlichung bezahlt werde, auch erscheine. «So werden grundlegende wissenschaftliche Standards des Peer Reviewing verletzt», sagt Markard. Peer Reviewing ist für die Qualitätssicherung zentral: Jeder Artikel muss von mehreren FachkollegInnen mit spezifischer Expertise begutachtet werden. Ein Prozess, der oft viele Monate dauere, wie eine ehemalige Journal-Herausgeberin erklärt. Allein die Suche nach geeigneten ReviewerInnen brauche viel Zeit, und meist seien mehrere Überarbeitungsschlaufen nötig, bis ein Artikel publikationsreif sei.

Das Businessmodell von MDPI liegt in der schieren Masse an Publikationen. Alle Journals folgen dem Open-Access-Modell, sind also frei zugänglich. Finanziert werden die Artikel via Gebühren, die von den AutorInnen selbst oder von den akademischen Institutionen, bei denen sie angestellt sind, bezahlt werden. 1180 Schweizer Franken hat laut Jahresbericht die Veröffentlichung eines Artikels 2020 durchschnittlich gekostet. Simpel hochgerechnet sollte der Verlag 2020 also über 190 Millionen Franken eingenommen haben.

Innovativ oder missbräuchlich?

Eine positive Sicht auf MDPI hat Philipp Aerni, interdisziplinärer Sozialwissenschaftler und Dozent an der ETH, der Universität Zürich und der Universität Basel. Als Bereichseditor ist er Mitglied der über 2000-köpfigen Redaktion von «Sustainability», eines der am schnellsten wachsenden MDPI-Journals: «Für die Autoren ist es unglaublich wertvoll, dass die Artikel innert kurzer Zeit online verfügbar sind», sagt er. Demgegenüber seien die etablierten Verlage oft träge. Auch in ihrer Ausrichtung: So würde Forschung, die über fächerspezifische Grenzen hinwegsehe, in renommierten Journals keine Beachtung finden: «Wehe, man stellt die theoretischen Grundannahmen der eigenen Zunft infrage.» Für Aerni ist MDPI deshalb auch eine Chance für innovative Forschung.

Ein Blick in Onlineforen zeigt, dass die Verunsicherung über MDPI unter AkademikerInnen mitunter gross ist. Handelt es sich um einen «Predatory Publisher», einen missbräuchlichen Herausgeber, der Kapital aus dem schlägt, was unterm Slogan «Publish or perish» (Publiziere oder gehe unter) bekannt ist? Wer eine Karriere anstrebt, steht unter riesigem Druck, regelmässig zu publizieren. Und während der Platz in renommierten Journals arg begrenzt ist, schöpfen daneben immer mehr Onlinepublikationen das stetig wachsende Angebot an Artikeln ab. Zusätzlich hat sich das Open-Access-Modell immer stärker etabliert – auch im Kontext wissenschaftspolitischer Fragen wie Zugänglichkeit öffentlich finanzierter Forschung oder Durchlässigkeit des akademischen Betriebs. Viele universitäre Institutionen unterstützen das Modell mittlerweile, indem sie Publikationsgebühren übernehmen.

Im umkämpften Wettbewerb hat sich MDPI innert weniger Jahre als einer der Marktleader positioniert. Einst aus dem Verein Molecular Diversity Preservation International hervorgegangen, steht MDPI seit 2010 auch für ein profitorientiertes Unternehmen namens Multidisciplinary Digital Publishing Institute. Beides hat Shu-Kun Lin mitgegründet, ein Chemiker mit Wohnsitz in Riehen BS, der an der ETH doktorierte. Neben dem Hauptsitz unterhält MDPI elf weitere Büros: sechs davon in Europa, drei in China, eins in Japan und eins in Kanada.

Grosses Qualitätsgefälle

Der Erfolg des Verlags beruht darauf, dass er sehr dezentral organisiert ist. Weltweit über 84 000 AkademikerInnen engagieren sich gemäss Eigenangaben mittlerweile für den Verlag: Als ChefredaktorInnen der Journals, als Mitglieder von deren teilweise riesigen Redaktionsleitungen oder als GasteditorInnen von Sonderausgaben. Auch in der Schweiz sind viele von ihnen tätig. Die Schilderungen jener, die der WOZ antworteten, zeichnen ein Gesamtbild des Systems MDPI: Die WissenschaftlerInnen sind mehr oder weniger lose miteinander vernetzt, sie initiieren oder betreuen relativ eigenständig themenspezifische Ausgaben, kontaktieren mögliche AutorInnen. Und sie wählen aus ellenlangen Datenbanken ReviewerInnen aus, die höchstens zwei Wochen Zeit haben, einen Artikel zu begutachten. All diese Funktionen werden unentgeltlich ausgeübt, wie es üblich ist bei wissenschaftlichen Publikationen. Zuweilen erhalten sie Rabattgutscheine für eigene Publikationen.

Während die redaktionellen Abläufe sehr eigenständig ablaufen, behält der Verlag die Fäden anderswo strikt in der Hand. Zum einen bei der technologischen Infrastruktur, die er zur Verfügung stellt: Das Peer Reviewing läuft über Onlineformulare, in denen inhaltliche Rückmeldungen verfasst werden können und sich anklicken lässt, ob ein Artikel abgewiesen oder durchgewunken werden soll und ob grosse oder kleine Überarbeitungen nötig sind. «Sobald eine Deadline näherrückt, melden sich per Mail sogenannte RedaktionsassistentInnen, etwa aus Rumänien oder China», erklärt ein Tourismusforscher, der für MDPI Peer Reviews macht. Eine Wirtschaftsprofessorin, die für ein MDPI-Journal als Editorin amtete, schätzt gerade diesen Zeitdruck: Die Prozesse bei anderen Journals könnten ganz schön frustrierend sein.

Die dezentrale Organisation lässt aber auch ein grosses Qualitätsgefälle zu. Dies befand Mitte April auch der Wirtschaftswissenschaftler Paolo Crosetto in einem Blogeintrag unter dem Titel: «Ist MDPI ein Predatory Publisher?» Sein Fazit: Der Verlag veröffentliche durchaus hochwertige Forschung, und die Rückweisungsquote lasse auf eine gewisse Qualitätsschwelle schliessen. Crosetto schreibt aber auch: Der Verlag lasse zu, dass im Windschatten angesehener Publikationen auch unseriöse Praktiken angewandt würden; massenhafte Aufrufe zum Einreichen von Artikeln etwa, die teils als Spam wahrgenommen würden und auch völlig fachfremde AkademikerInnen erreichten. Bekannt sind auch mehrere Skandale: So etwa publizierte ein psychologisches Fachmagazin wiederholt rassistische Studien. Auch traten RedaktorInnen zurück, weil sie sich vom Verlag dazu gedrängt sahen, mittelmässige Artikel zu publizieren.

Dass nicht alle MDPI-Artikel dieselbe Qualität haben, will auch Philipp Aerni nicht ausschliessen. «Da kann durchaus auch Schrott dabei sein», sagt er, «aber Schrott wird auch in anderen Verlagen produziert.» Negative Einzelfälle würden zwar die Aussenwahrnehmung stärker prägen als positive, aber seine eigene Reputation sieht er dadurch nicht gefährdet: «Letztlich geht es da auch um Eigenverantwortung. Alle Editoren haben ein Interesse daran, dass ihre Publikationen gut sind – denn dort steht am Ende auch ihr Name drauf.»

Jochen Markard sieht das anders: «Verlage wie MDPI untergraben die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft.» Dabei sei es gerade in Zeiten von Fake-News-Debatten und Verschwörungstheorien wichtig, sorgsam mit dieser umzugehen. In seinen Augen spielt dabei auch die öffentliche Hand eine problematische Rolle: «Es ist ein Skandal, dass die ETH und andere Schweizer Universitäten die Praktiken von MDPI unterstützen, indem sie die Publikationsgebühren übernehmen.»