Buchkultur: Was dem elektronischen Buch alles abgeht

Nr. 17 –

Man muss keinen absoluten Gegensatz zwischen gedruckter und digitaler Wissensvermittlung konstruieren. Aber ein paar Vorbehalte gegen Letztere sind schon angebracht. Michael Hagner untersucht in einer glänzenden Studie das Schicksal des Buchs und der Geisteswissenschaften.

Dieser Geruch, dieses Knistern der Seiten: Bücher. Foto: Ursula Häne

Nicht jedermann liebt Bücher. Die Kritik am zwischen zwei Pappdeckeln ruhenden Wort ist so alt wie der Buchdruck selbst – das unter anderem zeigt der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner in seinem Rundumschlag «Zur Sache des Buches». Zunächst zeichnet er das Bild eines schon alten Kulturkampfs zwischen den Verfechtern des Gedruckten und bücherhassenden Technikeuphorikerinnen. In den sechziger Jahren hatte Marshall McLuhan prophetisch das «Ende der Gutenberg-Galaxis» ausgerufen, und die Entwicklung der digitalen Technologien scheint ihm und all denjenigen, die insgeheim immer schon auf eine Befreiung von den Begrenzungen des Buchs hoffen, recht zu geben.

Hagner selbst schlägt sich nicht eindeutig auf eine der Seiten – pro Netz, gegen das Buch oder umgekehrt. Er will abwägen, lässt sich sehr weit aufs Digitale und seine Möglichkeiten ein, um die derzeitige Lage des Buchs, genauer gesagt des geisteswissenschaftlichen Buchs, zu befragen. Das hat eine gewisse Dramatik, denn im Gegensatz zu den Natur- und Technikwissenschaften hängen die Geisteswissenschaften an der Monografie als ihrer wesentlichen Ausdrucksform. Der Niedergang des Buchs wäre zugleich auch einer der Geisteswissenschaften in der Form, wie wir sie kennen.

Im Wissenschaftsbetrieb haben sich in den letzten Jahrzehnten der kurze Journalartikel sowie die Digitalisierung und Onlineverwaltung von Texten extrem schnell und schlagkräftig durchgesetzt. Erkenntnisse sollten frei zugänglich sein – das ist die Idee, und sie klingt gut. Was Hagner im zentralen Kapitel seiner Untersuchung über Open Access in diesem Bereich schreibt, kann einem jedoch eine Gänsehaut über den Rücken jagen. Denn er zeigt – akribisch recherchiert –, wie das, was als Demokratisierung des Wissens verkauft wird, zur gnadenlosen Geschäftemacherei einiger zu Megakonzernen mutierter Verlage verkommen ist, wobei die Geisteswissenschaften in Konkurrenz zu den Science-Technology-Medicine-Publikationen überhaupt kein Land mehr sehen.

Fürstlich bezahlte Verlage

Digitalisierung macht das Publizieren nicht billiger, im Gegenteil. Die Wissenschaftsverlage treiben die Preise masslos in die Höhe und lassen sich ihre Onlinejournale von Autorinnen und Abonnenten fürstlich bezahlen. Die Gewinnspanne des Verlagsgiganten Elsevier, so steht es trocken bei Hagner, sei mittlerweile grösser als die des Erdölkonzerns Exxon Mobil. Fette Zuwächse stehen weiter in Aussicht, da sich die Zahl der wissenschaftlichen Publikationen alle fünfzehn Jahre verdoppelt. Das hehre Ideal des Open Access verkümmere, so Hagner, durch die Gier einer heiss laufenden Wissensindustrie genauso wie durch die Bevormundung staatlicher Förderinstitutionen, die mittlerweile zur raschen Onlinepublikation von Forschungsergebnissen verpflichten, womit sie einigen Schaden anrichten. Auch der Schweizerische Nationalfonds (SNF) und der österreichische Wissenschaftsfonds FWF bekommen bei Hagner ihr Fett weg.

«Zur Sache des Buches» öffnet ein ganzes Universum. Auch wenn das Thema Wissenschaftspublikation sehr speziell ist, erfährt man viel über generelle Veränderungen und nationale Eigenheiten im Verlagswesen, die goldenen Zeiten des Buchs, die Bildungs- und Lesekulturen, die Mechanismen des Informationskapitalismus. Als grundsätzlicher Einwand Hagners gegen das Digitale bleibt vor allem im Gedächtnis, was er als den «chromosomalen Schaden» von E-Book und Open-Access-Publikationen bezeichnet: Sie sind «jederzeit lokalisierbar, beobachtbar und tilgbar». Wer weiss, was die grossen Verlagskonzerne anstellen, um Gewinne zu maximieren, wird ihnen und dem World Wide Web als unbegrenztem Lieferanten und Speicher von Wissensinhalten nicht mehr so ganz vertrauen.

Wie ist es nun aber um das gedruckte Buch bestellt? Hagner bleibt hier vorsichtig. Für viele Formen des Lesens, für rasches Überfliegen, Scannen, Sichorientieren sei die digitale Form genau richtig. Doch das hochkomplexe analytische Lesen, ein Lesen «mit zarten Fingern und Augen», wie Nietzsche es nannte, gelinge am angemessensten immer noch mit dem gedruckten Wort. Gedankliche Sorgfalt braucht die Zeitverzögerung durchs Papier, und sie profitiert auch – so mutmasst Hagner – von der Einheit und der «physiognomischen Individualität» des Buchs.

Gründlichkeit braucht Zeit

Ohne in kulturpessimistische Klage zu verfallen, hat Hagner ein starkes Plädoyer zugleich für das Buch und die Geisteswissenschaften verfasst. Denn diese artikulieren sich wesentlich über das gründliche Verfassen und Lesen von Texten. Das braucht Zeit. In dieser Langsamkeit, in der Sorgfalt des Gedankens – im guten Buch also – liegt ein Widerstandspotenzial gegen die rasche Ökonomisierung des Wissens.

Hagners Buch geht da mit gutem Beispiel voran. Denn es ist exzellent geschrieben, es ist klug, dicht, gut recherchiert und bewusst komponiert. Es enthält auch genau jenen typischen Schuss artistischer Eleganz, der den bibliophoben ZeitgenossInnen schon immer ein Dorn im Auge war. Wer sich für den Zusammenhang von Verlagswesen, Wissenschaftsentwicklung und Digitalisierung interessiert, sollte dieses Buch lesen. Am besten auf Papier.

Michael Hagner: Zur Sache des Buches. Wallstein Verlag. Göttingen 2015. 280 Seiten. 23 Franken