Die Macht der Imame: Das Sprachrohr des Präsidenten
Die türkische Religionsbehörde Diyanet hat sich unter Recep Tayyip Erdoğan zum Kontrollorgan entwickelt. Jüngst empörte sie nach dem grossen Beben mit Aussagen zu Kinderhochzeiten. Ein Vorabdruck aus dem Buch «Die gespaltene Republik».
Für Millionen Muslim:innen in der Türkei ist es ein Freudentag. Für viele Millionen Säkularist:innen hingegen ein Tag der Trauer: Am 24. Juli 2020 strömen Gläubige in Massen zum Gebet in den Istanbuler Stadtteil Fatih, auf die historische Halbinsel mit Topkapı-Palast, Hagia Sophia und Blauer Moschee. Sie strömen vorbei an Polizist:innen und Händler:innen, die Souvenirs mit der Jahreszahl 1453 verkaufen – dem Jahr, in dem die Osmanen Istanbul eroberten und die byzantinische Kirche Hagia Sophia in eine Moschee umwandelten. Zehntausende breiten rund um das weltberühmte, in den Jahren 532 bis 537 unter Kaiser Justinian erbaute Gebäude ihre Gebetsteppiche aus. Am Mittag erschallen erstmals seit 1935 wieder Gebetsrufe von den Minaretten der Hagia Sophia. Immer wieder hört man den Ruf: «Gott ist gross!»
Im Inneren des einzigartigen, fast 1500 Jahre alten Sakralbaus, der zum Weltkulturerbe gehört, empfängt Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan Hunderte geladene Gäste. Der Vorsitzende der Religionsbehörde Diyanet, Ali Erbaş, hält eine symbolträchtige Freitagspredigt – die erste seit 85 Jahren. Wegen des islamischen Bilderverbots bedecken während des Gebets weisse Vorhänge die Mosaike, die christliche Motive zeigen. Während der Imam von der Kanzel spricht, hält er ein Schwert in seinen Händen – ein Verweis auf Sultan Mehmed Fatih II., den «Eroberer Konstantinopels», der damaligen Hauptstadt des byzantinischen Reichs.
Staatsgründer Atatürk hatte die prachtvolle Hagia Sophia 1935 von einer Moschee zu einem Museum umfunktionieren lassen. Damit wollte er ein starkes Zeichen für den von ihm deklarierten Laizismus setzen. Diese Entscheidung wird am 10. Juli 2020 um 14.53 Uhr vom Staatsrat aufgehoben. Erdoğan vollzieht eine Kehrtwende und macht seine Vorstellung eines muslimischen Staates augenfällig. Er sagt, ein «Jugendtraum» habe sich für ihn erfüllt. Tatsächlich sagte Erdoğan schon zu seiner Zeit als Bürgermeister von Istanbul mehrfach, er wünsche sich die Hagia Sophia als Moschee. Jetzt endlich kann er den islamischen Charakter der Republik unterstreichen und sich als Führungsfigur der Umma, der Gemeinschaft aller Muslim:innen, präsentieren. Erbaş predigt: «Die Sehnsucht unseres Volkes, die sich zu einer tiefen Wunde im Herzen verwandelt hatte, findet ein Ende.»
Glaubens-, aber keine Religionsfreiheit
Erbaş ist als Chef des Diyanet die oberste islamische Autorität des Landes. Das Diyanet (Diyanet İşleri Başkanlığı, Präsidium für Religionsangelegenheiten) ist die Religionsbehörde und damit eine Schlüsselinstitution der Republik. Ihre Rolle und ihr Auftreten haben sich in den vergangenen Jahrzehnten mit dem politischen Klima gewandelt. Als das Diyanet am 3. März 1924, am Tag der Abschaffung des Kalifats, gegründet wird, ist es nicht seine Aufgabe, den Triumph der Religion über das Weltliche zu zelebrieren. Ganz im Gegenteil: Die Religionsbehörde ist Ausdruck von Mustafa Kemal Atatürks glühendem Bestreben, die fest im Volk verankerte Religion zu steuern. Die Republik ist von Anfang an als säkularer Staat konzipiert. Religiöser Eifer wird als gefährlich angesehen. Atatürks Variante des Säkularismus verlangt staatliche Hegemonie über religiöse Angelegenheiten. Der türkische Nationalismus soll den Staat tragen, und nicht wie im Osmanischen Reich der Islam. Die Geistlichen sollen Bedienstete der Regierung sein, Institutionen des Islam werden in die Bürokratie eingebunden.
Von Anfang an richtet sich das dem Staatspräsidenten unterstellte Diyanet nur an die sunnitische Bevölkerung. Die Nichtsunnit:innen, von denen die Alevit:innen die grösste Gruppe darstellen, werden benachteiligt, der sunnitische Islam wird zum Staatsglauben aufgewertet. Eine genaue Übersicht über die in der Türkei lebenden Alevit:innen fehlt, doch es wird geschätzt, dass sich jede:r fünfte Bewohner:in zum Alevitentum bekennt. In der Republik gibt es Glaubensfreiheit, aber keine Religionsfreiheit. So werden die Alevit:innen nicht offiziell als Glaubensgemeinschaft anerkannt und erhalten dementsprechend keinerlei staatliche Unterstützung. Dennoch müssen auch die Alevit:innen mit ihren Steuergeldern das Diyanet mitfinanzieren. Auch deswegen hat es von alevitischer Seite schon Vorschläge gegeben, die Religionsbehörde aufzulösen.
Die Besonderheit des Diyanet besteht darin, dass die Politik den Glauben verwaltet, der dem Nationalstaat zu dienen hat. Sie ernennt die Imame, Prediger und Muezzins. Die Zentrale in der Hauptstadt arbeitet auch die Freitagspredigten aus und schickt sie den Moscheen zu, auch den ausländischen Gemeinden, die dem Diyanet angeschlossen sind. Die Behörde organisiert heute auch die Pilgerfahrten nach Mekka und bietet Korankurse sowie zahlreiche Bildungs- und Kulturaktivitäten an. Doch so weit gefasst waren ihre Aufgaben nicht immer.
In der Frühzeit der Republik, als diese ein Einparteienstaat war, funktionierte die Behörde als Verwaltungsorgan, und ihre Funktion beschränkte sich darauf, die Politik über religiöse Fragen zu informieren. Erst mit dem Wechsel zum Mehrparteiensystem 1946 wurde die konservative, religiöse Bevölkerungsmehrheit zu einem politischen Faktor. Die sozialdemokratische CHP musste ihren harten Säkularismus lockern. Die Partei erlaubte unter anderem teilweise den Religionsunterricht. Als Nächstes erweiterte der Ministerpräsident Adnan Menderes (DP, Demokrat Parti) nach seinem ersten Wahlsieg im Jahr 1950 die Entscheidungsspielräume der Religionsbehörde und stockte die finanziellen Mittel auf, weil er das Diyanet für seine Re-Islamisierungs-Agenda nutzte.
Wachsender Einfluss
Die zweite Phase des Diyanet beginnt mit dem Staatsstreich 1960 und endet mit der Regierungsübernahme durch die AKP 2002. In diesen Jahrzehnten wird der Einflussbereich der Behörde schrittweise von verschiedenen Regierungen erweitert. 1961 wird die Behörde in der Verfassung verankert, 1965 wird ihre Tätigkeit gesetzlich geregelt. Seit 1971 sind ihre Mitarbeiter:innen Staatsbeamte. Das Diyanet ist in dieser Zeit die einzige staatliche Behörde, in der Frauen ein Kopftuch tragen dürfen. Eine noch weitreichendere Rolle übertragen ihr die Militärs nach dem Putsch von 1980. Sie soll nun zur Festigung der nationalen Solidarität und Einheit beitragen. Die neue Regierung und das Militär betrachten die Religion als Bollwerk gegen die Linken, denn in den 1970er Jahren werden in der Türkei sozialistische und kommunistische Strömungen populär.
Mit der Machtübernahme durch die AKP beginnt die bis heute anhaltende dritte Phase des Diyanet. Der Haushalt der Behörde wird massiv aufgestockt, religiöse Themen werden immer enger mit der Politik verzahnt. Das macht etwa die Predigt in der Hagia Sophia mit Erdoğan und Erbaş besonders sichtbar oder auch Erbaş’ Erklärung nach dem Putschversuch von 2016, dass getötete Putschisten keine religiöse Beisetzung erhalten würden. Auch ein weiteres Ereignis hat grosse symbolische Bedeutung: Im September 2021 betet Erbaş bei der Eröffnung eines neuen Dienstgebäudes des Obersten Berufungsgerichts, während ihn Mehmet Akarca, Generalstaatsanwalt am Kassationshof, in seiner Robe begleitet.
Die Regierung fördert auch die Auslandsaktivitäten der Religionsbehörde. Es entstehen Moscheen vom Balkan bis nach Nordamerika. Die neu errichteten Gotteshäuser bezeugen den Macht- und Deutungsanspruch der AKP über die Grenzen des Landes hinaus. Das Diyanet unterstützt Versammlungen wie den Eurasia Islam Council, den Islamischen Rat der Balkanländer, den Muslim Summit der Länder Lateinamerikas und den Gipfel der afrikanischen Religionsführer. Ausserdem baut das Diyanet sein Angebot an Korankursen für Schüler:innen aller Altersgruppen drastisch aus. Gleichzeitig wächst das Diyanet beträchtlich. Hatte es im Jahr 2008 rund 83 000 Mitarbeiter:innen, überwiegend Imame, beschäftigt es 2020 bereits 128 000 Personen. Mit einem Budget von dreizehn Milliarden türkischen Lira (damals rund 1,5 Milliarden Franken) belegt die Behörde 2021 den 13. Platz unter vierzig öffentlichen Einrichtungen, die vom Haushaltsbudget profitieren.
Auch als Ratgeber in Glaubensfragen ist das Diyanet eine Autorität. So erteilt eine kostenlose telefonische Hotline Ratschläge und gibt Unterstützung bei Unsicherheiten. Ein Beispiel: Die Verwendung von Augentropfen während der Fastenzeit sei erlaubt, weil die geringe Menge an zugeführter Flüssigkeit weder als Essen noch als Trinken eingestuft werden könne. Internationale Schlagzeilen macht die Behörde, als sie 2015 feststellt, dass Toilettenpapier entgegen einer weitverbreiteten Meinung im Islam nicht verboten sei. Aufmerksamkeit erregt sie auch mit der Aussage, Lotterien und Tätowierungen sowie das Füttern von Hunden zu Hause verstiessen gegen den Islam. Das Zupfen von Augenbrauen oder der Kauf von Bitcoins sei ebenfalls unislamisch. Derlei Aussagen rufen in der Türkei vor allem in sozialen Netzwerken Spott hervor. Einige bezeichnen etwa die Empfehlung, die Augenbrauen unangetastet zu lassen, als «Pinzetten-Fatwa». Es gibt keine Pflicht, sich nach diesen Beurteilungen des Diyanet zu richten, doch Millionen Muslim:innen nehmen sie sehr ernst.
Während Atatürk die Behörde einst gegründet hat, um religiöse Praktiken zu kontrollieren, ist diese nun dazu übergegangen, vermeintlich westlichen Gepflogenheiten den Kampf anzusagen. So veröffentlicht das Diyanet am 30. Dezember 2016 auf seiner Website diyanet.gov.tr – wie immer freitags – eine Predigt, in der die Neujahrsfeiern als unislamisch kritisiert werden. Unter anderem heisst es: «Es ist bedenklich, dass die ersten Stunden des neuen Jahres mit zu anderen Kulturen und Welten gehörenden Neujahrsfeierlichkeiten zur Verschwendung missbraucht werden.» Es sei unziemlich für einen Gläubigen, «illegitimes Benehmen und Verhalten» zur Schau zu stellen. Dazu gehöre etwa ein Verhalten, das nicht mit «unseren Werten» übereinstimme.
Auch zur Gestaltung des Intimlebens hat die Behörde eine klare Vorstellung. So sagt Erbaş 2020, Homosexualität «bringt Krankheit und dieser Generation den Verfall». Hunderttausende seien wegen Homosexualität und Ehebruch dem HI-Virus ausgesetzt. Er ruft dazu auf, Menschen vor «dieser Art des Bösen» zu schützen. Erdoğan stärkt Erbaş gegenüber Kritikern den Rücken und mahnt, jeder Angriff auf Erbaş sei ein Angriff auf den Staat. Folgerichtig wird, weil die Anwaltskammer Ankara Erbaş wegen solcher Aussagen kritisiert, deren Vorsitzender angeklagt. Kurz darauf legt Erdoğan ein neues Gesetz vor zur Neuorganisation der Anwaltskammern im Sinne der Regierung.
Als nach dem verheerenden Erdbeben im Februar 2023 mit über 50 000 Toten die Frage aufkommt, ob die Waisenkinder zur Adoption freigegeben werden könnten und ob dies mit dem Islam vereinbar sei, lautet die streitbare Antwort des Diyanet: Adoption werde im Islam nicht als rechtlicher Status anerkannt. Aus diesem Grund, so heisst es, seien adoptierte Kinder auch nicht erbberechtigt. Es bestehe jedoch kein Heiratshindernis zwischen Adoptivkindern und ihren Adoptiveltern. In einem Land, in dem Aktivist:innen seit langem religiöse Hochzeitszeremonien mit minderjährigen Mädchen bekämpfen, war die Empörung sofort spürbar. So werde der Weg für Kindesmissbrauch geebnet, hiess es von Kritiker:innen. Die wenigen regierungskritischen Medien wie «Cumhuriyet» verwiesen auf die Diskrepanz zwischen der Fatwa und dem türkischen Zivilgesetzbuch, das Adoptivkindern erlaubt, von ihren Adoptiveltern zu erben, und die Ehe zwischen Adoptivkindern und ihren Stiefeltern verbietet. Die Union der türkischen Anwaltskammern kritisierte, mit seinem Rat verstosse das Diyanet gegen das heimische Gesetz. Angesichts solcher Reaktionen ruderte das Diyanet zurück. In einer zweiten Erklärung beschuldigte sie «Menschen mit bösem Willen», das Geschriebene verzerrt zu haben.
Versuche der Instrumentalisierung
Über die Jahrzehnte hinweg haben die Regierungen verschiedentlich versucht, das Diyanet für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. So geriet die Behörde zur religiösen Legitimierungsinstanz politischer Ziele. 1991 unterstützte sie die Einführung der repressiven Antiterrorgesetze. Die Imame riefen zum Gebet für die im Südosten im Kampf gegen die kurdischen Rebell:innen gefallenen Soldaten auf. Als die türkische Armee im Januar 2018 im nordsyrischen Afrin einmarschiert, empfiehlt das Diyanet, für den Sieg türkischer Soldaten zu beten. Im Februar 2018 erhalten alle Moscheen eine Freitagspredigt zum Thema Dschihad zugeschickt.
Bis Ende 2010 leitet der als liberal geltende Ali Bardakoğlu das Diyanet, er ist noch vom säkularen Präsidenten Ahmet Necdet Sezer ernannt worden. Während Bardakoğlus Amtszeit hält sich das Diyanet weitgehend aus politischen Fragen heraus. Als Erdoğan 2010 wieder einmal eine Lockerung des Kopftuchbanns anstrebt, weigert sich Bardakoğlu, muslimischen Frauen das Tragen des Kopftuchs zu empfehlen. Er betont, dass dies keine Anforderung der Religion und keine Bedingung für die Zugehörigkeit zur islamischen Gemeinschaft sei. Auch den Alevit:innen gegenüber zeigt er sich aufgeschlossen und schlägt vor, diese in das Diyanet zu integrieren. Bardakoğlu wird kurz darauf entlassen und durch Mehmet Görmez ersetzt, der sich den Wünschen der AKP-Führung gegenüber aufgeschlossener zeigt und dafür grosszügig belohnt wird.
Unter Erdoğan, der von einer frommen Generation träumt, werden die Leiter des Diyanet zu seinen Sprachrohren. Als 2015 bekannt wird, dass Görmez ein Dienstauto für mehr als 300 000 Euro erhalten haben soll, verteidigt Erdoğan dies mit den Worten: «Mehmet Görmez ist nicht nur der religiöse Führer der Türkei, er ist ein geschätzter religiöser Führer in der gesamten islamischen Welt.» Die AKP-Nähe des Diyanet wird immer wieder manifest. So äussert sich Görmez auch zur Hagia Sophia, also zu Erdoğans Jugendtraum, und erklärt: «Die Hagia Sophia ist keine Kirche, kein Museum, sondern das Heiligtum von Mehmed dem Eroberer und allen Muslimen.» Er ruft auch zur «Befreiung der Al-Aksa-Moschee» in Jerusalem auf und sagt 2014, dass es «keinen Unterschied zwischen Israel und dem IS» gebe, was die religiösen Lehren angehe, die zur Gründung der jeweiligen Staatsgebilde geführt hätten. Görmez’ Tiraden fallen in eine Zeit, in der auch die Regierung gegen Israel austeilt: Im Sommer desselben Jahres greift Erdoğan Israel mit einem Hitler-Vergleich verbal an, was eine israelische Reisewarnung für die Türkei nach sich zieht.
Im Jahr 2014 unterstützt die offizielle Diyanet-Predigt, die kurz vor den Kommunalwahlen an die Moscheen in der ganzen Türkei verschickt wird, die von der AKP verhängten Verbote von Twitter und Youtube. Und am Tag vor den Parlamentswahlen 2015 fordern Imame ihre Gläubigen auf, nicht für «bestimmte Parteien», sondern für «die Muslime» zu stimmen. Doch 2017, nach dem Putschversuch, muss auch Görmez seinen Posten räumen: Mutmassungen zufolge soll es auch im Diyanet zahlreiche Anhänger:innen der Gülen-Bewegung gegeben haben, wofür Görmez als Leiter ein Teil der Verantwortung zugeschrieben wurde.
Bis zur Einführung des Präsidialsystems 2018 wird der Präsident des Diyanet vom Ministerpräsidenten vorgeschlagen, vom Kabinett bestätigt und schliesslich vom Präsidenten der Republik ernannt. Mit der Einführung des Präsidialsystems übenimmt Erdoğan die direkte Kontrolle über die Religionsbehörde. Nur kurz nach dem Referendum vom 16. April 2017, das Erdoğans neue Rolle festigt, verkündet er den Rücktritt von Görmez. Auch dessen Stellvertreter wird überraschend und ohne Angabe von Gründen seines Amtes enthoben. Die beiden sollen sich gegen die direkte Einmischung der Regierung in das Diyanet ausgesprochen haben. Also macht Erdoğan den Rektor der Yalova-Universität, Ali Erbaş, zum neuen Diyanet-Chef. In seiner ersten Rede in dieser Funktion zieht Erbaş eine Linie von Fethullah Gülen und seinen Anhänger:innen zum Säkularismus. Es sei wichtig, die «terroristische Organisation» zu bekämpfen und das Erbe aller Märtyrer zu pflegen, die ihr Leben im Widerstand gegen den gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 gelassen hätten.
Ableger in Westeuropa
Das Diyanet ist auch im Ausland ein Dienstleister und Kontrollorgan Ankaras. Weil zu Beginn der türkischen Migration nach Europa nicht absehbar war, dass die Arbeiter:innen mehrheitlich dort bleiben würden, beginnt sich das Diyanet erst Anfang der 1980er Jahre für die Auslandtürk:innen zu interessieren. So werden beispielsweise 1982 in den Niederlanden die Islamitische Stichting Nederland und in Belgien das Diyanet de Belgique ins Leben gerufen. In Deutschland entsteht 1984 die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (Ditib), der mittlerweile mehr als 900 Moscheegemeinden angehören und die auch Partnerin der Bundesregierung ist. Auch in Dänemark und der Schweiz entstehen 1985 entsprechende Strukturen.
In Deutschland ist die Ditib der grösste Islamverband des Landes. Er sorgt immer wieder für Schlagzeilen, etwa nach dem Putschversuch von 2016. Zahlreiche deutsche, aber auch einige türkische Medien berichten darüber, dass die Imame in den Moscheen für die Regierung Gläubige bespitzeln. «Diyanet ist wie MIT», war in der «Cumhuriyet» zu lesen – MIT ist die Abkürzung für den türkischen Geheimdienst. Die in den Ditib-Moscheen predigenden Imame werden vom Diyanet nach Deutschland entsandt, sie haben einen Beamtenstatus. Diese Geistlichen sollen von Moscheebesucher:innen Informationen gesammelt und nach Ankara weitergeleitet haben, um Gülen-Anhänger:innen ausfindig zu machen. Im August 2018 wird bekannt, dass in Ditib-Moscheen für den Einmarsch türkischer Soldaten in Nordsyrien gebetet wird, wo die Türkei gegen die syrischen Volksschutzeinheiten YPG vorgeht, die als Ableger der PKK gelten. Als im September 2018 in Köln die Ditib-Zentralmoschee eröffnet wird, hält Erdoğan die erste Rede.
Das Diyanet ist längst nicht mehr «nur» eine Religionsbehörde, sondern auch ein riesiges Unternehmensgeflecht, das Millionenumsätze macht. Die zum Diyanet gehörende Religionsstiftung (Diyanet Vakfı) betreibt Firmen, die in zahlreichen Segmenten mitmischen. «Keine Stiftung, sondern eine riesige Holding», schreibt die regierungskritische Tageszeitung «Birgün» über die Stiftung des Diyanet, die 1975 als Wohltätigkeitsorganisation gegründet wurde und seit 1977 Steuerfreiheit geniesst. Einnahmen erzielt sie unter anderem mit religiösen Veranstaltungen wie den Hadsch- und Umrah-Pilgerfahrten, mit der Vergabe von Halal-Zertifikaten für Lebensmittel sowie über das angegliederte Unternehmen Komas A. Ş. Dieses gab mit der Mitwirkung an der berühmten Kocatepe-Moschee in Ankara sein Debüt im Bausektor und realisierte seitdem Hunderte Bauten im In- und Ausland – darunter religiöse Schulen, Moscheen und Hotels. Das Tätigkeitsfeld von Komas beschränkt sich jedoch nicht auf den Bausektor, sondern umfasst auch Tourismus- und Reisebüros sowie Bildungseinrichtungen und Kindergärten. Unter Erdoğan startete der Sender Diyanet TV, der weltweit empfangen werden kann.
Obwohl das Land unter einer schweren Wirtschaftskrise ächzt, wird das Budget des Diyanet stetig aufgestockt. Für das Jahr 2022 erhielt die Behörde laut Medienberichten über sechzehn Milliarden Türkische Lira (damals rund eine Milliarde Franken) – damit wuchs der Haushalt der Behörde im Vergleich zum Vorjahr um über 24 Prozent. Im selben Jahr stieg wegen des Kriegs gegen die Ukraine weltweit die Inflation, die in der Türkei an die achtzig Prozent heranreicht – aber auch dafür hat das Diyanet eine Erklärung: «Ohne Zweifel ist es ausschliesslich Gott, der die Preise festlegt, der ernährt, der Mangel beschert wie auch Fülle», heisst es in einer Fatwa auf die Frage, wer für die Preissteigerung verantwortlich sei.
«Die gespaltene Republik»
Cigdem Akyol ist Redaktorin im Ressort International der WOZ. Der vorliegende Text ist ein Auszug aus ihrem neuen Buch, «Die gespaltene Republik. Die Türkei von Atatürk bis Erdoğan», das am 26. April im S. Fischer Verlag erscheint. Akyol erzählt darin die Geschichte der Republik, die im Oktober ihr hundertjähriges Bestehen feiert. Im Buch kommen auch Menschen aus der Türkei zu Wort, die persönliche Erfahrungen schildern, unter anderen die Journalisten Bülent Mumay und Can Dündar, die Feministin Büşra Cebeci und der ehemalige Aussenminister Yaşar Yakış.
Cigdem Akyol: «Die gespaltene Republik. Die Türkei von Atatürk bis Erdoğan». S. Fischer Verlag. Frankfurt a. M. 2023. 400 Seiten. 39 Franken.