Opposition in der Türkei: Von wegen sozialdemokratisch

Nr. 50 –

Machthaber Recep Tayyip Erdogan und die regierende AKP verlieren an Zustimmung, auf den Strassen fordern Demonstrant:innen den Rücktritt der Regierung. Doch die kemalistische CHP stellt keine linke Alternative dar.

Die Lira verliert stetig an Wert, die Menschen müssen Tag für Tag noch knapper kalkulieren: Schlange vor einem Kaffeegeschäft in Istanbul. Foto: Moe Zoyari, Getty

Lange Schlangen vor Bäckereien und Tankstellen; immer mehr Türk:innen, die ihre Bankkredite nicht zurückzahlen können; ein schwindelerregender Wertverlust der Lira, spontane Strassenproteste und letzten Sonntag Demonstration in Istanbul und Ankara, bei denen Tausende «Hükümet Istifa!» rufen: Regierung, tritt zurück! Immer deutlicher zeigen sich in der Türkei die Auswirkungen der Wirtschaftskrise. Nicht nur politisch scheint Präsident Recep Tayyip Erdogan nach achtzehn Jahren an der Macht geschwächt zu sein: Seit Monaten kämpft der 67-Jährige gegen Gerüchte an, ernsthafte Gesundheitsprobleme zu haben und das Land eigentlich nicht mehr lenken zu können.

Je länger die Pandemie andauert, desto mehr sinken auch die Umfragewerte seiner AKP. So kommt die Regierungspartei gemäss der vergangene Woche veröffentlichten Umfrage eines Meinungsforschungsinstituts auf 24 Prozent, während die kemalistische CHP auf rund 26 Prozent Zustimmung zählen kann. Damit liegt die grösste Oppositionspartei zum ersten Mal seit Machtantritt der AKP 2002 vorne. Erdogan-Kritiker:innen jubeln bereits, das Ende der AKP sei gekommen. Doch bis zu den geplanten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Juni 2023 ist es noch hin – und nur weil die CHP sich als «sozialdemokratische Volkspartei» bezeichnet, ist sie keine linke Alternative. Im Gegenteil. Mit ihren Prinzipien und ihrem Kurs könnte sie die Rechtspopulist:innen anderer Länder nahezu rechts überholen.

Der Geburtsfehler der Republik

Aktuellstes Beispiel: Ende November setzte in der nordtürkischen Stadt Bolu der CHP-Bürgermeister Tanju Özcan durch, dass Ausländer:innen demnächst elfmal so hohe Wasserrechnungen zahlen sollen wie Staatsbürger:innen. Ausserdem sollen sie auf dem Standesamt satte 100 000 Lira, rund 7200 Franken, für die Eheschliessung hinlegen. Für Türk:innen kostet es wesentlich weniger. Özcan räumte ungeniert ein, dass diese Schritte Massnahmen seien, um «Ausländer» zu schikanieren, insbesondere die Syrer:innen: «Wenn ich die Autorität hätte, würde ich Gemeindebeamte einsetzen, um sie gewaltsam rauszuwerfen.» Damit folgt er der Linie seiner Partei, die seit Jahren gegen Geflüchtete Stimmung macht. So hat etwa CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu mehrfach angekündigt, «Syrer in ihre Heimat zurückzuschicken», sollte er die Regierung übernehmen.

Die CHP ist die älteste Partei des Landes, zeitgleich mit der Republik 1923 von General Mustafa Kemal Atatürk gegründet. Sie war ein westlich orientiertes Elitenprojekt, bestehend aus Militär- und Zivilbürokraten, die in ihr Parteiprogramm die «sechs Pfeile» des Kemalismus aufnahmen: Etatismus, Revolutionismus, Republikanismus, Populismus, Nationalismus und Säkularismus. Bis heute zieren die Pfeile das rote CHP-Emblem. Ein Geburtsfehler der Republik, denn die Demokratie wird nicht erwähnt. Der Laizismus grenzt die frommen Muslim:innen aus, der ethnische Nationalismus Minderheiten wie die Kurd:innen oder Armenier:innen. Atatürks säkulare Vision war ein staatlich befohlenes Programm, das einige wenige einer sich widerstrebenden, traditionellen Gesellschaft überstülpten. «Modern und muslimisch, westlich und osmanisch, europäisch und anatolisch. Die Türkei lebt mit vielen Identitäten. Sie fliessen ineinander, und zuweilen scheinen sie sich zu widersprechen», schreibt der deutsche Journalist Rainer Hermann in seinem Buch «Türkei». So koexistierten lange Zeit zwei Republiken nebeneinander: die wenigen säkularen Zentren und eine riesige religiöse Peripherie – und bis heute wurde die Sozialdemokratie nie der multiethnischen und der muslimischen Türkei gerecht.

Auch deswegen verlor die alte Elite bei den ersten freien Wahlen 1950 ihre Macht, und die Frommen übernahmen zwischenzeitlich das Steuer. Der Sieg von Adnan Menderes und seiner religiös-konservativen DP war der erste politische Durchbruch der Peripherie. Nach zwei weiteren gewonnenen Wahlen rebellierte schliesslich die Armee gegen Menderes’ islamischen Kurs und putschte ihn 1960 weg – 1961 wurde er von einem kemalistischen Sondertribunal mit stillschweigender Rückendeckung der CHP zum Tode verurteilt. In den folgenden vier Jahrzehnten stürzten die Streitkräfte, die wegen ihrer Gründungsgeschichte der CHP nahestehen, drei weitere Regierungen. Insgesamt hatte die Türkei zwischen 1923 und 2002 rund sechzig Regierungen. Die CHP konnte trotz gelegentlicher Übernahme nie Stabilität und einen lang anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung umsetzen, es ging stets darum, die eigenen Privilegien zu sichern und den Gläubigen und den Minderheiten gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe zu verwehren. Erst der sunnitisch-fromme Erdogan konnte diese zementierte Gesellschaftsstruktur endgültig aufbrechen.

Die Stärke Erdogans und der rechtskonservativen AKP sind auch eine Folge der Schwäche der CHP. Denn den ersten beachtlichen politischen Erfolgen Erdogans als Ministerpräsident konnte die Opposition keine Inhalte entgegenhalten, ausser ständig vor dessen «islamischem Fundamentalismus» zu warnen. Die hilflose Opposition wusste sich nicht anders zu helfen, als von der AKP beschlossene Gesetze regelmässig dem Verfassungsgericht vorzulegen. So gelang es der AKP erst 2008, das Verhüllungsverbot für Studentinnen aufzuheben. Zuvor hatte die CHP wegen Verstoss gegen das Laizismusprinzip geklagt und vom damals noch kemalistischen Verfassungsgericht Recht bekommen. Zu diesem Zeitpunkt leitete Erdogan bereits seit fünf Jahren das Land, das innenpolitisch so stabil dastand, wie es nie zuvor der Fall gewesen war.

Galten die Kemalist:innen einst als fortschrittlich, so politisierten sie nun vor allem reaktionär, während die neuen Konservativen einen beeindruckenden Reformeifer zeigten. So beschimpfte etwa der damalige CHP-Chef Deniz Baykal die Europäische Union als «imperialistisch», während die AKP sich in ihren ersten Regierungsjahren auf die Schaffung von Arbeitsplätzen sowie den Ausbau des Gesundheits- und des Sozialwesens konzentrierte und einen EU-Beitritt anstrebte. Weil die CHP starr in ihrem kemalistischen Korsett ausharrte, konnte sie sich auch nicht von innen reformieren. Deswegen erhielt die AKP gar regen Zulauf von säkularen Linken, die dem religiösen Erdogan plötzlich mehr zutrauten als den giftelnden CHP-Sozialdemokrat:innen. Auch national gesinnte Konservative und Kurd:innen wählten plötzlich die AKP, weil sie für einen möglichen wirtschaftlichen Aufstieg und eine wachsende Mittelschicht stand.

Rigider Nationalismus über allem

Seit elf Jahren steht nun Kemal Kilicdaroglu an der Spitze der CHP und hat bisher nicht eine einzige Wahl gewonnen. Sein Vorgänger Baykal, der von 1992 bis 2010 das Amt innehatte, trat erst ab, nachdem ein Video, das ihn bei einem ausserehelichen Techtelmechtel zeigte, im Internet veröffentlicht wurde. Während Baykal bissig und angriffslustig war, ist Kilicdaroglu eine blasse Gestalt, der es nicht gelungen ist, Erdogan etwas entgegenzusetzen, weder inhaltlich noch von der Schlagfertigkeit her. Auch jetzt kommt er bei Umfragen schlecht weg: Bei diesen wird von der CHP am ehesten den Bürgermeistern Mansur Yavas von Ankara und Ekrem Imamoglu von Istanbul eine Siegeschance gegen Erdogan zugetraut. Yavas war indes lange Zeit Mitglied der ultrarechten MHP und verliess diese erst, als sie ihn nach einer gescheiterten Bürgermeisterwahl in Ankara nicht mehr aufstellte.

Auch Kilicdaroglu ist es nicht gelungen, der CHP ein geschärftes, zeitgemässes Profil zu verleihen. Bis heute steht der rigide Nationalismus über allem. Als wichtigste Oppositionspartei kritisierte die CHP konsequent den mittlerweile wieder eingestellten Friedensprozess mit der verbotenen kurdischen Arbeiter:innenpartei PKK, der ein sensationeller Tabubruch der AKP war. Dafür unterstützte die CHP 2016 im Parlament den AKP-Vorstoss, die Immunität einiger Abgeordneter aufzuheben, von denen die meisten der prokurdischen HDP angehörten. Dies führte zur Verhaftung etlicher HDP-Abgeordneter, darunter der Parteivorsitzende Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag, die seitdem im Gefängnis sitzen. Ebenfalls 2016 unterstützte Kilicdaroglu die Militäroffensive im syrischen Afrin, die zum Ziel hatte, die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) zu zerschlagen und eine von Ankara kontrollierte «Sicherheitszone» zu errichten. Als im vergangenen Jahr die Staatsanwaltschaft ein Verbotsverfahren gegen die HDP anstrengte, sprach sich Kilicdaroglu zwar dagegen aus, aber es gelang ihm nicht, dies als einheitliche Parteilinie festzulegen. Denn Sympathien oder gar eine Unterstützung der HDP – die von der Regierung als verlängerter Arm der PKK dargestellt wird – könnten die eigenen Stammwähler:innen vergraulen.

Trotz der Gezi-Proteste 2013, diverser Korruptionsaffären, der seit dem militärischen Putschversuch 2016 anhaltenden «Säuberungswelle» und der Wirtschaftskrise ist es der CHP nicht gelungen, gegen Erdogan anzukommen. Deswegen hat sie sich 2018 zu einem Wahlbündnis mit der ultranationalistischen «Iyi Parti» zusammengeschlossen. Die rassistischen Massnahmen gegen Migrant:innen in Bolu etwa hat die CHP mit deren Unterstützung umgesetzt.

Sollte dieses Bündnis die Wahlen im Juni 2023 tatsächlich für sich entscheiden – es dürfte keine hoffnungsvolle und progressive Politik in Aussicht stellen.