Neue Verfassung für Chile: Die Revolte von 2019 lässt grüssen

Nr. 20 –

Am Wahlwochenende haben in Chile die linken Kräfte einen Überraschungssieg errungen. Der Weg zu einer Verfassung, die soziale Grundrechte garantiert, ist frei, und die Linke blickt den Präsidentschaftswahlen im November hoffnungsvoll entgegen.

«Die Zeit des geringeren Übels ist vorbei», sagt die Basisaktivistin Genesis Ramírez mit einem breiten Lächeln. Wie viele linke AktivistInnen war Ramírez lange Zeit den Wahlurnen ferngeblieben. Im vergangenen Oktober ging sie zum ersten Mal an die Urne; die ChilenInnen stimmten mit knapp achtzig Prozent der Stimmen für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Dieses Wochenende wählten sie die Mitglieder des genderparitätischen Verfassungskonvents und hielten nebenbei auch Regional- und Gemeindewahlen ab.

Das Wahlergebnis ist ein Schiffbruch für die rechten Parteien mit Präsident Sebastián Piñera und ein Achtungserfolg für die linken Parteien und Bewegungen. Das rechte Regierungsbündnis Vamos por Chile hat mit gerade einmal 37 von 155 Sitzen das für eine Sperrminorität im Verfassungskonvent nötige Drittel verfehlt. Auch das ehemalige Mitte-links-Bündnis, das seit dem Ende der Militärdiktatur bis ins Jahr 2010 durchregiert hatte, wurde mit nur 25 Sitzen hart abgestraft. Die ehemals staatstragende Christdemokratische Partei erlangte gerade einmal zwei Sitze. Die Sozialistische Partei war mit 15 Sitzen die einzige vergleichsweise erfolgreiche Partei aus dem Bündnis.

Protest im Pokémon-Kostüm

«Weder Geld und Kontakte noch teure Kampagnen reichen mehr aus, um die Wahl zu gewinnen», sagt der Geschichtslehrer und Aktivist Miguel Poch, «jetzt ist die Zeit der politisch Marginalisierten gekommen.» Die Gewinnerin der Stunde ist das parteiunabhängige Wahlbündnis La Lista del Pueblo. Die «Liste des Volkes» besteht aus AktivistInnen der Revolte von Oktober 2019, aus der der verfassungsgebende Prozess entstanden ist. Ohne Budget und mit einem Werbespot, der einen fiktiven Herzinfarkt des Präsidenten feierte, schaffte das Bündnis – sofern es tatsächlich gewinnt – das Unmögliche: Mit 27 Sitzen ist es nunmehr die drittstärkste Kraft in der verfassungsgebenden Versammlung. Unter anderem wird die Schulbusfahrerin Giovanna Grandón, die mit einem Kostüm der Pokémon-Figur Pikachu an die Demonstrationen ging, die neue Verfassung mitschreiben.

Das linke Bündnis Apruebo Dignidad aus dem neulinken Konglomerat Frente Amplio und der Kommunistischen Partei feierte ebenfalls einen Sieg. Es wurde mit 28 Sitzen die zweitstärkste Kraft im Verfassungskonvent und gewann in zahlreichen Gemeinden im ganzem Land. Das Zentrum von Santiago wird neu von der Kommunistin Irací Hassler regiert. In der traditionell rechten Strandstadt Viña del Mar, dem Miami Chiles, gewann die linke Macarena Ripamonti.

Auf regionaler Ebene wurde der Umweltaktivist Rodrigo Mundaca im ersten Wahlgang mit 43,7 Prozent zum Gouverneur der Region Valparaíso gewählt. Die Region ist besonders vom Klimawandel und von der Privatisierung des Wassers betroffen. Riesige Avocadoplantagen verbrauchen wegen aufgekaufter Wasserrechte und fehlender Kontrollen einen grossen Teil des vorhandenen Wassers. Benachbarte Felder und AnwohnerInnen bleiben derweil auf dem Trockenen. Mundaca ist die bekannteste Stimme im Kampf gegen die ungerechte Verteilung von Wasser und für eine Sicherung dieses Grundrechts. Seine Wahl ist eine Kampfansage an die Avocadobarone der Region, die ihre Macht zuletzt über die Christdemokratische Partei und lokale BürgermeisterInnen ausweiteten.

Das Grab des Neoliberalismus

Im Verfassungskonvent wurden zudem siebzehn Plätze für die Indigenen reserviert. Davon sind allein sieben für die Mapuche vorgesehen. Rund zehn Prozent der chilenischen Bevölkerung bezeichnen sich selbst als Mapuche. Die Indigenen leiden bis heute unter der Eroberung und dem Raub ihrer Ländereien durch den chilenischen Staat im 19. Jahrhundert. Alle Regierungen der letzten Jahrzehnte setzten auf eine Militarisierung des Mapuche-Gebiets und verfolgten viele AktivistInnen mit harter Hand.

Noch in der Wahlnacht sprach der Präsidentschaftskandidat der Kommunistischen Partei, Daniel Jadue, zur Presse: «Das Wahlergebnis öffnet den Weg für eine linke Regierung.» Im November folgen in Chile die Präsidentschaftswahlen. In das Wahlrennen steigen die linken Parteien mit einem Achtungserfolg ein.

Die Aussichten auf eine Verfassung, die soziale Grundrechte verankert und den freien Markt in die Schranken weist, sowie auf eine zukünftige linke Regierung liessen an der Börse die Alarmglocken läuten. Am Montag fiel der Aktienkurs in Santiago um 9,2 Prozent. «Chile wird das Grab des Neoliberalismus», ein Spruch aus der Protestwelle von 2019, ist für die Unternehmen zur bitteren Realität geworden.