Ein Traum der Welt: Dann spricht Duvanel
Annette Hug stolpert durch die Kulissen eines Festivals
Hat Solothurn in Solothurn stattgefunden? Im Regen? Auf 11 000 Geräten, wie uns die VeranstalterInnen mitteilen? Mein Hotelzimmer war gerade gross genug für eine Person, einen Schreibtisch und ein Bild von Zirkuspferden. Am Rand der Illegalität traf sich eine Gruppe unter einem Beamer, um gemeinsam die Eröffnungsfeier zu sehen. Da begann etwas Neues, dachte ich, als Gianna Olinda Cadonau ein Gedicht vorlas, auf Romanisch, dann auf Deutsch.
Cadonau ist eine Person of Color, POC, schreibe ich jetzt ziemlich entspannt, denn zwei Tage darauf sagte die deutsche Autorin Mithu Sanyal in derselben Kulisse: «Wir haben im letzten Jahr so viele neue Worte gelernt. Das kann sehr schnell gehen: PCR, POC …»
Die Literaturtage wurden auch auf Arabisch eröffnet, von Wagdy El Komy, der in Solothurn zu Gast ist. Aus dem Fenster seiner Schriftstellerresidenz schaut er auf die Aare, schreibt von Kairo. Zugeschaltet aus Brasilien: ein italienisches Gedicht der Tessinerin Prisca Agustoni. In Zürich lebt Muriel Pic, sie las als Dritte an der Eröffnung, auf Französisch.
Wie immer in Solothurn lernte ich Stimmen kennen, auf die ich sonst nicht gestossen wäre. Zur Eröffnung suchten sie nach der Literatur im Abschweifen, in «rêveries», im Verlust, den ein Seuchentod im Amazonas aufreisst, in der Wut, in Turbulenzen der Vernunft, fantastischen Herbarien, zwischen Büchern und Geräten. Maschinen spielten die Hauptrolle an allen Orten, wo in vergangenen Jahren das Publikum gesessen hatte. Die Texte der Eröffnung waren halb verstanden plötzlich weg, für Nachfragen war kein Ort, keine Menge, die Gedankenfetzen weiterreicht und verwandelt. Es sei denn, draussen im Regen tauchte ein bekanntes Gesicht auf.
Dann ergab sich ein Spaziergang. Bier war im Freien zu trinken, den Lesungen im Hotelzimmer zu folgen. So geriet ich ins nächste Grossereignis: Von Adelheid Duvanel sind «Sämtliche Erzählungen» erschienen, 35 Jahre nach ihrem Tod, herausgegeben von Elsbeth Dangel-Pelloquin unter Mitarbeit von Friederike Kretzen (siehe WOZ Nr. 20/2021 ). Letztere sprach von Räumen, die Duvanel in ihren kurzen Erzählungen schafft. Sie gehen durch die Figuren hindurch:
«Kaum zu Hause, beschäftigt sie sich wieder mit dem Thema ‹Brillen›, so dass sie, wenn sie unten über den grossen Platz geht, zugleich oben in ihrem Schlafzimmer, dem Arbeitszimmer ihres Traums, am Fenster steht. Sie beobachtet, wie sie sich vor einem Café auf einen der weissen Plastikstühle, Jugendstilimitation, setzt, eine Cola trinkt und raucht.»
Nur in einem ganz besonderen Moment kann ein solcher Satz langsam verständlich und dann zu einem Angelpunkt werden, sodass plötzlich unwichtig ist, dass sie – wer auch immer sie ist – aus einer psychiatrischen Klinik nach Hause kommt. Jetzt sitzt sie in einer Stadt, in der Familien auf dem Sonntagsspaziergang Schäden besichtigen, die Jugendliche in der Nacht zuvor angerichtet haben. Die Jahre 1980 und 1981 liegen gleich nebenan.
Obwohl wir das Jahr 2021 schreiben und die Literaturtage das Gefühl vermitteln, in der Schweizer Literatur verändere sich etwas grundsätzlich: Wer sie feierlich repräsentiert, wer in ihrer Geschichte herausragt. Aber vielleicht war das ein ganz privater Eindruck. Ein persönliches Ereignis in einem Hotelzimmer in Solothurn.
Annette Hug ist Autorin in Zürich und würde gern den Streitwert von Apérogesprächen deuten können, wenn die dann wieder zu hören sind.