Durch den Monat mit Gianna Olinda Cadonau (1): In welcher Sprache fluchst du?

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Als Mitarbeiterin des Rätoromanisch-Dachverbands Lia Rumantscha hat es Gianna Olinda Cadonau mit fünf verschiedenen Idiomen zu tun. Als romanische Lyrikerin fühlt sie sich privilegiert – doch es ist nicht immer einfach, in einer Kleinsprache literarisch tätig zu sein.

«In der Surselva heisst Licht ‹cazzola›, wir sagen ‹glüm›»: Gianna Olinda Cadonau.

WOZ: Gianna Olinda Cadonau, welche Sprache ist dir am nächsten?
Gianna Olinda Cadonau: Vor einigen Jahren wäre die Antwort klar gewesen: Deutsch. Aber jetzt, wo ich das Rätoromanische so intensiv bei der Arbeit brauche und auch mit meinem Sohn Ramun Romanisch rede, ist es nicht mehr so klar. Beim Lyrikschreiben ist mir Romanisch auf jeden Fall näher.

Und wenn du spontan auf etwas reagierst? In welcher Sprache fluchst du?
Auf Englisch! Nein, mit Ramun fluche ich auch auf Romanisch. Da betreiben wir Sprachpolitik, wenn wir fluchen.

Romanisch heisst in deinem Fall Vallader, das Idiom des Unterengadins?
Ja. In der Lia Rumantscha ist die Geschäftssprache Rumantsch Grischun. Aber wenn ich mit meiner Verlegerin schreibe, die auch aus dem Unterengadin kommt, wäre es seltsam, etwas anderes als Vallader zu brauchen. Und es gibt Leute in der Literaturszene, denen ich nie auf Rumantsch Grischun schreiben würde – zum Beispiel dem Schriftsteller Leo Tuor aus der Surselva.

Er ist bekannt dafür, dass er die Kunstsprache ablehnt. Das heisst, du schreibst ihm auf Vallader, und er antwortet dir auf Sursilvan?
Genau. Wir kennen einander, darum weiss ich, dass er mein Idiom versteht.

Und du seins auch?
Inzwischen schon. Ich hatte als Kind wenig Kontakt mit anderen Idiomen, aber als ich bei der Lia Rumantscha anfing, redeten meine Vorgesetzten Sursilvan. Da fand ich, dass ich das nun einfach lernen muss. Also habe ich viel Literatur gelesen, gerade von Leo Tuor, und wirklich Wörtchen gepaukt.

Liegen die Idiome denn so weit auseinander?
Man kann schon zusammen ein Bier trinken gehen und versteht sich einigermassen, aber eben nicht immer. In der Surselva heisst Licht «cazzola», wir sagen «glüm».

Wird Rumantsch Grischun auch gesprochen?
Nicht im Alltag. Es gibt eine Theatergruppe, die es als Bühnensprache braucht – aber in der Surselva fanden sie das gar nicht gut. Da gab es einen kleinen Proteststurm.

Deine Gedichte wirken oft entrückt und zeitlos. Es kommen kaum Wörter aus dem modernen Alltag vor.
Kürzlich habe ich immerhin «Kino» verwendet … Aber es stimmt, ich gehe oft von Bildern aus, auch von Träumen. Und ich glaube, ich träume sehr archaisch. Auch Musik inspiriert mich. Ich liebe das Colin Vallon Trio, da kommen mir beim Hören Bilder und Sätze.

Schreibst du ausschliesslich Gedichte?
Nein, ich arbeite seit einiger Zeit an einem langen Prosatext auf Deutsch – weil mir Deutsch in der Prosa leichter fällt und auch weil ich das Gefühl habe, dass diese Geschichte in der deutschen Sprache daheim ist. Aber ich habe keine Ahnung, ob dieser Text je veröffentlicht wird. In der deutschen Literatur ist die Konkurrenz ja eine ganz andere. Die romanische Literatur ist ein kleiner, geschützter Raum. Alle lechzen nach neuen Texten, darum wird man schnell veröffentlicht und wahrgenommen. Das ist sehr schön, aber natürlich auch etwas einfacher.

Der Minderheitenbonus.
Genau. Und alle, die regelmässig Romanisch lesen, kennen alles, was erscheint. Es gibt keinen Kanon, keine Beurteilung, welche Werke in einem Jahr wichtig waren. Weil es so wenige sind. Das ist nichts Schlechtes, die Literatur einer kleinen Sprache hat eine eigene Dynamik. Dem müssen wir Rechnung tragen. Wir müssen daran arbeiten, dass wir uns selbst als Kulturschaffende ernst nehmen. Und wir sollten Wege finden, uns auch gegenseitig zu kritisieren. Wir kennen uns alle, und oft korrigieren oder lektorieren die einen Schreibenden die Texte der anderen. So vermischen sich die Rollen, die in der deutschen Literatur viel klarer getrennt sind.

Das heisst, es gibt keine unabhängige Literaturkritik.
Genau. Es gibt einige wenige, die Kritiken schreiben und nicht selbst literarisch tätig sind, aber man kennt sich halt immer. Jetzt wollen wir Wege finden, damit umzugehen. Zum Beispiel Gruppen gründen, in denen wir über die eigenen Texte reden und uns gegenseitig kritisieren. Das ist natürlich nicht das Gleiche wie eine klassische Rezension von einer unabhängigen Instanz, die Konsequenzen für die weitere Karriere hat. Aber solche Arbeitstreffen fände ich gut. Vielleicht könnte man sie auch öffentlich machen.

Du hast letztes Jahr an der Eröffnung der Solothurner Literaturtage gelesen.
Da dachte ich auch: Wenn ich auf Deutsch schreiben würde, wäre ich wahrscheinlich noch nie eingeladen worden. Aber mein Mann fand: Jetzt hör doch auf, geniess es einfach! Also gut: Juhu, ich kann nach Solothurn! Zuerst drei, vier selbstkritische Gedanken und erst dann der Luftsprung.

Gianna Olinda Cadonau (38) ist Lyrikerin und leitet bei der Lia Rumantscha, dem Dachverband der rätoromanischen Sprachverbände, den Bereich Kultur. Sie ist in Scuol im Unterengadin aufgewachsen und lebt mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Sohn in Chur. Bettina Dyttrich und Cadonau kennen sich aus der Kindheit – und duzen sich deshalb in diesem Interview –, hatten seither aber nur noch sehr selten miteinander zu tun.