Gedichte: «Sonst ist es unmöglich»

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Gemälde aus der Serie «Dialogue Tables», Mixed Media on ­Canvas, 2014: 130 × 162 cm, von Ala’ Hamameh
Ala’ Hamameh, «Dialogue Tables», Mixed Media on ­Canvas, 2014: 130 × 162 cm

«Zan» von Sahar Tavakoli

Schmerz Nummer eins

Mein Körper ist eine Falle.
Er nimmt dich auf und kaut deine Knochen.
Was für ein grossartiger Sieg, meiner unschuldigen Ahnen zu gedenken
und sie zu erinnern:
Wir haben die Geschichte gewonnen.
Wir haben den Durst der Wälder mit Rache gestillt.
Schande über eure Hände!
Sie waren so weich; zart und doch scharf wie Ingwer.
Zwischen den Zeilen dieses Gedichts
fand ich eine tote Sehnsucht einer alten Seele,
ihr Gewand eine Erbschaft aus Trauer.
Sie war eine Mutter,
ihre ganze Haut eingeritzt mit ihren Träumen!

Sahar Tavakoli ist eine iranische Übersetzerin, Autorin und Verlegerin. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem kurdischen Lyriker und Übersetzer Faryad Shiri, betrieb sie in Teheran einen Verlag. Seit über einem Jahr lebt sie als Asylsuchende in der Schweiz (siehe WOZ Nr. 50/24). Der persische Titel «Zan» bedeutet Frau. Das hier abgedruckte Gedicht hat Tavakoli auf Englisch verfasst.

Übersetzung: Daniela Janser

«Neue Horizonte» von Azizullah Ima

Die Festungen der Macht haben massive Schlösser und Tore,
die stets auf Kosten von Menschenleben
geöffnet und geschlossen wurden.
Ich traue der Geometrie der Tyrannei nicht,
nicht den Hirnen, die mit schweren Antworten gewaschen werden
und für die Ewigkeit.
Ich mag die schlichten Häuser der Freundlichkeit
mit Gedankenzimmern, deren Fenster offen stehen
zu neuen Horizonten jeglicher Art.

«Verbannung» von Azizullah Ima

Die Silben,
wie Kinderklänge,
unverbunden und schön,
sind Melodien aufrichtiger Gefühle
im Bühnenstück der Liebe,
in Bildern und Illusionen über Gott und die Welt,
bevor man sie verbannt
an den Ort,
der anfangs nicht war –
ins Wort.

Azizullah Ima hat an der Pädagogischen Universität Kabul studiert und mehrere Gedichtbände, einen Roman sowie eine Sammlung von Kurzgeschichten auf Farsi publiziert. Die hier abgedruckten Gedichte sind Teil eines literarischen Gesprächs, das er mit dem Schweizer Autor Andreas Neeser geführt hat. Im Herbst erscheint der lyrische Austausch (auf Farsi und Deutsch) im Buch «Morgengrauengewässer: Ein Gespräch in lyrischen Miniaturen» im Rotpunktverlag. 

Übersetzung dieser beiden Gedichte aus dem Persischen: Sarah Rauchfuss

«Ankunft» von Azad Şîmmo

Wie viele Wege habe ich so zurückgelegt
Jetzt bin ich im Herzen Graubündens
Der Stadt, in die man aus den steilen Höhen des Engadins gelangt
Ich kam aus der Epoche der Römer
Brachte von Schreibern überlieferte Erlasse
Vielleicht ist nun endlich die Zeit, Zufälle zu verwirklichen
Wer weiss, vielleicht ist die Herrin meines Herzens hier
Oder meiner Tage voller Kummer
Chur nennt man also diese Stadt
Rings von Bergen umgeben
Wenngleich ich ohne Befremden schauen will
Blicke ich wie selbstvergessen
Wie die meisten Gesichter, in die ich ungewollt schaue
Wie eine Wiederholung der Geschichte
Ich fürchte, mit diesem Gefühl finde ich keine Zuflucht in dieser Stadt
Ach schaut, was ist denn das
Man hört das Geräusch von Wassertropfen, wie von Tränen
Das kommt vom Lucrezia-Brunnen, bei dem ich stehen blieb
Sie war einst ein Ausbund an Tugend und Zierlichkeit
Vielleicht verliert sich durch diesen Zufall
Mein innerer Zweifel an der Liebe
Ich weiss ja, dass in vielen Erzählungen
Tränen beim Widerstand gegen Brutalität als Beweis gelten
So viele Menschen haben dieses Martyrium erlebt
Es muss unter dem Drang von Neugier und Entdecken sein
Oder um den Beweis zu erkennen
Der Treue und des Verlassens
Trotzdem stört den Menschen wie Lärm
Das Krakeelen und Geschwätz der Durchreisenden
Ein Mann mit einem Stift in der Hand steht da
Ich sage zu mir: Was kräht diese Elster so laut
Damit jeder seine Männlichkeit erkennt
Streut er ständig Worte um sich aus
Ich nähere mich neugierig, ohne dass er es merkt
Wenn ich nicht falsch verstehe, heisst er Ishaan
Nun habe ich verstanden, gut
Du heisst also Ishaan, das bedeutet, du suchst dich selbst
Wenn das so ist, geh zum Bischof und lass dich lehren
Oder wenn dir diese Menschenmenge behagt
Geh auf den Friedhof, quasi das angehaltene Herz dieser Stadt
Damit du dein Ego in dir begräbst
Und du die vergängliche Einzigartigkeit des Menschen verstehst
Sonst ist es unmöglich
Sonst ertrage ich deine grundlose Heiterkeit nicht

Azad Şîmmo kommt aus einer kurdisch-alevitischen Familie aus der Türkei. Er hat Soziologie in Malatya studiert und als Philosophielehrer an einem Gymnasium gearbeitet. In der Türkei hat er drei Gedichtbände und einen Roman veröffentlicht. Vor vier Jahren ist er in die Schweiz geflüchtet, heute lebt er in Chur. 

Übersetzung aus dem Türkischen: Eva Lacour

«IX» von Gianna Olinda Cadonau

hier stehst du
allein
denke ich

du raffst
alles von dir
zusammen

es soll keinen unnötigen Platz
verbrauchen
in dich hineinkehren
soll sich
Stimme Name Haut

du wärst gern
mehrere viele
du müsstest weniger
sagen tun schweigen
denkst du

ihr wärt ihr
und nicht allein
ihr könntet einander fragen

hast du Angst
erinnerst du dich
an alle Namen

Gianna Olinda Cadonau ist in Indien geboren und im Engadin aufgewachsen. Sie hat Internationale Beziehun­gen in Genf und Kulturmanagement in Winterthur studiert und ist bei der Lia Rumantscha für die Kulturförderung verantwortlich. Sie schreibt auf Romanisch und Deutsch. Erschienen sind bisher zwei Gedichtbände und ein Roman. Cadonau lebt mit ihrer Familie in Chur.

Gemeinsames Lyrikprojekt

Seit über zwei Jahren führen Gianna Olinda Cadonau und Azad Şîmmo einen lyrischen Dialog. Dabei korrespondieren ein indischer Mann und eine mesopotamische Frau, die sich an einem Brunnen in Chur treffen. Im dreiteiligen Zyklus tauschen die Schreibenden bei jedem Teil die Figur, aus deren Sicht sie schreiben. Das von Şîmmo hier abgedruckte Gedicht ist das letzte, jenes von Cadonau das vorletzte des ersten Zyklus.

Gemälde aus der Serie «Dialogue Tables», Mixed Media on ­Canvas, 2014: 81 × 100 cm, von Ala’ Hamameh
Ala’ Hamameh, «Dialogue Tables», Mixed Media on ­Canvas, 2014: 81 × 100 cm