Wenn es für alle um das Gleiche gehtWie weiterschreiben, wenn man in ein Land geflüchtet ist, dessen Sprachen man nicht beherrscht? Seit fünf Jahren bietet das Projekt «Weiter Schreiben» Exilautor:innen in der Schweiz eine Plattform.

Ágota Kristóf nannte die fremde Sprache ihre «Feindessprache»: 1956 war die spätere Autorin als junge Frau aus Ungarn geflüchtet und lebte schliesslich in der Romandie. Hier musste sie Französisch lernen – wobei ihr ihre Muttersprache langsam abhandenkam. In den 2005 erschienenen autobiografischen Skizzen «Die Analphabetin» beschreibt sie, wie ihre Hoffnung, in der Schweiz Schriftstellerin zu werden, «praktisch gleich null» war und wie sie, fünf Jahre nach ihrer Ankunft, zwar Französisch sprach, aber die Sprache nicht lesen konnte, also quasi zur Analphabetin wurde. Dass sie Jahre später in ihrer «Feindessprache» grosse Literatur schreiben würde, hatte sie sich damals wohl nicht vorstellen können.
Auch Azad Şîmmos Ziel ist es, einmal in einer Schweizer Landessprache Literatur zu erschaffen. Jeden Tag liest der vor vier Jahren aus der Türkei in die Schweiz geflüchtete Autor und Soziologe deutschsprachige Lyrik und Romane, um sein Deutsch, das er bereits fliessend spricht, weiter zu verbessern.
Zurzeit liest er Thomas Bernhard. Anders als Ágota Kristóf sieht der aus einer kurdischen und alevitischen Familie stammende Şîmmo in der neuen Sprache keine «Feindessprache»: «Eine Sprache blockiert für mich nicht die andere», sagt er. Vielmehr ermögliche ihm jede Sprache den Ausdruck von etwas Bestimmtem: «In der türkischen Sprache habe ich das Leben kennengelernt und kann damit die Welt erfassen.» Anders als viele Kurd:innen habe er keine negativen Gefühle dem Türkischen gegenüber, aber: «Kurdisch ist meine Muttersprache. Es ist die Sprache meiner Gefühle.» Sich auf Deutsch auszudrücken, sei noch immer schwierig für ihn, oft müsse er herausfinden, ob es für seine Gefühle die treffenden Worte oder Sätze gebe. «Eine neue Sprache zu lernen, bedeutet für mich jedoch nicht Assimilation, sondern ich sehe es als eine Option», sagt er im Zoom-Gespräch Ende März, an dem auch die Autorin Gianna Olinda Cadonau teilnimmt.
Die Tandem-Idee
Wie Şîmmo lebt auch Cadonau in Chur. Doch anders als Şîmmo ist die in Indien geborene Autorin, die auf Deutsch und Rätoromanisch schreibt, im Engadin aufgewachsen, hat hier ihre Familie und ihre Arbeit – und musste sich als Autorin nie in einer neuen Sprache zurechtfinden.
Dass die beiden sich kennengelernt haben, verdanken sie dem Projekt «Weiter Schreiben Schweiz», das geflüchteten Autor:innen ermöglicht, weiter literarisch tätig zu sein. Neben der Unterstützung von Publikationen und Übersetzungen sind Autor:innentandems ein wichtiger Bestandteil des Projekts: Die künstlerische Leiterin Ana Sobral bringt Schweizer Autor:innen mit geflüchteten Autor:innen für einen Austausch und zwecks Vernetzung zusammen. Şîmmo und Cadonau schreiben seit zwei Jahren an einem dreiteiligen lyrischen Dialog und bestreiten gemeinsam Auftritte. Im Zentrum ihres Projekts stehen ein indischer Mann und eine mesopotamische Frau, die sich in Chur an einem Brunnen treffen (vgl. «Gemeinsames Lyrikprojekt»). Im ersten Teil schreibt Cadonau aus der Perspektive des Mannes, Şîmmo aus der Perspektive der Frau; im zweiten Teil tauschen sie die Figuren – und im dritten tauschen sie wieder zurück. Der mit feministischem Blick erzählten gemeinsamen Geschichte liegt die Bewegung «Jin, Jiyan, Azadî» (Frau, Leben, Freiheit) zugrunde. Cadonau schreibt auf Deutsch, Şîmmo auf Türkisch, seine Texte werden anschliessend, organisiert von «Weiter Schreiben Schweiz», ins Deutsche übersetzt.
«Azad hat mehr Zeit zum Denken und Schreiben», sagt Cadonau, sie sei wegen ihrer Erwerbsarbeit und der Familie in viele andere Dinge eingebunden. So hat Şîmmo den dritten Teil bereits abgeschlossen, während sie noch am zweiten arbeitet. Das Schöne sei, dass er ihr nun jeweils erzählen könne, was er geschrieben habe, worauf sie dann in ihren Texten reagieren könne. Allgemein hätten sie eine sehr unterschiedliche Arbeitsweise: Während Şîmmo schnell, viel und blumig schreibt, mit vielen Codes und Symbolen, wägt Cadonau jedes Wort ab, schreibt karg und reduziert. «Die Auseinandersetzung mit Azads Texten hat mich gelehrt, etwas üppiger zu schreiben und keine Angst mehr vor so grossen Worten wie ‹Angst› oder ‹Hoffnung› zu haben», sagt sie. «Und sie zwingt mich zu einer Offenheit gegenüber Texten, die mir im Grunde fremd sind.» Gleichzeitig blickt sie auch kritisch auf die Ungleichheit innerhalb dieser Tandemarbeit: «Während ich in meiner Sprache sprechen kann, ist Azad gezwungen, sich mir anzupassen, was eigentlich eine Zumutung ist.»
Als er Gianna das erste Mal getroffen habe, sei er in einer schwierigen psychischen Verfassung gewesen, erinnert sich Şîmmo: «Das Erste, was ich wahrnahm, war, dass sie eine Person of Color ist: Sofort fühlte ich mich mit ihr verbunden.» Heute nennt er sie seinen Zwilling. Er sei zuerst unsicher gewesen, ob Schreiben zu zweit funktionieren könne – die Arbeit mit Cadonau habe gezeigt, dass das sehr gut gehe.
Auch sie habe gleich eine Verbundenheit zu Şîmmo gespürt, sagt Cadonau, und es gebe gewisse Dinge, die sie beide kennen würden, etwa Rassismus. «Und doch», betont sie, «haben wir eine ganz andere Geschichte und befinden uns in einer völlig anderen Lebenssituation.» Darin sieht sie auch eine grosse Herausforderung für die Autor:innen im «Weiter Schreiben Schweiz»-Projekt: Während die Schweizer Autor:innen in mehreren Projekten engagiert sind und meist einen Job und ein familiäres Umfeld haben, leben die geflüchteten Autor:innen oft in einer fragilen Situation. Auch deswegen habe sie grossen Respekt vor einer Zusammenarbeit gehabt, sagt Cadonau. Aber sie hätten sich beim Kennenlernen viel Zeit genommen und sich langsam einander angenähert. Hinzu komme: «Ana hat uns mit grossem Feingefühl zusammengebracht – das hat mich sehr beeindruckt.»

Gründung im Lockdown
Ana Sobral nennt solche Zusammenführungen von Autor:innen eine Art Blind Date. Nicht bei allen stimme die Chemie wie bei Cadonau und Şîmmo. Für sie selbst, so Sobral, sei das Projekt ein grosses Geschenk, weil es ihr die Lebensrealität geflüchteter Menschen näherbringe. Einige der Autor:innen warteten seit Jahren auf einen Asylentscheid, sie suchten Arbeit, bangten um Familienmitglieder, die in der Heimat geblieben seien, litten unter fehlender Anerkennung ihrer Arbeit, hätten Existenzängste. «Depressionen sind für viele Geflüchtete eine Realität, unsere Autor:innen sind da keine Ausnahme.» «Weiter Schreiben» sei eine Art Familie, in der die Exilautor:innen die Empathie und den Respekt fänden, die im Rest der Gesellschaft leider oft fehlten.
Gegründet wurde «Weiter Schreiben Schweiz» mitten im Coronalockdown: «Es war ein Tag zum Vergessen», erinnert sich Dragica Rajčić Holzner, Autorin und Mitinitiantin des Projekts. Wie viele Kulturveranstaltungen mussten auch die Solothurner Literaturtage im Jahr 2020 in den digitalen Raum verschoben werden – auch das Podium, auf dem Rajčić Holzner mit der deutschen Autorin Annika Reich (vgl. «Wir wollen nicht helfen, wir wollen teilen») und der in der Schweiz lebenden syrischen Schauspielerin und Autorin Lubna Abou Kheir über die «fünfte Landessprache» als Teil der Schweizer Literaturszene diskutierte.
Seit Jahren setzt sich Rajčić Holzner dafür ein, dass hier lebende Autor:innen, die nicht in einer der vier Landessprachen schreiben, als Teil der Schweizer Literatur wahrgenommen werden. Dies tut sie zum Beispiel als Projektleiterin von «Weltenliteratur – Made in Switzerland» des Vereins Alit. Als sie auf Reich, die Mitgründerin von «Weiter Schreiben» in Deutschland, traf, war rasch klar: So ein Projekt braucht es auch in der Schweiz. «Es war eigentlich ein Tag wie der Weltuntergang – und vielleicht gerade deswegen konnten wir die Zukunft utopisch denken, weil wir dachten: Das kommt sowieso nie zustande.»
Doch dann ging alles schnell: Ein Verein wurde gegründet (der mittlerweile aufgelöst wurde, das Projekt wird heute im Mandat von Artlink geführt), Gelder wurden aufgetrieben, Autor:innen und Übersetzer:innen gesucht – und heute, fünf Jahre später, hat sich «Weiter Schreiben» in der Schweiz etabliert. Acht Exilautor:innen sind Teil davon, zwei von ihnen in der Romandie, eine im Tessin. Neben Sobral ist Markus Baumann als Geschäftsleiter für das Gesamtprojekt zuständig. Finanziert wird es von öffentlichen Geldern und Stiftungen.
Den Platz gefunden
«Wie wird man Schriftstellerin?», fragt sich Ágota Kristóf in «Die Analphabetin». Und sie antwortet: «Zuallererst muss man natürlich schreiben. Dann muss man weiterschreiben.» Doch gerade die neue Lebenssituation, der fehlende Resonanzraum der eigenen Sprache, das nicht vorhandene Netzwerk sowie die instabile psychische Verfassung verunmöglichen dieses Weiterschreiben aus eigener Kraft oft. Wie wichtig ein Projekt wie «Weiter Schreiben» deshalb ist, verdeutlicht Azad Şîmmo, wenn er sagt, er habe hier dank dieses Projekts seinen Platz gefunden und verbinde seine Geschichte wie auch seine Zukunft mit diesem Projekt: «Es hat mir meine Selbstständigkeit wiedergegeben. Durch ‹Weiter Schreiben› ist meine verschwommene Sicht wieder klar geworden. Und ich fühle mich in Sicherheit im Rahmen dieses Projekts – weil es für uns alle um dasselbe geht, nämlich um Literatur.»
Shukri Al Rayyan und Ana Sobral diskutieren an den Solothurner Literaturtagen an der Vernissage zu diesem «wobei» zum Projekt «Weiter Schreiben». Moderation: Silvia Süess. Fr, 30. Mai 2025, 17.30 Uhr, im Wengisaal, Solothurn. Das Gespräch wird auf Englisch und Deutsch geführt. Mehr Infos zum Projekt: www.weiterschreiben-schweiz.jetzt.