Frankreich: Emanzipation von Staates wegen

Nr. 21 –

Seit Jahrzehnten tobt in Frankreich ein Kulturkampf über den Umgang mit den muslimischen BürgerInnen des Landes. Ausgerechnet ein Teil der Linken geriert sich als besonders kompromisslos, wenn es um die Verteidigung republikanischer Werte geht – und arbeitet so der Rechten in die Hände.

Anfang Mai veröffentlichten knapp zwei Dutzend französische Intellektuelle und Politikerinnen ein «Manifest für den Laizismus». Dieser sei ein «Schutzwall gegen Exklusion und Diskriminierung», heisst es im Text, den unter anderem der Philosoph Étienne Balibar, die JournalistInnen Rokhaya Diallo und Edwy Plenel sowie die linke EU-Parlamentarierin Manon Aubry unterzeichnet haben: «Es handelt sich dabei um einen einfachen, einleuchtenden, universellen Gesellschaftsentwurf: Man trenne die Kirche vom Staat und begründe damit die strikte Neutralität der öffentlichen Verwaltung und ihrer VertreterInnen gegenüber den Glaubensinhalten oder Nichtglaubensinhalten der BürgerInnen.»

Genau dieser «einleuchtende Gesellschaftsentwurf» ist stärker in der Defensive denn je: Politisch ist derzeit vielmehr eine repressive Interpretation des Laizismus im Vormarsch. Anlass des Manifests war nämlich, dass im Frühjahr die französische Nationalversammlung, auch als Reaktion auf die Terrorakte der vergangenen Jahre, ein Gesetz verabschiedete, das «zur Stärkung der Prinzipien der Republik und zur Bekämpfung des Separatismus» beitragen soll. Das Gesetz, das unter anderem strengere Kontrollen religiöser Vereinigungen vorsieht, markiere einen «Wendepunkt» in der Geschichte des Laizismus, mahnte etwa der Politologe Philippe Portier: Habe der Laizismus, wie er 1905 kodifiziert wurde, eine «minimale Intervention» des Staates im Bereich der Religionen vorgesehen, gehe man nun über zu einem «Laizismus der Sicherheit» – mit weniger Freiheiten für die BürgerInnen und einer Vervielfachung von Überwachungsmechanismen.

Gefährlich kompromisslos

Das mag nach einer eher abstrakten Debatte klingen. Im Kern geht es aber darum, wie sich Staat und Mehrheitsgesellschaft zum Islam und den im Land lebenden MuslimInnen verhalten – eine Frage, die sich nicht nur in Frankreich stellt, wie etwa die kürzlich von der Stimmbevölkerung angenommene Initiative für ein Burkaverbot in der Schweiz zeigt. Zugleich markiert das neue Gesetz eine weitere autoritäre Wendung von Präsident Emmanuel Macron: War dieser bei den Wahlen 2017 noch mit einem dezidiert gesellschaftsliberalen Programm angetreten, ist er inzwischen auch hier nach rechts gerückt. Paradoxerweise ist dies aber auch ein «Erfolg» bestimmter Teile der Linken.

Seit Jahrzehnten mobilisieren nämlich Publizistinnen und Politiker, die man eher links der Mitte verorten würde, gegen die vermeintliche Bedrohung der Republik durch den Islam. 1989 veröffentlichten etwa die Feministin Élisabeth Badinter, der einstige Che-Guevara-Intimus Régis Debray und der «antitotalitäre» Philosoph Alain Finkielkraut einen Aufruf unter dem Titel: «Lehrer, lasst uns nicht kapitulieren!». Damals diskutierte das Land gerade hitzig über den Umgang mit muslimischen Schülerinnen, die im Unterricht Kopftuch tragen wollten. Badinter und Co. meinten nun, dass es einem «München der republikanischen Schule» entspräche, würden junge Muslimas mit Hidschab nicht konsequent vom Unterricht ausgeschlossen. Damit spielten sie auf die alliierte Appeasementpolitik gegenüber den Nazis an – also die fatalen Versuche der Westmächte am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, das Deutsche Reich mit Kompromissen zu befrieden, anstatt Hitlers Aussenpolitik entschlossen entgegenzutreten.

Soziale Realität ausgeblendet

Dieser «linke» Laizismus kommt auch heute kaum weniger schrill daher. Propagiert wird er etwa von PublizistInnen wie der Feministin Caroline Fourest, von der Zeitschrift «Marianne» oder der Organisation Printemps républicain. Letztere ist 2016 im Umfeld des Parti socialiste entstanden und wurde massgeblich von Leuten lanciert, die dem rechten Sozialisten und früheren Ministerpräsidenten Manuel Valls nahestehen. Ziel der mehrere Hundert Mitglieder zählenden Vereinigung ist die Verteidigung des Laizismus sowohl gegen den politischen Islam als auch gegen die extreme Rechte, wie es im Gründungsdokument hiess. Seither lobbyiert die gut vernetzte Organisation unablässig für einen «kompromisslosen» Laizismus. Überdies stellt der Printemps républicain regelmässig Personen an den Pranger, die zu «lax» in ihrer Haltung gegenüber dem Islam seien – das Onlinemagazin «Slate» warf der Organisation kürzlich in einer grossen Recherche systematisches Cybermobbing vor.

Ideologisch rechtfertigen die «laïcards» ihre Position damit, dass es die universellen Werte, für die die Republik stehe und die sich letztlich der Aufklärungsphilosophie verdankten, bedingungslos zu verteidigen gelte – womit sich angeblich gerade die Linke schwertue, weil sie eine falsche Toleranz an den Tag lege. So unterstreiche etwa das Kopftuchverbot an Schulen den weltlichen Charakter staatlicher Institutionen und diene damit der Bekämpfung von religiöser Unterdrückung. Auch Blasphemisches à la «Charlie Hebdo» gelte es unbedingt gutzuheissen, weil man in Sachen Meinungs- und Pressefreiheit keine Kompromisse gegenüber religiösen Befindlichkeiten machen dürfe.

Allerdings handelt es sich dabei nicht nur um eine eigenwillige Auffassung von Emanzipation, bei der diese den Subjekten von Staats wegen aufoktroyiert wird, sondern es ist auch augenfällig, dass die Verteidigung freiheitlicher Werte im Namen des Laizismus in der Praxis hauptsächlich auf Kosten derjenigen Bevölkerungsklassen geht, die ökonomisch und sozial marginalisiert sind. Das zeigt, wie problematisch es ist, politische Positionen an abstrakte Prinzipien zu koppeln und dabei die konkrete soziale Realität auszublenden. So zielte das Gesetz von 1905 noch vornehmlich auf den Katholizismus, der traditionell mit monarchistischen Kräften verbandelt war; heute dagegen wird der Laizismus fast ausschliesslich im Kontext mit dem Islam und den sozialen Problemen in französischen Vorstädten verhandelt.

Zwangsverpflichtung auf Wertekanon

Der linke Anthropologe Alain Bertho, der seit Jahrzehnten zur Banlieue und zu urbanen Revolten forscht, spricht daher von einer Uminterpretation des Gesetzes von 1905 im Dienste eines «repressiven Laizismus». Auch Dominique Sopo, Präsident von SOS Racisme, wirft Printemps républicain vor, die Begriffes des Laizismus und des Universalismus «pervertiert» zu haben. Und für den Religionssoziologen Jean Baubérot (vgl. «‹Man bekämpft lieber die Religion einer Minderheit›» ) hat der von dieser Organisation vertretene «antireligiöse Laizismus» längst den Charakter einer «Zivilreligion» angenommen.

Letzteres meint, dass heute eine Allianz quer durch die politischen Lager den BürgerInnen Frankreichs den Laizismus gleichsam als «Leitkultur» vorzuschreiben versucht. Damit wird aber aus einem Freiheitsrecht, das die BürgerInnen vor staatlicher Repression schützt und ihre freie Entfaltung gewährleistet, ein disziplinierendes Instrument, das die Assimilation an einen von der Mehrheitsgesellschaft ohnehin schon gelebten Wertekanon durchsetzen soll.

Vielsagend ist auch, dass Laurent Bouvet, der Cheftheoretiker von Printemps républicain, meint, dass der Gegensatz von links und rechts überholt sei, weil die Front heute zwischen laizistischen RepublikanerInnen auf der einen Seite und «Kommunitaristen» auf der anderen Seite verlaufe – also Leuten wie den berüchtigten «Islamo-Gauchisten», die der Entstehung von «Parallelgesellschaften» das Wort reden würden. Mit dieser Rhetorik werden soziale Widersprüche in kulturelle Konflikte umgedeutet. Für den strukturellen Rassismus der französischen Klassengesellschaft, die ja gerade den Nährboden für Islamismus und Terror bildet, ist eine solche Identitätspolitik von rechts blind.