Kino-Film «Nomadland»: Auch das Flüchtige ist politisch, man muss es nur sehen und hören wollen
Chloé Zhaos «Nomadland» ist der Film der Stunde – nicht erst seit dem dreifachen Triumph bei den Oscars. Doch gerade die linke Kritik scheint ihre liebe Mühe damit zu haben. Wieso eigentlich?
Das Imperium ist gefallen. Seine mächtig aufragenden Ruinen jedoch und die verwaisten Wohnhäuser bekommen wir erst ganz am Ende zu sehen. Zu Beginn gibts in «Nomadland» nur ein paar Eckdaten. Irgendwo im Nordwesten von Nevada schliesst eine Gipsplattenfabrik, und mit ihr geht gleich die ganze Ortschaft ein. Am 31. Januar 2011 wird dann auch die Postleitzahl aufgelöst, und das Nest hiess tatsächlich so: Empire.
Das also ist der immer auch wirtschaftspolitische Hintergrund, vor dem dieser Film mit seiner Hauptfigur loszieht: der Niedergang von Empire. Das ist erst einmal nur ein Ortsname, ein lächerlich grossspuriger noch dazu. Aber verbunden mit einer stillgelegten Fabrik, die zuvor das Rohmaterial für Fertighäuser ab Katalog herstellte, wird dieser Name hier zum Mahnmal: zur ominösen Chiffre für den Housing Boom und die Kreditblase. Und vor allem auch für den Kollaps der Kapitalwirtschaft im Jahr 2008.
Überhaupt, die Wörter. «Nomadland» von Chloé Zhao ist zwar ein Film über das weite Land und die versprengten Leute, die darin in vorübergehender Gemeinschaft zusammenfinden, bevor sie weiterziehen, ein vagabundierender Western über prekarisierte Menschen unserer Zeit. Aber nicht nur in den Bildern weitet sich der Horizont in diesem Film, der seine Figuren am liebsten vergoldet im Abendlicht zeigt oder im schummrigen Abglanz der blauen Stunde. Auch die Wörter haben hier oft etwas Flirrendes.
Zuerst jedoch: ein Gesicht. Eine ältere Frau, gezeichnet von Trauer, doch scheinbar durch nichts zu erschüttern; die Züge vom Leben etwas verhärtet, aber geerdet und irgendwie unverzagt; die Haare kurz geschnitten, aber nicht modisch, sondern praktisch. Es ist das Gesicht von Fern, gespielt von Frances McDormand. Wie einst in «Fargo» steht sie auch in der ersten Szene von «Nomadland» wieder in einem winterlichen Nirgendwo. Draussen vor einem angemieteten Lagerraum nimmt sie Abschied von dem Hab und Gut, das nicht in ihren zum Wohnmobil umgebauten Kleintransporter gepasst hat. Gleich fährt sie los, auf der Suche nach Arbeit und, wer weiss, vielleicht nach einem neuen Daheim unterwegs.
Vor der Abfahrt noch eine Umarmung mit dem Vermieter des Lagers, und der sagt zu ihr: «You take care of yourself.» Auch wieder so ein beiläufig flirrender Satz, der mehr mit sich trägt, als er sagt. Offensichtlich ist das hier nicht bloss eine Floskel, sondern sehr herzlich gemeint von dem stämmigen Kerl in seiner Militärkluft. Doch es schwingt darin auch schon sehr viel davon mit, was alles kaputt ist in diesem Land des unbegrenzten Individualismus: Pass gut auf dich auf. Denn sonst wird da niemand sein, der sich um dich kümmert.
Behutsamer Sozialrealismus
«Nomadland» beruht lose auf dem gleichnamigen Sachbuch der Journalistin Jessica Bruder von 2017, auf Deutsch: «Nomaden der Arbeit. Überleben in den USA im 21. Jahrhundert» (2021). Das Buch wiederum geht auf eine Reportage zurück, in der schon im Titel überaus konkret die soziale Misere umrissen war, die nun auch der Film nachzeichnet: «The End of Retirement: When You Can’t Afford to Stop Working». Immer mehr Menschen in den USA, so zeigte Bruder damals, arbeiten weit übers Pensionsalter hinaus, und zwar nicht etwa, weil sie Erfüllung fänden in der Arbeit, sondern weil ihre Rente schlicht nicht reicht, um sich überhaupt zur Ruhe zu setzen.
Menschen wie Linda May: Sie habe gearbeitet, seit sie zwölf Jahre alt gewesen sei, ein halbes Jahrhundert lang, so schildert sie es jetzt im Film, aber mit einer Altersrente von 500 Dollar pro Monat konnte sie dann kaum ihre Miete bezahlen. Aus Altersarmut wurde sie zur Nomadin, die in ihrem Camper durchs Land zog, um mit Gelegenheitsjobs ihre Rente aufzubessern – von der schlechten Altersvorsorge zum ewigen Unruhestand gezwungen.
Linda May war eine Protagonistin in Bruders Reportage, die 2014 in der Zeitschrift «Harper’s» erschien. Im Film spielt sie jetzt sich selbst, wie die meisten anderen Menschen auch, die Frances McDormand als Fern auf ihrem Weg kreuzt. Etwa Bob Wells, der Gründer des Rubber Tramp Rendezvous in Arizona, eines jährlichen Treffens solcher «Nomads» im Rentenalter. Mit seinem weissen Bart wirkt er wie der Schutzheilige dieser Gemeinde von Vereinzelten, und wenn Bob Wells redet, zeigt er sich als antikapitalistischer Wanderprediger, der die systematische Ausbeutung menschlicher Arbeitstiere anklagt: Schuften bis ins hohe Alter, und am Ende bekommen sie nichts zurück. Manche seiner Botschaften klingen aber auch wie Kalendersprüche aus dem Evangelium der Landstrasse; wenn man sie ihm nachsieht, dann deshalb, weil es seine eigenen Worte sind, keine aufgesagten Drehbuchsätze.
Es ist nicht zuletzt diese Beiläufigkeit, in der sich das Dokumentarische hier mit der Fiktion verbündet, die den Zauber von «Nomadland» ausmacht. Die wenigen fiktionalen Figuren mischen sich auf völlig unprätentiöse Weise mit den realen Menschen und deren Lebensgeschichten, sie gehen scheinbar in deren Alltagswelt auf. Dieser dokumentarische Ansatz war es auch, der Frances McDormand, nachdem sie sich die Rechte am Buch gesichert hatte, zu Chloé Zhao führte. Denn diese hatte das so ähnlich schon in ihren ersten beiden Spielfilmen erprobt, in «Songs My Brothers Taught Me» (2015) und dann auch in «The Rider» (2017), einem zeitgenössischen Western über fragile Männlichkeit im Rodeomilieu. So ist jeder der bislang drei Filme von Chloé Zhao in das reale soziale Umfeld eingebettet, aus dem sie jeweils die Geschichte entwickelte; gedreht mit kleiner Crew und kleinem Budget, die Figuren meist nicht mit Schauspielprofis besetzt, sondern mit den Menschen vor Ort, die gestaltete Versionen ihrer selbst spielen. Was so entsteht, ist ein behutsamer, kein kämpferischer Sozialrealismus.
Dass die gebürtige Chinesin damit nun ausgerechnet auch in Hollywood ungeheure Erfolge feiert, bis hin zum dreifachen Triumph bei den Oscars, ist allerdings nur auf den ersten Blick erstaunlich. Denn Chloé Zhao und ihr britischer Kameramann Joshua James Richards knüpfen unverkennbar an die grossen Traditionen des amerikanischen Kinos an und übersetzen diese in die Gegenwart: In ihren Filmen aktualisieren sie die klassische Ikonografie des Westerns, bei «Nomadland» überblenden sie diese zusätzlich mit der Bewegung des Roadmovies. Und indem sie diese mythologisch aufgeladene Bildwelt ganz konkret mit den ökonomischen und sozialen Realitäten von heute verweben, zeigen sie, dass sich dieses genuin amerikanische Kino noch längst nicht überlebt hat.
Das eigene Verschwinden proben
Nun gehört zu dieser Wirklichkeit heute auch ein Grosskonzern wie Amazon. Denn wo einst Fabriken standen, erstrecken sich jetzt die Hallen des Versandhandels. Und wo einst produziert wurde, wird jetzt nur noch abgepackt. Auch Fern arbeitet im Film zeitweise für Amazon, in einem Gelegenheitsjob als Packerin. Und weil Chloé Zhao sogar die Erlaubnis bekam, in einem Versandzentrum zu drehen, und das Logo von Amazon auch einmal gross im Bild zu sehen ist, hat sich im Vorfeld der Oscarverleihung eine etwas künstliche Kontroverse entzündet. Angeheizt wurde diese auch vom Journalisten Alec MacGillis, der dem Film in der «Los Angeles Times» ankreidete, dass darin die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen beim Onlineriesen verschleiert würden.
Schon klar, MacGillis weiss da sehr genau Bescheid, als Autor des Buchs «Ausgeliefert: Amerika im Griff von Amazon». Dass man in seinem Sachbuch wie auch bei Jessica Bruder mehr erfährt über die Arbeitsbedingungen bei Amazon? Na, hoffentlich. Der unterschwellige Vorwurf aber, Chloé Zhao zeige die Arbeit im Versandhaus in so günstigem Licht, dass man danach gleich bei Amazon würde anheuern wollen, ist trotzdem absurd. «It’s good money», sagt Fern im Film einmal über ihren Job bei Amazon. Für sich genommen, mag das wie ein PR-Satz klingen, aber in der Logik der Figur ist er wahr: Natürlich ist ein bisschen Geld «good money» für jemanden wie Fern, wenn sie sonst kaum welches hat.
Vor allem ist «Nomadland» eben nicht einfach ein Film über die sozialen Verheerungen des Plattformkapitalismus. Ein Film über Arbeit, das schon, über Altersarmut und über die Gig Economy, über die «working poor» und ihre fehlende soziale Absicherung. Aber, auch das macht diesen Film so herausragend: Er lässt sich nicht auf einen vermeintlichen Kern reduzieren, alles darin scheint gleichermassen wichtig. Und so ist «Nomadland» immer auch ein Film über die Trauer, über die Sehnsucht nach dem offenen Horizont und nicht zuletzt auch: über die Ungebundenheit einer Frau, die nach dem Wegbrechen ihrer Basis versuchen muss, ihre wirtschaftliche Unsicherheit in eine prekäre Form von Freiheit zu verwandeln. Wie genau, weiss sie selber nicht. Sie weiss nur, dass ihr nichts anderes übrig bleibt.
Wenn die Verheissungen des amerikanischen Traums verpufft sind, hält vielleicht wenigstens das weite Land noch, was es verspricht, dieser unverwüstliche Topos der amerikanischen Mythologie? Aber auch diesen zeigt «Nomadland» nicht etwa als Selbstfindungstrip, wie das im Roadmovie längst zum Klischee geworden ist. In einer der schönsten Szenen probt Fern das Gegenteil: ihr eigenes Verschwinden. Aus dem Affekt heraus läuft sie einfach davon, ins natürliche Labyrinth einer Felswüste. Kurze Schritte im langen Rock, zielstrebig im Dämmerlicht ins Ziellose hinein. Eine Ahnung von Ekstase in ihrem Gesicht, als sie der Welt abhandengekommen, also angekommen ist. Und dann scheint sie doch erleichtert, als sie wieder gefunden wird.
Radikal nomadischer Geist
Gleichwohl scheint gerade die linke Kritik mit «Nomadland» so ihre Probleme zu haben. Etwa beim «Jacobin», dessen Kritikerin den Film zwar für seine emotionale Kraft lobte, aber als politisch verwerflich verurteilte. Oder auch beim grossen Onlinemagazin «Slate», wo ein Kritiker monierte, dass Fern gegen Ende ein grosszügiges Angebot für eine feste Bleibe ausschlägt: Spätestens ab diesem Moment sei ihr nomadisches Leben in Armut ihre eigene Entscheidung. Doch das ist Unfug und vor allem auch geschlechterpolitisch reaktionär: Wenn ein zweifelsfrei guter Mann (gespielt von David Strathairn aus «Good Night, and Good Luck») ein so komfortables Angebot macht, soll die Frau das also gefälligst annehmen und um ihrer wirtschaftlichen Sicherheit willen unter seinem Dach wieder schön häuslich werden? Ein Rückfall in alte Muster, das kanns ja wohl nicht sein.
Aber ist der Film auch politisch genug? Oder verflüchtigt sich jede kritische Note im Glanz der Abendsonne und in einer extrem befristeten und letztlich apolitischen Geselligkeit, die hier als Solidarität ausgegeben wird? Das ist jedenfalls der gemeinsame Kern all dieser Einwände, die spätestens seit dem Vorlauf zu den Oscars immer wieder gegen «Nomadland» vorgebracht wurden: dass sich nicht zuletzt deshalb alle Welt inklusive der superprivilegierten Hollywood-Bubble auf diesen Film einigen kann, weil er in einer Zeit allseitiger Verschärfungen politisch so unverfänglich und vage bleibe. Nur: Der Film spielt ja explizit im Jahr 2011. Die wirtschaftlich abgehängten Weissen, von denen er handelt, wissen da noch gar nichts davon, dass man sie einige Jahre später als soziologische Chiffre herumbieten wird, die erklären sollte, wie einer wie Donald Trump zum Präsidenten gewählt werden konnte.
Ja, «Nomadland» ist eine sehr weisse – und innerhalb dieses Milieus auch auffällig einträchtige – Studie aus einem Land, von dem es heute bei jeder Gelegenheit heisst, es sei heillos zerrissen. Ja, mit seiner Überdosis Abendsonne streift der Film gerne mal die Grenze zum Kitsch. Wobei: Wirklich sentimental in «Nomadland» sind nur die daunenweichen Pianoklänge von Ludovico Einaudi, dessen Soundtrack klingt, als sei er für einen anderen, viel flauschigeren Film komponiert worden.
Aber nur weil «Nomadland» so gar nichts Didaktisches hat, heisst das noch lange nicht, dass der Blick des Films politisch getrübt wäre. Und nur, weil er in seinem Gestus so gar nichts Anklägerisches hat, muss man einem Film ja nicht gleich vorwerfen, dass er etwas feiner gestimmt ist, als man das vielleicht gern hätte. «You take care of yourself»: Auch das Flüchtige ist politisch, man muss es nur hören und sehen wollen. Selbst die Romanze, wenn man sie denn unbedingt so nennen möchte, bleibt ja vage in diesem Film, bei aller Zutraulichkeit, die sich zwischen Fern und ihrem Weggefährten auf Zeit entwickelt. Und gerade der radikal nomadische Geist von «Nomadland» offenbart sich eben auch darin, wie der Film mit Frances McDormand als Gravitationskern seine Themen und Motive streift: Sie kommen und gehen, sie gehen vorüber und kommen wieder.
Da sind die ökonomischen Verwerfungen im Hintergrund, die dafür sorgen, dass Fern ihr Haus verliert, in der Personalsiedlung der Fabrik in Empire. Da ist die Gemeinschaft, die sie dann als Neuling bei den «Nomads» findet, diese eigentümliche Mischung aus solidarischem Miteinander und Eigenbrötlertum derer, die sich von jeglichem kapitalistischen Verwertungszusammenhang abgenabelt haben, freiwillig oder auch nicht. Da ist immer wieder die harte Arbeit, die Fern als ungelernte Hilfskraft verrichten muss, im Versandhaus, bei der Zuckerrübenernte oder in der Grossküche eines Restaurants. Und da ist immer auch, meist unausgesprochen, Ferns Trauer über den Tod ihres Mannes. Eine Trauer, die vielleicht auch ein verkapptes Bedauern darüber birgt, dass sie so lange bei ihm geblieben ist, wo doch gleich hinterm Haus schon die ganze Zeit das weite Land gewartet hatte.
Ein Segelboot in der Wüste
Die ganze Bewegung also auch eine Flucht? Unterwegssein als eine Form von Trauerarbeit? Kommt wieder ganz darauf an, wen man fragt. Als Fern zu ihrer gut situierten Schwester fährt, um von dieser Geld für eine Reparatur zu leihen, muss sie sich von ihrem Schwager und dessen Maklerfreund gleich mal selbstgerechtes Geschwätz über die Segnungen des Immobilienmarkts anhören. Fern reagiert wütend und widerspricht, der berechtigte Zorn hat also durchaus seinen Platz in diesem sehr lyrischen Film. Zu Gast im Einfamilienhaus, wird die Vagabundin dann auch sauber in den passenden kulturellen Rahmen einsortiert: Diese Nomads, so meint die Schwester zu Fern, würden mit ihrem Lebensstil ja eine uramerikanische Tradition aus der Pionierzeit wachhalten. Was als historische Einordnung sicher nicht falsch ist – und trotzdem furchtbar herablassend klingt, weil sie verkennt, wie viele dieses nomadische Leben auch deshalb führen, weil sie sich ein anderes gar nicht mehr leisten könnten.
Natürlich gibt es auch die anderen, wie die ältere Frau in «Nomadland», die von ihrem Mann erzählt, der immer davon geträumt habe, dereinst mit seinem Segelboot in See zu stechen. Aber dann war er tot, kaum war er pensioniert – ein Leben lang Arbeitstier, dann die Leber kaputt, fertig. Ihr sollte das nicht passieren, sagt die Frau nun, und dann folgt wieder so ein flirrender Satz: «Mein Segelboot ist hier draussen in der Wüste.» Was sie damit sagen will: Sie hat nicht mehr gewartet mit ihren Träumen; ihr Boot ist jetzt der Camper, und die Wüste ist die See, auf der ihr Mann nie segeln konnte. Eine Metapher vom gelebten Glück also, dieser Satz. Aber es wohnt doch immer noch auch die Trauer in ihm. Und gibt es etwas Traurigeres als ein Segelboot in der Wüste?
«Vanguard», so hat Fern übrigens ihr mobiles Daheim getauft. Ein Wortspiel, mit dem sie aus ihrem Van eine Leibgarde macht, ihren persönlichen Bodyguard. Aber eigentlich hat «Vanguard» ja eine andere Bedeutung: Vorhut, Avantgarde. Fern macht sich so zur Vorreiterin in unsicheren Zeiten. Vorreiterin von was genau? Das weiss sie selber noch nicht.
Ab 10. Juni 2021 im Kino.
Nomadland. Regie und Drehbuch: Chloé Zhao. USA 2020