EU-Asylpakt: Was kostet ein Mensch?

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Sie kamen gleich zu dritt nach Tunis, und sie brachten sehr viel Geld mit: Eine Milliarde Euro versprachen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die italienische Regierungschefin Giorgia Meloni und ihr niederländischer Amtskollege Mark Rutte am vergangenen Sonntag dem tunesischen Autokraten Kais Saied. Das Geld ist einerseits Wirtschaftshilfe, soll aber auch zur Abwehr von Geflüchteten eingesetzt werden. Dies unter Achtung der Menschenrechte, wie von der Leyen betonte. Wohl wissend, dass Saied erst im Februar in einer pogromartigen Verhaftungsaktion Tausende Migrant:innen aus Subsahara-Staaten aus dem Land jagen liess.

Der Besuch steht sinnbildlich für das Gemeinsame Europäische Asylsystem (Geas), das die Innen- und Justizminister:innen der EU unter Mitwirkung der Schweiz letzte Woche beschlossen haben. Nie war die Rede von der «Festung Europa» so gerechtfertigt wie nach der Einigung über dieses Regelwerk, zu dessen Umsetzung an der EU-Aussengrenze Haftzentren mit 30 000 Plätzen geschaffen werden sollen. Es verschiebt zudem, als postkoloniales Herrschaftsinstrument, die Grenze Europas sukzessive weiter in den Süden.

Diese Auslagerung der Asylpolitik begann schon mit dem Deal mit der Türkei, wie er nach dem «Flüchtlingssommer» 2015 verhandelt wurde. Sie zeigt sich mittlerweile auch in der Sahara, wo die EU etwa im Niger die Grenzaufrüstung finanziert. Und doch läutet das Geas eine neue historische Phase ein, mit alarmierenden Prämissen: Das Asylrecht, begründet nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs als individueller Schutz vor Verfolgung, wird damit ausgehebelt.

Im Zentrum der Asylpolitik stehen künftig Schnellverfahren an der EU-Aussengrenze. Entscheidend werden in diesen nicht die Fluchtgründe im Einzelfall sein. Wer aus einem Land kommt, bei dem die Schutzquote weniger als zwanzig Prozent beträgt, beispielsweise aus Marokko, wird in ein zwölfwöchiges Schnellverfahren geschleust, auf das eine ebenfalls zwölfwöchige Ausschaffungshaft folgen kann. Personen, die sich nichts anderes als einen Grenzübertritt ohne gültigen Pass zuschulden kommen liessen, können also bis zu einem halben Jahr inhaftiert werden! Auch Familien mit Kindern sind betroffen.

Mehr noch: Ins Schnellverfahren können auch Personen gelangen, die einen Bezug zu einem angeblich sicheren Drittstaat ausserhalb der EU aufweisen. Als Bezug soll bereits der Transit durch ein Land genügen. Die griechischen Migrationsbehörden könnten also eine flüchtende Eritreerin in die Türkei zurückweisen, ohne ihr Gesuch individuell zu prüfen. Damit sind auch Kettenrückschaffungen programmiert, die das im Asylrecht grundlegende Non-Refoulement-Prinzip verletzen: Personen dürfen nicht in Staaten zurückgeschafft werden, in denen ihnen Verfolgung droht.

Überhaupt sind die Beschlüsse praktisch betrachtet der blanke Wahnsinn. Schon heute verursacht die Grenzsicherung entlang des Mittelmeers – zu der neben Hightechzäunen auch illegale Pushbacks gehören – jedes Jahr den Tod Tausender Menschen. In dieser Zone des Unrechts werden nun Gefangenenlager ohne juristische oder politische Kontrollmechanismen gebaut.

Der Asylpakt ist nicht etwa die Folge von nicht zu bewältigenden Flüchtlingszahlen, sondern von deren rechtspopulistischer Bewirtschaftung. Das zeigten die Verhandlungen: Das postfaschistisch regierte Italien gab den Ton an. Die schwedische Verhandlungsleiterin, deren Regierung auf die Unterstützung der rechtsnationalen Schwedendemokraten angewiesen ist, drängte auf Einigung. Die deutsche SPD-Justizministerin machte mit, wohl in der Hoffnung, den Aufstieg der AfD zu bremsen. Und die neue Schweizer SP-Justizministerin? Elisabeth Baume-Schneider begrüsst die «Stossrichtung».

Die Ausrede zum Mitmachen: Endlich habe man einen Verteilmechanismus für Asylsuchende innerhalb der EU erreicht, gegen das Veto von Ungarns Autokrat Viktor Orbán. Bloss: Die Mitgliedstaaten können sich von der Verpflichtung freikaufen, eine:n Asylsuchende:n aus den Grenzstaaten zu übernehmen. Mit Geld, das in die Grenzbefestigung gesteckt wird. Das Verwerflichste an der Einigung ist, dass ein Mensch aus dem Globalen Süden – wohl zum ersten Mal seit der Abschaffung der Sklaverei – wieder einen exakten Preis hat: 20 000 Euro kostet es, jemanden abzuweisen.

Mit ihrem Plan vergeben die reichen, überalterten Gesellschaften des Nordens auch die Chance, mit dem afrikanischen Kontinent eine gemeinsame, zukunftsgerichtete Asyl- und Migrationspolitik zu entwerfen. Zwar muss das Abkommen noch durch das Europaparlament, dieses aber dürfte lediglich Korrekturen anbringen. Die einzige Hoffnung, die bleibt: dass die Abschottungsfantasien an der Realität zerbrechen und nicht alle Regierungen im Süden gegen Milliardenzahlungen Rückübernahmeabkommen billigen. Doch die Hoffnung schmeckt bitter: Den Preis für immer gefährlichere Routen zahlen die Menschen, die unterwegs sind, sei es auf der Flucht vor Verfolgung – oder auf der berechtigten Suche nach ihrem Anteil am Glück.

Europäisches Asylsystem: Der Bundesrat im Widerspruch

Wenn sich die Justiz- und Innenminister:innen der EU-Staaten treffen, sitzt die Schweiz jeweils am Katzentisch. Sie darf mitdiskutieren, aber nicht mitbestimmen. Am Entscheid über das Gemeinsame Europäische Asylsystem hätte sie sowieso kaum etwas ändern wollen.

In einer Mitteilung begrüsst Justizministerin Elisabeth Baume-Schneider (SP) das Abkommen als «Meilenstein». In den Verhandlungen habe sie bezüglich Schnellverfahren in Haftzentren betont, «dass die Rechtsstaatlichkeit, die Menschenrechte und die Verfahrensgarantien auf jeden Fall gewährleistet sein müssen». Weil das Abkommen keine Weiterentwicklung der Schengen- und Dublin-Verträge ist, muss sich die Schweiz rechtlich nicht am ausgehandelten Verteilmechanismus für Asylsuchende beteiligen. Sie habe aber den anderen Dublin-Staaten zugesichert, sich wie bisher solidarisch zu zeigen.

Die Schweizer Flüchtlingshilfe kritisiert das neue Abkommen deutlich: «Der 8. Juni markiert einen schwarzen Tag für die Menschenrechte in Europa.» Bereits früher hat sie auf die Widersprüchlichkeit des Bundesrats hingewiesen. Was er an der EU-Aussengrenze billigend in Kauf nehme, lehne er an der eigenen Grenze zu Recht ab. So fordert der rechtsextreme SVP-Politiker Andreas Glarner in einem Vorstoss, dass Asylgesuche in der Schweiz nur noch in «Transitzonen» an der Grenze geprüft werden sollen. Dies käme einer Eingrenzung oder Internierung gleich, hält der Bundesrat fest. «Ohne das Bestehen konkreter Haftgründe und nur aufgrund des Umstandes, dass eine betroffene Person ein Asylgesuch eingereicht hat, stellt eine solche Massnahme einen unverhältnismässigen Eingriff in die persönliche Freiheit dar.»

Medial fand das EU-Abkommen in der Schweiz mittelmässig Beachtung. Die Asylpolitik dreht sich wieder einmal um sich selbst: So hat der Ständerat diese Woche erneut Containerdörfer für Geflüchtete blockiert und provoziert absehbar eine Krise bei der Unterbringung, sollten die Asylzahlen über den Sommer steigen.