Tamedia vs. «Megafon»: Wer cancelt hier eigentlich wen?

Nr. 27 –

Tamedia reicht gegen die kleine «Megafon»-Redaktion der Berner Reithalle Strafanzeige ein, wie Chefredaktor Arthur Rutishauser in den Blättern des Konzerns verkündete. Tamedia-Journalistin Michèle Binswanger hatte in einem Interview mit dem Publizisten Stefan Aust über angebliche linke Cancel Culture behauptet, dass als rechts zu gelten heute ein «gesellschaftliches Todesurteil» bedeute. Das «Megafon» hatte daraufhin ein Enthauptungsbild aus der Französischen Revolution ins Netz gestellt, auf dem es den abgetrennten Kopf mit jenem von Binswanger ersetzt hatte, um auf die Tragweite des verwendeten Begriffs anzuspielen.

Das «Megafon» sah kurz darauf selber ein, dass es eine Grenze überschritten hatte – und nahm das Bild vom Netz. Es wecke Assoziationen von Angriffen auf JournalistInnen und habe eine Frau zur Zielscheibe gemacht, schrieb die Redaktion, dies dürfe nicht sein. Der Tamedia ist das egal: Spätestens seit «Charlie Hebdo» müsse man sich überlegen, «welche Folgen sein Tun» haben könne, begründet Rutishauser die Strafanzeige, bevor er gegen Netzaktivistin Jolanda Spiess-Hegglin vom Leder zog, die das Bild gelikt hatte. Ein Teil der Linken sei so intolerant, dass er auf jeglichen Anstand verzichte und Volksverhetzung betreibe, wie man sie von Rechtsextremen erwarte – und «wie wir sie eigentlich seit 1945 bei uns überwunden glaubten».

Obwohl Rutishauser den letzten Halbsatz später – seinerseits kommentarlos – löschte, ist der Nazivergleich ein Zeugnis dafür, auf welch intellektuell bedenklichem Niveau man als Chefredaktor eines Medienhauses inzwischen argumentieren kann. Vor allem fehlt es seinem Vorgehen an Glaubwürdigkeit: Schliesslich ist es das Tamedia-Medium «20 Minuten», das das «Megafon»-Bild bis heute unter einem Artikel im Netz verbreitet. Der Milliardenkonzern – der mit seiner Medienmacht notabene jede erdenkliche Meinung verbreiten kann – ist vielmehr daran, unter dem Vorwand der Meinungsfreiheit eine kleine Zeitung ohne finanzielle Mittel in die Knie zu zwingen – während Tamedia «Charlie Hebdos» abverreckte Satire doch so gerne als Akt der Freiheit lobt.

Das ist die wahre Cancel Culture.