Auf allen Kanälen: Unterwandertes Land

Nr. 28 –

Der Mordanschlag auf den Investigativreporter Peter R. de Vries zeigt, wie organisierte Kriminalität Rechtsstaat und Pressefreiheit unter Druck setzt.

Peter R. de Vries

Der Anschlag hätte symbolträchtiger nicht sein können: Im Zentrum von Amsterdam, auf offener Strasse und am hellichten Tag wurde Peter R. de Vries, der bekannteste Kriminalitätsreporter der Niederlande, in den Kopf geschossen. Das organisierte Verbrechen verhüllt seine Aktivitäten in diesem Land nicht länger. Seine Abrechnungen und Auftragsmorde beschränken sich nicht länger auf Aussenbezirke und auf die Protagonisten des sogenannten Milieus: eine Tendenz, die sich seit langem abzeichnet, die jedoch nur sporadisch wahrgenommen wurde. Nach diesem 6.  Juli 2021 kommt aber niemand mehr um diese Erkenntnis herum.

Befreundet mit dem Entführer

Näheres zu de Vries’ Zustand ist bisher nicht bekannt. Offensichtlich aber ist, dass die Niederlande ein gewaltiges Problem haben, das sowohl den Rechtsstaat als auch die Pressefreiheit ernsthaft unter Druck setzt. Durch das Attentat erscheint das Land in einer Reihe mit Malta, wo 2017 Daphne Caruana Galizia einer Autobombe zum Opfer fiel, oder der Slowakei, die 2018 die Ermordung Jan Kuciaks und seiner Verlobten Martina Kusnirova beklagte. Zumal im Ausland, wo man den Niederlanden gerne ihre liberale Cannabispolitik vorhält, festigt sich das Bild eines Narkostaats an der Nordsee.

Die Karriere des omnipräsenten Starjournalisten spiegelt die Entwicklung wider: Wo ein unaufgeklärter Fall war, war Peter R. de Vries meist nicht weit. Zugleich ist sein Name mit der organisierten Kriminalität älterer Schule verbunden. So war er mit einem der Entführer des Brauereidirektors Freddy Heineken später befreundet. Einen anderen, Francisco Meijer, spürte er in Paraguay auf und ging mit dem Satz «Hallo Frans, wie geht es dir?» auf ihn zu. Die heutigen Dimensionen sind gänzlich anders. Der Kokainkrieg um die sogenannte Mocro Maffia überzog das Land in den letzten Jahren mit Abrechnungen, von denen man lange kaum Notiz nahm, da sie vermeintlich «nur im kriminellen Milieu» stattfanden.

Entsprechend gross war der Schock, als im September 2019 der Anwalt Derk Wiersum in Amsterdam erschossen wurde. Wiersum sollte den Kronzeugen Nabil B. im «Marengo- Prozess» gegen siebzehn Verdächtige vertreten. Seine Ermordung wurde weithin als «Anschlag auf den Rechtsstaat» interpretiert. De Vries gehört seit 2020 als Vertrauensperson zur Verteidigung des besagten Kronzeugen. In dieser Tätigkeit sah er ein «Signal»: Er wollte «zeigen, dass so ein Verbrechen sich nicht lohnt und keinen Sinn hat», weil andere den Platz der Ermordeten einnehmen. Personenschutz lehnte er ab – er wollte sein Leben nicht diesen Umständen unterwerfen. Dabei wusste er, dass er auf einer Todesliste der Organisation stand.

Mexikanische Kartelle im Spiel

Bekannt sind die Niederlande inzwischen auch als Standort von Drogenlaboren. 2020 wurden 108 aufgedeckt, 20 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Dass es im Land einiges an Expertise zur Produktion von Ecstasy oder Speed gibt, ist nicht neu. In den letzten Jahren hat zudem der niederländische Anteil am internationalen Crystal-Meth-Markt stark zugenommen: 10 solche Labore entdeckten die niederländischen Behörden 2019, letztes Jahr waren es bereits 32. Oft waren diese Labore in Scheunen oder Schuppen in abgelegenen ländlichen Gebieten. Im Süden des Landes war laut einer Umfrage 2020 jedeR fünfte der knapp 700 teilnehmenden BäuerInnen schon von Kriminellen kontaktiert worden, im ganzen Land sind es einer Untersuchung von 2018 zufolge 15 Prozent. Die Sorge vor einer Unterwanderung der Gesellschaft von der Peripherie her ist entsprechend gewachsen.

Besorgnis löst auch die Tatsache aus, dass bei besagten Crystal-Meth-Laboren mehrfach mexikanische Spezialisten angetroffen wurden. Diese bringen offenbar Fachkenntnis mit, die einheimischen Produzenten bislang fehlte. KriminologInnen befürchten, dass ihre Präsenz auf eine Zusammenarbeit mit mexikanischen Kartellen schliessen lässt. Die entscheidende Frage ist, ob niederländische Organisationen die Spezialisten angefordert haben oder ob sie aus Mexiko geschickt wurden.

Nach dem Attentat auf Peter R. de Vries gibt es derweil weitere beunruhigende Nachrichten: Auf das gleiche RTL-Studio, in dem er vor dem Mordversuch zu Gast war, sollte letztes Wochenende ein Anschlag verübt werden. Die Sendung wurde abgesagt. Inzwischen läuft der Betrieb wieder – von einem geheimen Ort aus.