«War on Drugs» in den Niederlanden und Belgien: Container voller berauschender Probleme

Nr. 20 –

Regulierung oder Repression? Seit Jahren sind Europas Nordseehäfen Einfallstore für Kokainschmuggel – mit dramatischen Folgen für die Städte der Region. Amsterdam und Antwerpen plädieren für konträre Ansätze.

Container-Hafen in Antwerpen
Antwerpen läuft Rotterdam den Rang als wichtigster Importhafen für Kokain ab. Doch achtzig Prozent der Drogen aus Südamerika, die hier in Belgien ankommen, werden in die Niederlande verschoben.

Femke Halsema hat genug. Fünfzig Jahren daure der «war on drugs», der internationale Kampf gegen die Drogenkartelle, nun an, so die Amsterdamer Bürgermeisterin bei einer Konferenz im Januar. «Und was hat er gebracht? Weltweit gibt es mehr Gewalt, mehr Drogen auf dem Markt, unsere Wirtschaft wird mit illegalem Geld infiziert, unser Justizsystem überladen. Wir können so nicht weitermachen! Ist es nicht die Definition von Wahnsinn, immer wieder das Gleiche zu tun und davon andere Ergebnisse zu erwarten?»

Andere Ergebnisse – das ist es, was die Bürgermeisterin will. Darum organisierte sie die Konferenz mit dem Titel «Dealing with Drugs – Städte und die Suche nach Regulierung» in der ehemaligen Börse von Amsterdam. Das Ziel, das sie dort vorgab: «eine Koalition der Willigen» schmieden und Ansätze diskutieren, «bei denen nicht Repression im Zentrum steht, sondern die öffentliche Gesundheit und der Schutz von Konsumenten, insbesondere Jugendlichen». Zu den Teilnehmer:innen zählten auch Claudia López, frühere Bürgermeisterin von Bogotá, Ann Fordham, Direktorin des NGO-Netzwerks International Drug Policy Consortium, und der Berner Stadtpräsident Alec von Graffenried.

Eskalierende Gewalt

Am Ende stellten die Teilnehmer:innen das «Amsterdam Manifesto» vor, eine Absage an eine rein repressive Drogenpolitik, die organisierte Kriminalität begünstige und Gewalt eskalieren lasse. Sie forderten stattdessen die «Entkriminalisierung und das Regulieren von Drogenmärkten, um zu verhindern, dass kriminelle Netzwerke den Sektor ausbeuten oder dominieren». Die neue Drogenpolitik solle sich an «öffentlicher Gesundheit und Menschenrechten, sozialer Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit» orientieren. Eingeführt werden soll sie mit Vorsicht, basierend auf wissenschaftlicher und empirischer Erkenntnis.

Auch in einem Essay im «Guardian» hat sich Halsema für diesen Ansatz starkgemacht – und gewarnt: Die Niederlande könnten andernfalls zum «Narkostaat» werden. Was sie damit meint, zeigt sich in niederländischen Städten zunehmend drastisch. Der Kampf um den illegalen Drogen-, vor allem den Kokainmarkt, fordert regelmässig seinen Blutzoll. Seit März 2012 eskaliert die Gewalt (vgl. «Banden setzen den Rechtsstaat unter Druck»). Damals wurde einer Amsterdamer Bande eine 200-Kilo-Lieferung, die im Hafen von Antwerpen angekommen war, entwendet. Seither häufen sich in Amsterdam und Rotterdam Auftragsmorde sowie Brandanschläge auf Häuser. Letztere fordern in der Regel keine Opfer, doch die Einschüchterung, die sie bezwecken, trifft auch das soziale Umfeld ihrer Adressat:innen.

Auch im belgischen Antwerpen steigt die Gewalt. Die Stadt läuft Rotterdam zunehmend den Rang als Einfuhrhafen für Kokain ab, obwohl die Händler zum grössten Teil niederländische sind. In der Hafenmetropole gab es 2017 eine erste Serie von Anschlägen. In jenem Jahr beschlagnahmte der Zoll im Antwerpener Hafen 38 Tonnen Kokain – 2013 waren es noch fünf gewesen. Johan Vermant, Sprecher von Bürgermeister Bart De Wever, erinnert sich an die Anschlagsserie im Jahr 2017: «Wir erlebten sehr gezielte Gewalt, Explosionen an Haustüren.» All dies habe sich zwar zu hundert Prozent im Milieu der Drogenkriminalität abgespielt. Doch sei es auch zu Verwechslungen gekommen, «etwa weil es manche Strassennamen mehrfach gibt und die Leute, die man für solche Anschläge anheuerte, ohne Ortskenntnis irgendwo mit einer Granate abgesetzt wurden».

«Dicht, aber nie wasserdicht»

Inzwischen beträgt die jährlich beschlagnahmte Menge Kokain in Antwerpen 116 Tonnen, gegenüber 45,5 Tonnen in Rotterdam. Die Behörden schätzen, dass die beschlagnahmte Menge nur zwanzig Prozent des totalen Schmuggelvolumens in diesen Häfen ausmacht. Vermant holt weit aus, um diesen Anstieg zu erklären: «Seit 2017 wird vor allem in Kolumbien, dem grössten Produktionsland, viel mehr Kokain produziert. Die Niederlande ergriffen schon vor zehn Jahren Massnahmen gegen den Schmuggel, weil sie Probleme mit Abrechnungen und Verwechslungsmorden hatten. Sie waren früher mit diesem Phänomen konfrontiert als wir in Belgien.» Im Hafen von Rotterdam setzte die Polizei spezielle Teams ein, um die meist jungen Menschen aufzugreifen, die angeheuert werden, um die Lieferungen nachts zu bergen. So verlagerte sich das Geschehen nach Antwerpen.

Der dortige Hafen, auf beiden Seiten der Schelde gelegen und nach Rotterdam der zweitgrösste Europas, ist spezialisiert auf den Handel mit Südamerika. Ein grosser Teil der Importware ist Obst, das rasch transportiert werden muss, weshalb nicht jeder Container gründlich kontrolliert werden kann. Vermant nennt noch andere Aspekte, die den Import illegaler Drogen über den Hafen von Antwerpen begünstigen: «Der Hafen in Rotterdam gleicht einem Trichter, durch den eine grosse Strasse führt. Er ist sehr übersichtlich. Der Hafen von Antwerpen dagegen hat mehr Zufahrtswege. Dazu liegt er sehr nahe an der niederländischen Grenze. Achtzig Prozent des Kokains gelangen von hier innert 24 Stunden in die Niederlande, die noch immer das Distributionsland für die Drogenimporte sind.» Bürgermeister De Wever sagte einmal: «Man kann den Hafen dichter machen, aber man bekommt ihn nie wasserdicht.»

In Belgien wurde die Situation lange als lokales Antwerpener Problem angesehen. Mit der ersten Anschlagsserie, erzählt Rathaussprecher Vermant, begann man die Zusammenarbeit von Zoll, Staatsanwaltschaft und verschiedenen Polizeieinheiten zu koordinieren. Bis diese funktionierte, dauerte es freilich seine Zeit. Im Frühjahr 2021 entschlüsselte die Polizei dann den Chatservice Sky ECC, der von Kokainbanden stark genutzt wurde. Es kam zu rund 200 Hausdurchsuchungen und weit über 500 Ermittlungen gegen mehr als 4400 Verdächtige. Der Bürgermeister und seine Familie erhielten Polizeischutz.

Im Sommer 2022 kam es in Antwerpen zu einer neuen Welle von Anschlägen: Explosionen an Fassaden und Türen, manche Häuser wurden beschossen. Wie in den Niederlanden gab es dabei zunächst keine Verwundeten. Im September jedoch wurde gar ein Plan aufgedeckt und vereitelt, Vincent van Quickenborne, den belgischen Justizminister, zu entführen. Sechs festgenommene Verdächtige kamen aus den Niederlanden – genau wie ein grosser Teil derjenigen, die nach Anschlägen auf Häuser oder im Hafen festgenommen wurden. Im Januar 2023 eskalierte die Situation: Im Viertel Merksem wurde die Garage eines Hauses mit einer Kalaschnikow beschossen. Ein elfjähriges Mädchen, das sich dahinter aufhielt, kam ums Leben.

«Danach war die gesellschaftliche Empörung so gross, dass man die Sache in Brüssel nicht mehr als Antwerpener Problem abtun konnte», blickt Vermant zurück. Die Regierung ernannte eine Staatsanwältin zur Nationalen Drogenkommissarin. Zudem bündelten die Verantwortlichen in Antwerpen und Rotterdam ihre Kräfte: Sie tauschen seither Strategien und Polizeiinformationen aus. Die Bürgermeister De Wever und Ahmed Aboutaleb reisten gemeinsam nach Südamerika, um die Lage in den Produktionsländern kennenzulernen und Kontakte zu knüpfen.

Schlag gegen die Kriminellen

Auch Yve Driesen, Direktor der Föderalen Kriminalpolizei Antwerpen, bestätigt, dass sich im Hafen viel getan habe. Seine eigene Einheit, konzentriert auf organisiertes Verbrechen, widmet sich der Recherche und arbeitet mit Partnern wie der Hafenbetreiberin und im Hafen ansässigen Unternehmen zusammen, um das Vorgehen der Schmuggelbanden zu analysieren und «Barrieren» gegen den Kokainimport zu errichten. Das Hacken von Sky ECC war «ein herausragendes Beispiel für diesen integrierten Ansatz», so Driesen. «Natürlich steht die Welt danach nicht still. Die Kriminellen haben sich angepasst und versuchen, andere Arten zu finden, um Kokain nach Europa zu schaffen. Es geht um Milliardenbeträge, das stoppt man nicht einfach so. Aber damit haben wir ihnen doch einen Schlag zugefügt.»

Zugleich ist Driesen, seit 2020 im Amt, Realist genug, um sich der Grenzen bewusst zu sein, innerhalb deren er operiert. 400 der durchschnittlich 1200 Ermittlungen, die bei seiner Einheit im Jahr anfallen, hätten direkt mit Drogenschmuggel zu tun. Hinzu kämen damit verbundene Gewaltverbrechen, Korruption und Geldwäsche. Insgesamt binde dies 65 Prozent der Kapazitäten. «Der Kokainimport im Hafen hat einen grossen Effekt auf unsere Arbeit. Wenn wir uns darauf konzentrieren, haben wir weniger Kapazitäten für andere Bereiche. So müssen wir mit dem Personal und den Mitteln, die wir haben, Entscheidungen treffen. Eigentlich wächst uns das Ganze über den Kopf.»

Ein Beispiel, das dies verdeutlicht, ist das im letzten Jahr gegründete Hafensicherungskorps, das nicht auf Recherche, sondern auf direkte Sicherheitsmassnahmen ausgerichtet ist. Mit Erfolg: Die Zahl der «Einsteiger», die irgendwo auf einem Quai über einen Zaun klettern, um Kokain aus einem bestimmten Container zu holen, sei deutlich gesunken, so Driesen. «Doch dafür haben sie nun eine neue Methode: den ‹trojanischen Container›.» Gemeint ist damit ein leerer, primitiv eingerichteter Frachtcontainer, in dem es sich zwei bis drei Tage ausharren lässt. Der Container samt Insasse wird unbemerkt in ein Terminal gebracht, wo wenig später eine Lieferung Kokain ankommt. Die wartende Person bringt diese dann aus dem Hafen. «Das ist ein neuer Modus Operandi, und darauf folgt wieder ein anderer. Es ist eine ‹never-ending story›. Ich sehe aber keine Alternative zu diesem Vorgehen. Bis die Banden irgendwann vielleicht beschliessen, dass es in Antwerpen zu schwierig wird, und auf andere Häfen ausweichen.»

Nächster Hub: Hamburg

200 Kilometer nördlich will Amsterdams Bürgermeisterin Femke Halsema diese vermeintliche Alternativlosigkeit hinter sich lassen. Der Weg zu Regulierung und Entkriminalisierung führt zunächst über sehr grundsätzliche Einwände. Im Amsterdamer Stadthaus trifft sich Mitte April die Kommission für Allgemeine Angelegenheiten. Diskutiert wird auch über Halsemas Konferenz. Ein rechtsliberaler Abgeordneter sorgt sich um die Sicherheit in der Stadt. Ein Christdemokrat fragt sich, ob die Bürgermeisterin, die sonst gerne Party- und Drogentourist:innen dazu aufruft, nicht nach Amsterdam zu kommen, damit nicht ihren eigenen Bemühungen entgegenwirke. Auch ertönt grundsätzliche Kritik daran, «Drogenkonsum normal zu finden». Und immer wieder kommt die Frage: Werden Kartelle, die mit dem Schmuggel illegaler Substanzen Millionen verdienen, diesen Markt einfach aufgeben?

Halsema hat auf diese Fragen offenbar gewartet. «Ich habe die Konferenz nicht organisiert, weil ich naive Ideen zu Drogenkonsum habe», betont sie. Auch erwarte sie nicht, dass sich das Problem in kurzer Zeit lösen lasse. Wie der ‹war on drugs› nie zu weniger Drogen geführt habe, bedeute auch Regulieren nicht automatisch weniger Konsum. Aber es gehe darum, Risiken zu minimieren. «Gerade wenn der Konsum eines Genussmittels mit Risiken verbunden ist, darf man den Markt dafür nicht Kriminellen überlassen.»

Die Diskussion wird weitergeführt. In Amsterdam, Rotterdam und Antwerpen. In kleineren Hafenstädten wie dem niederländischen Vlissingen oder im belgischen Gent, wo der Zoll in den letzten Monaten mehr Kokainlieferungen beschlagnahmte. In Portugal, wo Fahnder:innen bisweilen in Lissabon, Sines oder Setúbal fündig werden. Und ganz gewiss in Hamburg: Europas drittgrösster Hafen ist mit einiger Wahrscheinlichkeit der kommende grosse Importhub. Die beschlagnahmten Mengen steigen schnell an: 2019 waren es noch 9,5 Tonnen, im letzten Jahr knapp 34.

Dass man vor Ort die Signale längst wahrgenommen hat, zeigt eine internationale Konferenz zu Drogenschmuggel und Sicherheit, die Anfang Mai im Maritimen Museum in Hamburg stattfand. Vertreter:innen mehrerer europäischer und südamerikanischer Länder waren anwesend. Nancy Faeser, die deutsche Innenministerin, kündigte einen «maximalen Ermittlungsdruck auf die Kartelle» an. «Eine massive Gewaltspirale, wie wir sie in anderen europäischen Ländern schon erleben, müssen wir für Deutschland zwingend verhindern.»