Dossier Generalstreik: Brot, Geld und Frauenstimmrecht

Das Frauenstimmrecht nahm auf der Liste der Generalstreikforderungen den prominenten zweiten Platz ein. Dies erstaunt umso mehr, als sich die Genossen vorher nicht durch eine markante Solidarität mit den Frauen ausgezeichnet hatten.

Im Oltener Aktionskomitee (OAK), dem späteren Leitungsgremium des Generalstreiks, nahm bei seiner Gründung im Februar 1918 die Zürcherin Rosa Bloch-Bollag als einzige Frau Einsitz. Doch schon vor Sommerbeginn wurde sie von Fritz Platten abgelöst, und das OAK wurde damit zu einem reinen Männergremium. Trotzdem ist es vielleicht ihr zu verdanken, dass das Frauenstimmrecht im November in die Liste der Generalstreikforderungen aufgenommen wurde. Als redegewandte und öffentlich agierende Frau machte sie jedenfalls äusserst effektvoll auf sich aufmerksam und konnte damit in der Partei Einfluss gewinnen.

Die klassenbewusste Genossin

Rosa Bloch-Bollags erklärtes Ziel war nicht die Einführung des Frauenstimmrechts, schon eher das Ende der Ausbeutung und der Sieg des Proletariats, doch die rechtlich ebenbürtige Stellung der Frauen als klassenbewusste Genossinnen der Arbeiter war dabei selbstverständlich. «Und bei jedem Parteianlass, bei Sturm und Regen, bei Hitze und Kälte, ohne Hut, mit ihrem vollen, schönen Haare, ein Bündel Zeitschriften, Karten oder Sowjetfähnchen unter dem Arm, zog sie hinaus auf die Strasse, oder in die Versammlung, emsig kolportierend und kämpfend. Keine Gelegenheit liess sie vorübergehen, den Frauen zur Gleichberechtigung und Gleichstellung mit den männlichen Parteimitgliedern zu verhelfen, kein Amt, das einer Genossin offen stand, durfte unbesetzt bleiben, und wo die Türe sich verschloss, da hämmerte sie so lange und ausdauernd, bis sie sich auftat und sie stolz und glücklich neben den Genossen auch einer Genossin Platz hatte verschaffen können.» So charakterisierte Mentona Moser den Einsatz von Rosa Bloch-Bollag («Der Kämpfer» 17. 7. 22). Eine ähnliche Haltung zeigten ausser ihr eine ganze Reihe prominenter Sozialdemokratinnen, von der aus Russland stammenden Rosa Grimm über Angelika Balabanoff, die als «Drahtzieherin des Generalstreiks» 1918 ausgewiesen wurde, bis zur Lehrerin Agnes Robmann und zu Marie Walter-Hüni, der langjährigen Präsidentin des damals eben aufgelösten Arbeiterinnenverbandes.

In ihrem Organ «Die Vorkämpferin» beriefen sich diese Exponentinnen einerseits auf «die unerschrockene Genossin», anderseits auf «die Ausgebeutete», «L’Exploitée», wie das französischsprachige, aber bald eingegangene Pendant des Arbeiterinnenblattes geheissen hatte. So ist nicht nur das Bild der verhärmten und unter der Last der Sorgen zusammenbrechenden Mutter in der Ikonografie der Arbeiterbewegung präsent, sondern ebenso sehr das Bild der kämpfenden Arbeiterin als Trägerin der Flamme der Freiheit. Hand in Hand, die Fahne des Fortschritts schwingend, gehen Frau und Mann gemeinsam dem Lichte entgegen. Diese Rolle der Frauen bestätigte die Männer in ihrem eigenen kämpferischen und heldenhaften Selbstverständnis, sodass auch etliche Leitfiguren unter den Genossen die Einführung des Frauenstimmrechts aktiv unterstützten.

Entscheidender für die Aufnahme des Frauenstimmrechts in die Liste der Generalstreikforderungen waren jedoch die Propagandawirkung der vorangegangenen Hungerdemonstrationen und die Umbruchsituation in anderen europäischen Ländern.

Männer streiken gegen Frauen

Frauen waren in der Arbeiterbewegung eine Minderheit. Schon 1890 hatten sich zur besseren Organisierung der nicht einer bestehenden Gewerkschaft zuzuordnenden proletarischen Frauen, wie beispielsweise Modistinnen, Dienstmädchen und Hausfrauen, die lokalen Arbeiterinnenvereine zum Schweizerischen Arbeiterinnenverband zusammengeschlossen. Eine eigenständige Bewegung war auch deshalb notwendig, weil die Frauen nicht auf die Unterstützung der Genossen zählen konnten.

Dem Generalstreik von 1918 vorangegangen war von 1880 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine zunehmende (oft erfolgreiche) Streiktätigkeit der verschiedenen Gewerkschaften und Verbände. In der grossen Mehrheit dieser Kampfhandlungen ging es in erster Linie um Arbeitszeitverkürzung und Lohnerhöhung, die bis heute klassischen Forderungen der Gewerkschaften. Von den 6081 in all diesen Streiks erhobenen Forderungen, Begehren und Beschwerden erscheint nur einmal auch die Forderung «Gleicher Lohn für Männer und Frauen», wohl aber wurde zehnmal Stellung gegen die Erwerbsarbeit der Frauen bezogen. Diese wurden nicht primär als Kolleginnen, sondern immer als potenzielle Konkurrentinnen betrachtet, die den Männern dank tieferer Löhne ihre Arbeit wegnehmen könnten (Gruner, S. 937).

Konkurrentin oder Gefährtin?

Diese Frage beschäftigte die Arbeiterbewegung immer wieder. Schon die 1. Internationale von 1866, Karl Marx miteingeschlossen, hatte sich schlicht geweigert, Frauen als gleichberechtigte Mitglieder aufzunehmen, was die erste prominente schweizerische Frauenrechtlerin, Marie Goegg-Pouchoulin, bewog, sich oganisatorisch der internationalen demokratischen Bewegung um Garibaldi anzuschliessen, während ihr Mann als Sekretär der 1. Internationalen fungierte. Der weit über Deutschland hinaus bekannte Sozialdemokrat August Bebel, der wegen Bismarcks Sozialistenverbot nach Zürich floh und hier bis zu seinem Tode lebte, zeigte sich dann sehr viel frauenfreundlicher, was auch die Schweizer Genossen beeinflusste.

Wesentlicher Anlass, sich mit der Frauenfrage zu beschäftigen, war jedoch nach Herman Greulich die Tatsache, dass die Frau «als Waare auf dem Arbeitsmarkt einen geringeren Werth hat als der Mann, und dieser geringere Werth des Weibes muss nach den Gesetzen, die jeden Markt beherrschen, auch den Werth des Mannes herabdrücken» (zit. bei Frei, «Rote Patriarchen», S. 25). Ein schlichtes Erwerbsverbot der Frauen kam für Arbeiter aus dem einfachen Grunde nicht in Frage, weil die Frauen ganz selbstverständlich zum Existenzminimum beizutragen hatten. Doch viele organisierte Arbeiter hätten sie nur allzu gern von den qualifizierteren Berufen ausgeschlossen, so beispielsweise die Drucker und Setzer oder auch die Schneider. Nur um die Frauen als Konkurrentinnen zu verhindern, trat die Arbeiterschaft ab 1890 auf Antrag des neu gegründeten Arbeiterinnenverbandes für die Forderung ein, «die Löhne der Frauen mit denen der Männer gleichzustellen bei gleicher Arbeit und Leistung» (Frei, S. 41). Doch sahen weiterhin die meisten Arbeiter und Gewerkschaftsvertreter die beste Lösung darin, «den Männern anständige Löhne zu zahlen (…), die ihnen ermöglichen, eine Familie zu begründen», ohne dass die Ehefrau gezwungen wäre mitzuverdienen («Arbeiterstimme» 1900/9).

Es waren denn auch Frauen, die als Erste klar die Position vertraten, der eigene Erwerb festige die Selbständigkeit. In ihrer Mehrheit befürworteten sie aber gleich ihren männlichen Kollegen gesetzliche Sonderregelungen, wie Nachtarbeitsverbot, freier Samstagnachmittag usw., die sich alle von der Funktion der Arbeiterinnen als Hausfrauen und Mütter ableiteten. Während die Arbeit der Männer zunehmend qualifiziert und professionalisiert und schliesslich auch besser bezahlt wurde, betrachtete auch die Arbeiterbewegung die Frauenerwerbsarbeit nur unter dem Aspekt der Kompatibilität mit den familiären Funktionen. Die Frauen wurden so zu einer «Sonderkategorie auf dem Arbeitsmarkt» (Regina Wecker), was ihre gesellschaftliche Stellung bis in die Gegenwart beeinträchtigen sollte.

Wie die Lohngleichheitsforderung beurteilten viele Genossen das Frauenstimmrecht nur nach dessen Nützlichkeit für die Partei: Bedeutete es eine Stärkung oder eine Schwächung, führte es schneller oder langsamer zur revolutionären Umwälzung? Der Schweizerische Arbeiterinnenverband verlangte das integrale Frauenstimmrecht schon seit 1893, doch konnte sich die Sozialdemokratische Partei erst 1904 dazu durchringen. Der wärmste Befürworter war auch in dieser Frage wiederum Herman Greulich. Er begründete seine Position mit der «Ergänzung von Frau und Mann», eine Haltung, die sich in seiner persönlichen Biografie spiegelt: Seine Frau Johanna erzog die Kinder und hielt ihm die alltäglichen Sorgen vom Leibe. So argumentierte er auch im November 1917 in der «Vorkämpferin»: «Wir Männer haben kein Recht, uns als die einzigen Vertreter der Gattung Mensch zu betrachten. Dazu gehören beide Geschlechter – ihre Geschlechtseigenarten ergänzen sich. Die grossen Eigenarten des Weibes werden sich erst dann entwickeln, wenn es gleichen Rechtes geworden ist» (Hervorhebung Greulich). Er bezeugte mit seiner Motion zur Einführung des Frauenstimmrechts im Zürcher Kantonsrat seine klare Haltung bezüglich der uneingeschränkten Staatsbürgerschaft der Frauen, doch gestand auch er ihnen letztlich nur einen engen Handlungsspielraum zu. Sie mussten sich den Prämissen der von Männern geprägten Organisation beugen.

Eigenmächtiges Handeln in engen Grenzen

1904 hatte sich der Schweizerische Arbeiterinnenverband dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund angeschlossen, der auf Empfehlung von Greulich die junge Margarethe Faas-Hardegger als Sekretärin für die Agitation unter den Arbeiterinnen anstellte. Diese erwies sich als äusserst erfolgreich. Sie gründete «Die Vorkämpferin» und «L’Exploitée», organisierte in Tabak- und Textilfabriken die Arbeiterinnen – darunter viele Italienerinnen –, die sich nicht fürchteten, für ihre Interessen zu streiken, ja sogar eigene Produktionsgenossenschaften gründeten. Auch der Organisationsgrad der Arbeiterinnen nahm zu. Doch wurden sie nicht selbstverständlich in die bestehenden Gewerkschaftsstrukturen eingegliedert. So weigerte sich beispielsweise 1907 der Verband der Lebens- und Genussmittelarbeiter, die neue Sektion der Arbeiterinnen der Firma Vautier in Yverdon aufzunehmen. Frauen verdienten weniger und würden die Gewerkschaftskasse zu sehr belasten, argumentierten die Genossen. Als die Arbeiterinnen von Vautier damals streikten, fungierten ihre männlichen Kollegen unter dem Schutz der Armee und unter Gewährung einer Lohnerhöhung von fünfzig Rappen pro Tag als Streikbrecher. «So etwas Gemeines ist nie dagewesen!», empörte sich die Arbeitersekretärin Faas-Hardegger. Nur weil die gewerkschaftlich organisierten Tabakarbeiterinnen auf eine Entschädigung aus der Streikkasse verzichteten, anerkannte sie der Verband schliesslich als Sektion und unterstützte er den von ihnen geforderte Boykott der Firma Vautier.

Faas-Hardegger sprach und schrieb aber nicht nur über die Unterdrückung der Arbeiterinnen in der Fabrik, sondern auch über ihre Stellung in der Familie «als Sklavin des Mannes», über Sexualität und Verhütung. Dazu vertrat sie anarchosyndikalistische Positionen: Sie setzte nicht auf die Umgestaltung des Staates, sondern auf direkte Aktionen der ArbeiterInnen. Bald schon geriet sie in Schwierigkeiten mit der zentralen Gewerkschaftsführung, namentlich mit dem erklärten Frauenfreund Greulich – und wurde 1909 durch Marie (Walter-)Hüni ersetzt. Diese orientierte sich ihrerseits in starkem Masse an Clara Zetkin, der einflussreichen «Führerin» der deutschen und bald auch europäischen Sozialistinnen. Vorgängig schon waren die Arbeiterinnenvereine aus dem SGB wieder aus- und in die SP eingegliedert worden, um schliesslich trotz steigender Mitgliederzahlen 1917 aufgelöst zu werden. Als Ersatz schaffte die Partei die «Frauenagitationskommission», deren Präsidentin Rosa Bloch-Bollag gegen aussen und innen zu agitieren wusste.

Clara Zetkin – die Führerin

Während sich also das Frauenbild der obersten Genossen kaum von demjenigen des Bürgertums unterschied, entwickelten engagierte Frauen dagegen das Bild der eigenständigen Frau und Genossin. Nur eine Minderheit von ihnen, vorwiegend akademisch gebildete Frauen wie die sozialdemokratische Ärztin Betty Farbstein, engagierten sich auch im Frauenstimmrechtsverein. Die meisten führenden Exponentinnen waren klar gegen ein Zusammengehen mit bürgerlichen Frauen in dieser Frage, da nach ihnen der Kampf für den Sozialismus absolute Priorität hatte. In der sozialistischen Gesellschaft wäre dann der Gegensatz zwischen Frauen und Männern automatisch aufgehoben. Gerade im Sozialistischen Jugendbund wurde versucht, schon in der Gegenwart dem Bild des solidarischen und im Kampfe verbundenen Paares nachzuleben. Gemeinsam demonstrierten junge Frauen mit den männlichen Jugendlichen während der Kriegsjahre gegen Hunger und Not, sprachen der freien, selbst gewählten Liebe das Wort. Um sich mehr Gewicht zu geben, organisierten sie sich im «Mädchenverein», dem u. a. die junge Anny (Klawa-)Morf angehörte, die auch in der Sozialistischen Jugend immer die Gleichstellung einforderte. Bei einer Protestaktion im August 1916 marschierte ihre Mädchengruppe in Zürich hinter den prominenten Genossen wie Ernst Nobs und Herman Greulich und sang mit Inbrunst: «Auf Sozialisten, schliesst die Reihen» (Klawa-Morf, S. 87).

Der enge Zusammenschluss von sozialistischen Frauen und Männern wurde vor allem von Clara Zetkin vertreten, der damals international prominentesten sozialistischen Frauenrechtlerin. In dem von ihr gegründeten Blatt «Die Gleichheit» verlangte sie vehement die Einführung des Frauenstimmrechts und die ökonomische Selbständigkeit der Frauen. Ebenso vehement kritisierte sie aber jegliche Zusammenarbeit mit so genannt bürgerlichen Frauenrechtlerinnen, dem Klassenkampf kam Vorrang zu. Diese Position vertrat sie auch an der «1. Internationalen Frauenkonferenz» von 1910 in Kopenhagen: Die Sozialdemokraten aller Staaten sollten gemeinsam mit den Genossinnen für das Frauenstimmrecht eintreten. Der 8. März wurde zum internationalen Kampftag der Frauen erklärt. Die Präsidentin des Schweizerischen Arbeiterinnenverbandes, Marie Hüni, setzte sich als Bewunderin «unserer grossen Führerin» stark für die Verbreitung dieser Forderung ein. Von 1910 an war nun auch die Märznummer der «Vorkämpferin» fast gänzlich dem Frauentag gewidmet, was aber nicht hiess, dass am Bild des sich befreienden Mannes als Leitbild der Arbeiterbewegung gerüttelt worden wäre. Pathetisch appellierte Marie Hüni 1918 an die Solidarität der Frauen:

«Frauen der Arbeit! Nun gilt es zu wagen!
Dreifache Lasten die Mütter heut’ tragen.
Doch stark wie der Tod ist ihr Zukunftssehnen.
Mit Genossen im Rat
sind bereit sie zur Tat.
(…)

Frauen der Arbeit! In allen Landen
zerreisset kühn des Reichtums Banden.
Ihr bannet die Not durch entschlossenes Wagen.
Nicht länger seid Knecht!
Erkämpft euer Recht!»

«Nicht länger seid Knecht!» war auch der Titel ihres Leitartikels, der das allgemeine, uneingeschränkte Frauenstimm- und Wahlrecht verlangte, «um mit seiner Hilfe eure Klasseninteressen immer wirksamer zur Geltung zu bringen in der Gesetzgebung und Verwaltung, in der inneren und äusseren Politik, in der Lenkung und Regelung aller öffentlichen staatlichen und internationalen Angelegenheiten. (…) Unser Frauentag ruft euch zur Sammlung, damit ihr, wenn einst die Zeit der Abrechnung kommen wird, mit den Genossen im Rat bereit seid zur Tat: Zum grössten Befreiungskampf in der Weltgeschichte, zum Kampfe um die sozialistische Internationale, zum Siegeskampf um das Menschenheimatland» («Vorkämpferin» 1918/3).

Bewegte Kriegsjahre

Das Pathos der Worte von Hüni spiegelt die Hoffnungen der Zeit. In Russland hatte die Revolution 1917 gesiegt und dem Frauenstimmrecht zum Durchbruch verholfen. Auch in England, Holland, Kanada und den USA waren inzwischen den Frauen die Staatsbürgerrechte zuerkannt worden, in Deutschland wurde in Massenkundgebungen unter der Leitung von Clara Zetkin die Gleichberechtigung eingefordert. Die deutsche Sozialdemokratin hatte ihren Einfluss mit der Einberufung der «Internationalen Friedenskonferenz der sozialistischen Frauen» 1915 in Bern noch akzentuiert, wo sie klar Stellung gegen die pazifistischen Frauenrechtlerinnen bezogen hatte, die sich ihrerseits bald in der «Internationalen Liga für Frieden und Freiheit» organisieren sollten. Sie beflügelte auch den Kampfeswillen ihrer Schweizer Genossinnen, die für ihre Rechte auf die Strasse gingen. Am wirkungsvollsten handelte Rosa Bloch-Bollag, die als Präsidentin der «Frauenagitationskommission» 1917 Marie Hüni an der Spitze der Arbeiterinnen ablöste.

Aber nicht das Frauenstimmrecht allein, sondern analog zu den Kämpfen der Sozialistinnen in den kriegführenden Ländern waren ebenso sehr der Hunger, die Teuerung, die Unterstützung der «Wehrmännerfrauen» zentrale Themen demonstrierender Arbeiterinnen in der Schweiz. Im Mittelpunkt der Argumentation stand dabei immer die Verantwortung der geplagten Mütter. Damit propagierten auch Sozialistinnen das einseitige Bild der Frau als Mutter und Hausfrau. Auf höchste öffentliche Aufmerksamkeit stiessen die Hungerdemonstrationen und Aktionen der Frauen auf den lokalen Märkten. Bestens organisiert kippten sie Marktstände und Körbe um, wenn ihnen der Kartoffel- oder Gemüsepreis zu hoch schien, oder sie bedienten sich selber und bezahlten nur den ihrer Meinung nach angemessenen Betrag. An den Hungerdemonstrationen nahmen auch Jugendliche und Männer teil, doch waren gerade die Voten von Frauen gefragt. Hier zeigte sich das grosse agitatorische Talent von Rosa Bloch-Bollag. Dank ihrem rhetorischen und organisatorischen Geschick gelang schliesslich den Zürcherinnen eine echt historische Tat, die in einer ganzseitigen Bildreportage in der «Zürcher Illustrierten Zeitung» festgehalten, in der «Vorkämpferin» und dem «Volksrecht» bejubelt und in der NZZ in einem langen Artikel scharf kritisiert wurde.

Der Frauentag im Zürcher Kantonsrat

Die demokratische Verfassung des Kantons Zürich von 1869 räumte allen Bürger das Recht ein, ihre Anliegen direkt vor dem Kantonsrat zu vertreten. Dass auch die Frauen von diesem Recht Gebrauch machen könnten, war bis anhin noch niemandem eingefallen. Rosa Bloch-Bollag forderte am 10. Juni 1918 an der Spitze einer Frauendelegation Einlass in den Kantonsrat. Zu ihrer Unterstützung harrten in strömendem Regen Frauen, Männer und Kinder – scharf beobachtet von der Polizei – stundenlang vor dem Kantonsrat aus. Um die 2000 sollen es laut der «Vorkämpferin» schliesslich gewesen sein, das Tram auf dem Limmatquai konnte nicht mehr passieren: «Man wollte die Rednerinnen verstehen und sie auch sehen, vor allem die ‘rote Rosa’. Das alte Rathaus erlebte schon manchen Sturm, aber einer Belagerung nur von Frauen war es noch nie ausgesetzt gewesen.» («Vorkämpferin» 1918/7) Da der Frauendelegation der Zutritt verweigert wurde, übergaben sie dem Weibel «Das Memorial der Frauen an den Regierungsrat und Kantonsrat des Kantons Zürich», das verschiedene Massnahmen zur Eindämmung der Teuerung und Sicherung der Lebensmittelversorgung enthielt, beispielsweise die sofortige Beschlagnahme von Lebensmitteln, die Erhöhung der Milchration und die Übernahme des Milchpreisaufschlages durch den Kanton, die Notunterstützung der Wehrmannsfamilien auch bei Erwerbstätigkeit der Frau. Letztere Forderung wurde gestellt, weil erst kurz zuvor beschlossen worden war, die Unterstützung zu streichen, wenn die Frau eines aufgebotenen Soldaten einem Verdienst nachging, was zu heftigen Protesten geführt hatte, war doch der Lohn der Frauen oft äusserst gering und genügte nicht zur Deckung des Existenzminimums.

Gestützt auf die Verfassung liessen die Frauen nicht locker und konnten schliesslich nach weiteren «Solidaritätskundgebungen» von tausenden von «Proletariern und Proletarierinnen» in Zürich, Wetzikon, Uster, Wädenswil, Winterthur und weiteren Orten eine Woche später ihre Anliegen vor dem Kantonsrat vorbringen. Rosa Bloch-Bollag, die Lehrerin Agnes Robmann und die Arbeiterin und Wehrmannsfrau Marie Härri beschrieben äusserst bildreich die Not der proletarischen Familien. «Die Tribüne war überfüllt. Studenten, Damen, hauptsächlich aber Arbeiterinnen und Arbeiter waren dort. Rat und Tribüne hörten mit gespannter Aufmerksamkeit den drei Rednerinnen zu. Manch zustimmendes Nicken, unter den Studenten manches Erstaunen ob der Gewandtheit und Sicherheit unserer Genossinnen. Niemand konnte sich des Eindrucks erwehren, dass nicht nur unter dem Druck besonderer Verhältnisse, sondern von Rechts wegen den Frauen ein Platz im Kantonsrat gebührt», berichtete die «Vorkämpferin» nicht ohne Stolz. Den Forderungen wurde zwar nicht tel quel nachgegeben, aber etliche Massnahmen wurden ergriffen. Insbesondere der Zürcher Stadtrat mit seiner starken Minderheit von Sozialdemokraten und Grütlianern handelte und setzte eine Marktkommission ein, in der im September 1918 Rosa Bloch-Bollag als Vertreterin der KonsumentInnen Einsitz erhielt.

Die «rote Rosa» im Oltener Aktionskomitee

Prominent war die Stellung Rosa Bloch-Bollags im Jahre 1918, ihr Bekanntheitsgrad ging weit über die Arbeiterinnenbewegung hinaus, auch für die organisierten Männer der Linken war sie zu einer Leitfigur avanciert. So war es bereits im Februar 1918 nicht weiter erstaunlich, dass sie ins OAK berufen wurde, ebenso wenig dass nach ihrer erfolgreichen Intervention im Kantonsrat dann auch das Frauenstimmrecht an zweiter Stelle auf der Liste der Generalstreiksforderungen figurierte. Erfreut darüber zeigte sich die Präsidentin des schweizerischen Frauenstimmrechtsvereins, Emilie Gourd, die sich in ihrem Telegramm an den Bundesrat zwar von jeglicher Gewaltaktion der Streikenden distanzierte, aber diesem «chaleureusement» die Umsetzung «du point 2 du programme du Comité d’action d’Olten» empfahl. Weniger Freude zeigten jedoch die meisten ihrer Mitstreiterinnen, die das Telegramm ihrer Präsidentin als eigenmächtiges Handeln kritisierten, sie zurückpfiffen und auch die leiseste Sympathisierung mit dem Generalstreik öffentlich rügten. Ebenso wenig erfreut über das Telegramm von Gourd waren aber auch etliche Sozialdemokratinnen, die in den letzten Jahren so deutlich von den «bürgerlichen Frauenstimmrechtlerinnen» als Vertreterinnen des Kapitals Abstand genommen hatten, dass sie sich auch jetzt die Unterstützung von den «Klassenfeindinnen» verbaten.

Am stärksten desavouiert wurden die Arbeiterinnen schliesslich von ihren eigenen proletarischen Klassengenossen. Zwar wurden nach dem Krieg verschiedenenorts Frauen zur Schul- und Kirchenpflege zugelassen, und sozialdemokratische Vorstösse führten in einzelnen Kantonen zu Abstimmungen über das Frauenstimmrecht. Die Arbeiter verwarfen dieses an der Urne aber fast noch wuchtiger als das angeprangerte Bürgertum. Der «Vorkämpferin» wurde 1920 von der Partei die finanzielle Unterstützung aus Spargründen entzogen, was ihr Ende besiegelte.

Enttäuscht über den lauen Kampfgeist der Sozialdemokraten trat Rosa Bloch-Bollag in die neu gegründete Kommunistische Partei über, verblutete jedoch 42-jährig kurze Zeit später bei einer im Prinzip einfachen Kropfoperation im Juli 1922. Das «Volksrecht» würdigte ihre Arbeit, hielt aber auch nicht mit Kritik zurück. Der so genannt neutrale «Tages-Anzeiger» seinerseits konnte sich noch im kurzen Nachruf nicht eines antisemitischen Seitenhiebs enthalten. Er sprach vom schweren Verlust der Arbeiterinnenbewegung, um gleich beizufügen: «Daneben verfügte sie aber auch über einen nicht minder ausgeprägten Erwerbssinn, mit dem sie sich, soweit es ihr die politische Betätigung erlaubte, dem Goldwarenhandel widmete. Bekanntlich war sie bei den letzten Wahlen in die Kreisschulpflege in Zürich 1 Kandidatin der kommunistischen Partei, unterlag aber dann im zweiten Wahlgang mit einem Parteigenossen gegen zwei im letzten Moment aufgestellte bürgerliche Kandidaten.» Wenig kaschierter Häme war Rosa Bloch-Bollag als Jüdin und öffentlich politisierende Frau schon vor ihrem Tode ausgesetzt gewesen. Und die Ablehnung unerschrockener Frauen sollte noch über Jahrzehnte weitergehen: Vom Einsitz in Kommissionen über den Zugang zur Schulpflege bis zur rechtlichen Gleichstellung stand den Frauen trotz Generalstreik noch ein langer Weg bevor. Und dass mit der kurzfristigen Aufstellung von männlichen Gegenkandidaten Frauen gleich wie Rosa Bloch-Bollag wegbugsiert werden, erfahren Politikerinnen in der Schweiz noch in der Gegenwart.

Literatur:
Annette Frei: «Rote Patriarchen, Arbeiterbewegung und Frauenemanzipation in der Schweiz um 1900». Zürich 1987.
Annette Frei: «Die Welt ist mein Haus. Das Leben der Anny Klawa-Morf». Zürich 1991.
Erich Gruner: «Arbeiterschaft und Wirtschaft in der Schweiz, 1880-1914». Bd. 2/2. Zürich 1988.
Yvonne Pesenti: «Beruf: Arbeiterin. Soziale Lage und gewerkschaftliche Organisation der erwerbstätigen Frauen aus der Unterschicht in der Schweiz, 1890-1914». Zürich 1988.
Regina Wecker: «Zwischen Ökonomie und Ideologie. Arbeit im Lebenszusammenhang von Frauen im Kanton Basel-Stadt 1870-1910».