Coronavirus: Blind in die nächste Welle hinein
Trotz ansteckenderen Mutanten konzentriert sich der Bundesrat auf Lockerungen. Ein wirkliches Konzept für eine vierte Welle ist dabei nicht ersichtlich.
Mit dem Sommer kommen die Lockerungen, mit dem Herbst die nächste Welle. So spielte es sich im letzten Jahr ab. Und so droht es auch dieses Jahr zu laufen. Epidemiologinnen und Kantonsärzte sind sich einig: Im Herbst muss mit neuen Ansteckungsherden und einer vierten Welle gerechnet werden. Auch SP-Bundesrat Alain Berset erwartet eine neue «Welle unter Nichtgeimpften». Dabei hofft der Bund allein darauf, dass sich genügend Menschen impfen lassen, um eine vierte Welle zu verhindern.
Doch die angestrebte Herdenimmunität scheint derzeit unerreichbar. Und ein Blick ins Ausland zeigt, dass die Infektionszahlen auch ansteigen können, wenn ein Grossteil der Bevölkerung geimpft ist. Schätzungen zufolge sind in Israel zwischen dreissig und fünfzig Prozent der Infizierten bereits mindestens einmal geimpft. Zudem kommt es vor allem an Schulen zu Ausbrüchen, weil Kinder noch nicht geimpft sind. Auch in Grossbritannien sind vor allem Junge von den Neuinfektionen betroffen. Es ist mehr als fraglich, ob in der Schweiz bis im Herbst genügend Kinder und Jugendliche geimpft sind, um die Ansteckungen tief zu halten. Aktuell sind erst fünf Prozent der Zehn- bis Neunzehnjährigen vollständig geimpft.
Umso wichtiger wäre es, rechtzeitig neue Infektionen zu erkennen und deren Ausbreitung zu stoppen. Das funktioniert jedoch nur mit einem zugänglichen und zuverlässigen Testregime sowie einem wirksamen Contact Tracing. Letzteres wird nun im Wesentlichen eingestellt. Bereits müssen sich Gäste im Aussenbereich von Restaurants nicht mehr einschreiben. Und in Clubs und Tanzlokalen müssen gar keine Kontaktdaten mehr erhoben werden – der Zugang ist dort nur mit Covid-Zertifikat erlaubt. Eine Erkennung von Clustern ist so nicht möglich. Der Bund verlässt sich darauf, dass die Situation mit dem Covid-Zertifikat nicht ausser Kontrolle gerät.
Selbsttests mit unklarem Nutzen
Auch das Testregime wird heruntergefahren. Seit zwei Wochen dürfen Geimpfte und Genesene keine Selbsttests mehr umsonst beziehen. Dabei wissen wir, dass auch Geimpfte sich infizieren und andere anstecken können. Gemäss BAG-Sprecherin seien aber für jene «Selbsttests für zu Hause nicht sinnvoll» – wer Symptome zeige, solle einen PCR-Test machen. Der Grund: «Selbsttests sind zu wenig sensibel, um Geimpfte zu testen.» Kommuniziert wurde diese Einschätzung nicht, ebenso wenig gibt es Studien, die diese untermauern.
Eine ganz andere Strategie fährt Österreich, das den Zugang zu den «Wohnzimmertests» noch ausweitet und diese sogar als Zutrittsberechtigung für Events erlaubt. Ähnlich sieht es die Schweizer ÄrztInnenvereinigung FMH. Für das Pandemiemanagement seien eine hohe Testkapazität und ein niederschwelliger Zugang zu den Tests unerlässlich. Angesichts der weitreichenden Öffnungsschritte bleibe «das regelmässige Testen mit den Selbsttests im privaten Rahmen eine wichtige Massnahme», um die Pandemie zu bekämpfen. Denn: Grosse Teile der Bevölkerung sind weiterhin nicht geimpft; viele können sich auch nicht impfen lassen.
Das Beispiel der Selbsttests zeigt exemplarisch, wie blind die Schweiz weiterhin durch die Pandemie schlingert. Noch im April wurden diese als grosse Erleichterung und Erlösung gesehen. Endlich würden wieder Treffen in der Familie und im Freundeskreis möglich sein. Nach einem anfänglichen Run auf die Selbsttests wurden gemäss Pharmasuisse mittlerweile über zwanzig Millionen Stück in den Apotheken abgegeben. Dabei ist der Nutzen bis heute völlig unklar. Studien kamen zum Schluss, dass bei Menschen mit hoher Viruslast zwischen 80 und 95 Prozent der Fälle erkannt würden. Das BAG erklärte gegenüber der WOZ, dass die Tests «bei Menschen ohne Symptome rund 30 bis 40 Prozent der Infizierten entdecken können».
Was wir wissen: Seit der Abgabe der Selbsttests nahmen die Infektionszahlen kontinuierlich ab – ein Trend, der jedoch für ganz Europa gilt und wohl kaum mit den Selbsttests zusammenhängt. Das veranschaulicht das Beispiel Österreich, wo mehr als zehnmal so viel getestet wird wie in der Schweiz. Doch das Infektionsgeschehen ist vergleichbar. Kein Wunder, weiss man beim BAG offenbar nicht, ob Selbsttests dabei helfen, die Pandemie zu bewältigen. «Es gibt keine Studien zu dieser Frage», erklärt eine Sprecherin auf Anfrage. Und man wollte es auch nicht wissen, wurden doch keine Daten zur Nutzung erhoben: «Die Verwendung der Selbsttests wird nicht überwacht.»
Wie Roche profitierte
Dennoch wurde die Massnahme mit Millionen vom Bund subventioniert. Profitiert hat davon hauptsächlich Roche, die anfangs den einzigen zugelassenen Test in der Schweiz vermarktete. Mittlerweile sind drei weitere Produkte von chinesischen und US-amerikanischen Herstellern zugelassen. Jeden Test vergütet der Bund mit knapp zwölf Franken – dabei kostet die Herstellung gerade mal einen Franken. Roche selbst kauft die Tests beim südkoreanischen Hersteller SD Biosensor für knapp zwei Franken ein. Das zeigten Recherchen der «SonntagsZeitung». Anschliessend wird der Test für 5.50 Franken an Schweizer Zwischenhändler weiterverkauft.
Roche will partout nicht verraten, wie viel sie dank der Subventionen des Bundes verdient. Man gebe zur «Kostenstruktur» grundsätzlich keine Details bekannt, erklärt eine Sprecherin gegenüber der WOZ. Auch das BAG gibt keine Auskunft über die Gespräche mit Roche. Dabei konnte Roche massiv von der Pandemie – und damit von Steuergeldern – profitieren. Der Umsatz im Bereich Diagnostik stieg im ersten Quartal 2021 um 50 Prozent gegenüber dem Vorjahresquartal. In der Sparte «Point of Care», zu der auch die diversen Testkits gehören, stieg der Umsatz gar um 277 Prozent auf 770 Millionen Franken. Das entspricht einer Vervierfachung gegenüber dem Vorjahr. Auch im Bereich der Molekulardiagnostik stieg der Umsatz massiv – um bis zu 110 Prozent auf 1,2 Milliarden Franken pro Quartal.
Mit anderen Worten: Durch die Selbsttests flossen Millionen von Steuergeldern in eine Teststrategie, deren Nutzen von Anfang an zweifelhaft war und deren Effektivität nie überprüft werden sollte. Der Grossteil dieser Gelder floss in die Taschen von Roche, die während des anfänglichen Runs auf Selbsttests ein Monopol besass. Dabei wäre es einfach, kostengünstig und wichtig gewesen, diese Massnahme wissenschaftlich zu begleiten.
Mit Sommerferien, Grossanlässen und internationalen Reisen steigt nun die Gefahr, dass die Pandemie dem Land bald wieder um die Ohren fliegt. Solange nicht eine grosse Mehrheit der Bevölkerung vollständig geimpft ist, braucht es weiterhin verlässliche Tests und Contact Tracing – ohne dabei ein problematisches digitales Überwachungsregime aufzubauen. Ein wirkliches Konzept ist beim Bund aber kaum ersichtlich.
Die Deltavariante
Die Coronazahlen steigen in der Schweiz seit zwei Wochen wieder an. Gemäss neusten Schätzungen des Bundesamts für Gesundheit liegt der Anteil der Deltainfektionen mittlerweile bei knapp achtzig Prozent. Die erstmals in Indien aufgetretene Mutation dürfte damit bald alle anderen Varianten verdrängen.
Die Deltavariante gilt als hochansteckend. Gemäss aktuellen Erkenntnissen wirken die bislang in der Schweiz verwendeten Impfstoffe zwar auch gegen die Mutation, allerdings dürfte der Impfschutz geringer sein.
Bei den Hospitalisationen und Todesfällen ist derzeit noch kein «Deltaeffekt» zu beobachten, momentan stecken sich vor allem jüngere Personen mit dem Virus an.