Long Covid: Langzeitfolgen müssen auf die politische Agenda

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Immer deutlicher zeichnet sich ab, dass weder junges Alter noch ein milder Krankheitsverlauf vor schweren Langzeitfolgen einer Coronainfektion schützen. Mindestens jede:n Zehnte:n trifft es.

Der Basler Neurowissenschaftler Dominique de Quervain mag es nicht, wenn die neue Coronavirusvariante Omikron als «mild» bezeichnet wird. Auch wenn sie weniger Hospitalisationen verursacht, weil sie weniger pathogen für die Lunge ist: «Man weiss nicht, ob Omikron auch für das Gehirn weniger schädlich ist, und hat keine Ahnung, wie häufig Long Covid als Folge einer Infektion auftreten wird.» Was kommt da angesichts der aktuell explodierenden Ansteckungszahlen auf uns zu?

Schädigungen im Gehirn sichtbar

Sars-CoV-2 hält die Welt seit über zwei Jahren in Atemnot. Mittlerweile gibt es gut wirkende Impfstoffe, die bald auch an Omikron angepasst sein sollten, sowie Tausende wissenschaftliche Studien rund um das Virus. Doch das Phänomen Long Covid – also Krankheitssymptome, die über drei Monate andauern und für Betroffene sehr belastend sein können – ist noch kaum verstanden. Forschende sind uneins, welche Symptome überhaupt dazu zählen, und erfassen diese unterschiedlich. So sind Studien zu Long Covid kaum vergleichbar. Manche kommen zum Schluss, dass 10 bis 25 Prozent aller Erkrankten Long Covid bekommen, bei anderen sind es fast 70 Prozent. «Ganz konservativ geschätzt», sagt de Quervain, «entwickelt mindestens jede zehnte infizierte Person Long Covid.»

Ein erhöhtes Risiko besitzen vor allem Frauen und ältere Menschen, wie eine vor wenigen Wochen publizierte Metaanalyse von Long-Covid-Studien zeigt. Doch es trifft auch viele junge und gesundheitsbewusst lebende Menschen und solche mit «milden» oder gar asymptomatischen Verläufen. Die Metaanalyse kommt sogar zum Schluss, dass neurologische Schädigungen bei Jungen häufiger auftreten und sich diesbezüglich kein Unterschied zwischen Hospitalisierten und nicht Hospitalisierten erkennen lasse. Insgesamt bestätigt die Metastudie, was sich immer deutlicher abzeichnet: Neurokognitive Beeinträchtigungen gehören zu den meistverbreiteten Langzeitsymptomen. Covid-19 ist nicht nur eine Atemwegs-, sondern auch eine neurologische Erkrankung.

Am häufigsten berichten Betroffene in Studien von «Fatigue», einem Zustand völliger mentaler Erschöpfung. Auch «Brain Fog» wird oft genannt, gemeint sind verschiedene kognitive Einschränkungen: Man kann sich kaum konzentrieren, hat Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis, findet Wörter nicht. Während sich respiratorische Symptome wie Kurzatmigkeit über die Monate hinweg meist mildern, bestehen die kognitiven Beschwerden fort, bei manchen verschlimmern sie sich sogar, oder es kommen neue hinzu. Kognitive Tests bestätigen die subjektiven Eindrücke. MRI-Bilder dokumentieren verschiedene Formen von Schädigungen im Gehirn. Und Autopsien zeigen, dass sich Spuren des Virus selbst Monate nach einer Infektion noch im Gehirn finden lassen.

Trotzdem wisse man nicht, wie diese Beobachtungen, die auf ein Entzündungsgeschehen im Gehirn hinweisen, mit den neurologischen Symptomen zusammenhingen, betont de Quervain. «Auch immunologische Veränderungen im Blut könnten neurologische Phänomene auslösen. Die Ursachen und Mechanismen, die zu Long Covid führen, sind noch völlig ungeklärt.» Erste Studien würden zeigen, dass gewisse Symptome sich nur sehr langsam besserten und ein Jahr oder länger anhalten könnten. «Das zeigt, wie notwendig es ist, gezielte Therapien zu entwickeln.»

Noch keine Abhilfe in Sicht

Vereinzelte Studien berichten von Erfolgen mit einer Art Blutwäsche, die entzündungsfördernde Proteine herausfiltert. Diese Therapieversuche befänden sich noch in einem sehr frühen Stadium, und positiv verlaufene Behandlungen mit einzelnen Patient:innen liessen noch nicht auf eine breitere Wirksamkeit schliessen, so de Quervain. «Gerade bei neurologischen Symptomen gibt es noch keine wirksamen Therapien.» Hierzu werde aber intensiv geforscht. Immerhin: Wirksame Behandlungen existieren im Fall von andauernden Atembeschwerden, die als Folge einer Covid-Erkrankung auftreten können, so die Lungenspezialistin Manuela Funke-Chambour vom Inselspital Bern. Dazu gehören medikamentöse Behandlungen bei Reizhusten oder bronchialem Asthma. Bei unkoordiniertem Atmen helfen physiotherapeutische Übungen.

Die Pandemie führt auch bei Menschen ohne Long Covid zu depressiven Verstimmungen. In einer aktuellen Studie untersuchen der Basler Neurowissenschaftler und sein Team deshalb, inwieweit psychologische Anzeichen einer Depression bei Menschen mit Long Covid auf die Langzeitfolgen der Infektion zurückgehen und welche Rolle die allgemeine Pandemiesituation spielt. Da bei gewissen Symptomen wie Geruchsverlust aber ausgeschlossen werden könne, dass sie von einer depressiven Stimmung herrühren, ist für ihn klar: «Long Covid darf nicht einfach als psychosomatisches Problem abgetan werden.»

Bleibt die Frage der Prävention – oder anders formuliert: Wie gut schützt eine Impfung vor Long Covid? Daten dazu liefern Studien zu Durchbruchserkrankungen, doch die gibt es bislang erst im Fall der Ursprungsversion des Virus und der Deltavariante. Erste Resultate sind widersprüchlich: Eine Studie findet keinen Unterschied zu Ungeimpften, gleich mehrere stellen jedoch eine Halbierung des Risikos fest. Die jüngste Studie aus Israel kommt sogar zum Schluss, dass doppelt Geimpfte weitgehend geschützt sein könnten – ein Effekt, der sich aber erst bei den über 35-Jährigen zeigt. Die Studie ist noch nicht wissenschaftlich begutachtet.

Ob Omikron auch hier die Karten neu mischt? Wer doppelt geimpft, aber noch nicht geboostert ist, hat praktisch keinen Impfschutz mehr. Und es sind noch immer gut dreissig Prozent der Bevölkerung gänzlich ungeimpft. Sollten sich in den kommenden Tagen tatsächlich bis zu dreissig Prozent der Bevölkerung anstecken, wie Virolog:innen befürchten, müsste mit Hunderttausenden neuer Long-Covid-Fälle gerechnet werden – viele von ihnen mit so starken Beschwerden, dass sie teilweise oder ganz arbeitsunfähig würden. «Long Covid könnte sich durchaus als grösseres gesundheitspolitisches Problem entpuppen, wenn so viele Menschen betroffen sind und die Gesundheitsversorgung in Anspruch nehmen», sagt de Quervain. «Ganz zu schweigen von den längerfristigen Arbeitsausfällen.»

Seine Botschaft ist deutlich: «Long Covid gehört auf die politische Agenda. Ein nationales Meldesystem würde helfen, die Auswirkungen von Long Covid auf die Gesundheitsversorgung und den Arbeitsmarkt abschätzen zu können.» Und mit Blick auf Prävention sollte die Bevölkerung aktiv und laufend über die Risiken von Langzeitfolgen informiert werden.