Das Unorgan der Bewegung Die Zürcher Bewegungszeitungen «Eisbrecher» und «Brächise» erschienen Anfang der achtziger Jahre nur während weniger Monate, doch ihre Wirkung war beträchtlich: Sie stifteten zu politischen Aktionen an und veränderten auch die Medienlandschaft.

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«Das Radio wird die Zeitung nie ersetzen.» – «Warum nicht?» – «Können Sie mit einem Radio ein Feuer anzünden?»

Eine Zeitung birgt das Potenzial, ein Feuer zu entfachen. Dieser Dialog, abgedruckt ohne Kontext in der ersten Ausgabe der Zeitung «Eisbrecher» am 25. Oktober 1980, verweist in humoristischem Gestus, aber durchaus ernst gemeint auf die doppelte Funktion der Bewegungszeitung: Sie kann zu militanten Aktionen anstiften und als brennbares Papier auch ganz wörtlich dazu dienen, etwas anzuzünden. Darüber hinaus verweist «Feuer anzünden» auf die Möglichkeit, mit Gegeninformationen, einer anderen Ästhetik und anderen politischen und sprachlichen Taktiken jenen notwendigen Funken auf diejenigen zu übertragen, die eine «Wut im Bauch» haben, und so eine Revolte zu entfachen: «Züri brännt!» – «Unsere Stärke ist die Wut im Bauch und unser Kampf um mehr Lebensqualität, Lust und Liebe und dass wir uns nicht an die Spielregeln halten, denn Achtung, Achtung, wir sind die Albträume!!», heisst es in der vierten Ausgabe des «Eisbrechers».

Der «Eisbrecher» und die Folgezeitung «Brächise» erschienen einmal wöchentlich zwischen Herbst 1980 und Frühling 1981, in der Zeit also, in der die Achtzigerbewegung am aktivsten war. Beachtlich war auch die Auflage von bis zu 23 000 Exemplaren, was darauf schliessen lässt, dass die Zeitungen über die Bewegung hinaus gelesen und rezipiert wurden. Das zeigte sich nicht nur in deren Popularität, sondern auch in der polizeilichen Überwachung.

Am 1. Juni 1980, dem Tag unmittelbar nach den beiden Nächten der Opernhauskrawalle, wird das Festzelt, das für die Öffentlichkeitsarbeit im Hinblick auf die Abstimmung über den Opernhauskredit aufgestellt wurde, von 2000 Personen besetzt. Eine Vollversammlung formuliert Forderungen an den Zürcher Stadtrat: die Freigabe der Roten Fabrik, den Rückzug von Strafanträgen gegen Verhaftete, ein Demonstrationsrecht, einen Stopp des Einsatzes von Tränengas und Gummigeschossen durch die Polizei sowie eine Übergangslösung für ein Autonomes Jugendzentrum (AJZ).

«Verweigert euch!»

Wichtige Diskussionspunkte sind auch das Verhältnis der «Bewegig» zu den Medien, die Rolle der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG), der Piratensender und der Zeitungen. Angeprangert werden die Medien, die erst dann berichten, wenn Pflastersteine fliegen, nicht aber über die Forderungen der Bewegung oder über gesellschaftliche Probleme, die ihr ein Anliegen sind. Auf dem Flugblatt einer gewissen «Rote Meer Fraktion» ist zu lesen: «Schluss mit der jugend- und bewegigsfindliche Berichterstattig (Wir meinen nicht nur die NZZ, Blick und Radio 24).»

Die späten siebziger Jahre sind in der Schweiz geprägt von zahlreichen Fusionen von Tageszeitungen. Die SRG hat bis Mitte der achtziger Jahre als einzige Betreiberin von Radio- und Fernsehstationen dauerhafte Sendekonzessionen, was einem Quasimonopol im Rundfunksystem gleichkommt. Der Inserateboykott aus politischen Gründen ist an der Tagesordnung, Firmen ziehen ihre Anzeigen zurück, wenn Zeitungen in ihren Augen zu wohlwollend über die Bewegung berichten. Nicht selten werden JournalistInnen während Demonstrationen durch die Polizei an ihrer Arbeit gehindert. Eine Gegenöffentlichkeit, eigene Medien sowie das «Kapern» bürgerlicher Kanäle werden für die Bewegung dringlicher. Die Szenezeitschrift «Stilett» etwa ruft dazu auf, Chaoten zur Sabotage ins TV-Studio zu schicken: «… wenn sie euch mit gespaltener Diplomatenzunge in ihre glitschige Welt des ewig argumentierenden, diskutierenden und dozierenden Rechtsstaatlichkeitswahns ziehen wollen … Verweigert euch. Tretet sie in den Arsch …!»

Schikanen der Polizei

Der damals schon erfahrene Aktivist Giorgio Bellini war bei der Gründung des «Eisbrechers» im Oktober 1980 dabei. Er bringt sie auch mit der polizeilichen Räumung des Jugendzentrums in Verbindung: «Mit der Schliessung des AJZ im September 1980 ist die ganze Sache schwieriger geworden. Vorher konnten wir auf eine breitere Unterstützung für unser Anliegen zählen; nach den vielen Krawallen haben sich jedoch viele Sympathisanten (Liberale und Sozialdemokraten) distanziert.» Bis zu einem gewissen Grad sei der «Eisbrecher», dieses «Unorgan der Bewegung», eine Strategie von älteren 68ern gewesen, die Bewegung neu zu mobilisieren, sagt Bellini. «Wir wollten keine politischen Direktiven herausgeben, aber wir waren auch nicht bereit, alle mitentscheiden zu lassen. Wir haben einfach gesagt: Wir sind die Redaktion, und die Redaktion entscheidet.»

Im Spätsommer 1980 bitten junge AktivistInnen aus der Pressegruppe des AJZ, die in unregelmässigen Abständen die Zeitschrift «Subito» herausgeben, einige erfahrenere Leute aus dem Umkreis einer Wohngemeinschaft an der Zürcher Hellmutstrasse um Unterstützung. Jeweils am Montagmorgen findet in der Wohnung, in der auch Bellini lebt, eine Redaktionssitzung im engeren Kreis statt, vor der abendlichen offenen Sitzung im Lokal «Krokodil» an der Langstrasse. Nach der Layoutsitzung am Mittwochabend wird die Vorlage zur Druckerei Genopress in Winterthur gebracht, am Donnerstag wird gedruckt und am Freitag die Zeitung nach Zürich «geschmuggelt».

In der Buchhandlung Paranoia City wird der «Eisbrecher» an die VerkäuferInnen verteilt. Sie erhalten fünfzig Rappen vom Verkaufspreis von einem Franken. Die anfänglichen Probleme mit der Polizei, die mit Schikanen und Anzeigen gegen die VerkäuferInnen versucht, die Verbreitung der Zeitungen zu verhindern, und immer wieder einen Teil der Auflage konfisziert, legen sich mit der Zeit. Die Polizeiprotokolle lassen jedoch darauf schliessen, dass die Aktivitäten des «Eisbrechers» weiterhin akribisch verfolgt wurden.

Es kommt sogar in Mode, den «Eisbrecher» zu lesen. Habe man am Anfang noch eine Woche gebraucht, um die Zeitungen zu verkaufen, seien die letzten Ausgaben mit einer Auflage von über 20 000 Exemplaren jeweils innerhalb von zwei Tagen weg gewesen, erzählt der ehemalige Redaktor Nicolas Lindt. «Die Zeitung ist uns aus den Händen gerissen worden, alle wollten den ‹Eisbrecher›, auch die Bürgerlichen, das war eine Trophäe – etwas ganz Verschwörerisches. Auch junge Frauen an der Bahnhofstrasse sind aus den Juweliergeschäften gekommen und haben verstohlen nach der neuen Ausgabe gefragt.»

Die letzte Ausgabe erscheint am 17. Januar 1981. Dies, nachdem auf Initiative des «Eisbrechers» unter dem Motto «No AJZ – No Wiehnacht» am 24. Dezember 1980 etwa 10 000 Leute in Zürich demonstrieren und es abermals zu schweren Zusammenstössen mit der Polizei kommt. Die Redaktion erklärt in der letzten Zeitung: «Wir sind nicht Radio 24, wir können auf Fans verzichten, und machen Platz für andere.» Selbstironisch zeigt das Titelblatt eine Fotografie von Breschnew und den Funktionären des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion.

Die 68er geben ab

Zu den Leuten, die nicht nachvollziehen können, weshalb man den erfolgreichen «Eisbrecher» einstellt, gehört Theo Bünzli. Als Einziger der «Eisbrecher»-MacherInnen ist er bei der Gründung der Folgezeitung dabei: des «Brecheisens», das ab Nummer 2 «Brächise» hiess. Anders als beim «Eisbrecher», bei dem die meisten bereits zwischen 25 und 35 Jahre alt waren, besteht die lose «Brächise»-Gruppe aus sehr jungen Leuten zwischen 15 und Anfang 20 aus dem Umfeld des AJZ. Der Name drückt einerseits eine Anknüpfung, aber auch einen Bruch mit dem Vorgängerprojekt aus.

Während der «Eisbrecher» für jene lustvolle, euphorische Phase der Bewegung steht, die versuchte, das gesellschaftliche «Packeis» mit Ironie, Witz und paradoxen Interventionen (wie etwa dem legendären Auftritt von Herrn und Frau Müller in der TV-Sendung «CH-Magazin») zum «Schmelzen» zu bringen, steht das «Brächise» für deren Spätphase, die von Frustrationen, Ermüdungserscheinungen, zunehmenden Drogenproblemen rund ums AJZ und Streitigkeiten innerhalb der Bewegung gekennzeichnet ist. «Brecheisen», die Bezeichnung für ein Werkzeug, mit dem man Beliebiges kurz und klein schlagen kann, ist auch Ausdruck der zunehmenden Verhärtung der Fronten zwischen Bewegung, Polizei und Behörden, die mit der Weihnachtsdemo einen Höhepunkt erreicht hat.

Die Beiträge stammen meist nicht aus der Redaktion selbst, sondern «von irgendwelchen Leuten, die das Gefühl hatten, etwas sagen zu müssen», wie es ein Zeitzeuge formuliert. Zensur, Auswahl, Konzept, das wollte man beim «Brächise» gerade nicht: «Wir wollten ein Sprachrohr für alle sein, unser Konsens war, dass es keinen Konsens braucht», sagt Achmed von Wartburg, der bei der neuen Zeitschrift dabei war. So führt bereits die zweite Ausgabe zu einem Skandal. Stein des Anstosses ist eine Fotocollage, die den Kopf der Stadträtin Emilie Lieberherr zeigt, montiert auf einen Frauenkörper in obszöner Haltung aus der Zeitschrift «Playboy».

Die komplette Auflage wird noch vor der Auslieferung zum Verkauf beschlagnahmt. Die Polizeiaktion mit dem Abfangen des Lieferwagens, der Verhaftung des Chauffeurs sowie einer Durchsuchung der Druckerei in Bern und der Redaktionsräume in Zürich war offenkundig geplant. Vermutlich will die Polizei mit der Beschlagnahmung des «Brächise» ein Exempel statuieren, um die Bewegung zu schwächen. Der ehemalige Polizist Willy Schaffner, der sich in den achtziger Jahren als Spitzel in die Bewegung gemischt hat, bestätigt im Gespräch, wie ernst die Polizei die Zeitung nahm: Man habe diese «Laborate» sehr genau gelesen und ausgewertet. Man habe sich an jeden Strohhalm geklammert, um Leute festnehmen zu können. «Jeder Abonnent, jeder Verkäufer dieser Zeitungen wurde fichiert», sagt Schaffner.

Brillant bis brachial

Kurzfristig gibt die repressive Aktion der Polizei dem «Brächise» Aufwind. Bald jedoch brechen die Verkaufszahlen ein, die Redaktion entschliesst sich aufgrund der «Absatzprobleme» sowie «Ermüdungs- und Frustrationserscheinungen», nur noch bis zur Nummer 20 weiterzumachen. Wegen interner Streitigkeiten kommt es jedoch gar nicht so weit: Auf eigene Faust wechselt ein Redaktionsmitglied, das die Druckvorlagen nach Bern bringt, das Titelblatt der 17. Ausgabe aus und gibt dort bekannt, dies sei bereits das letzte «Brächise». Dabei bleibt es, am 16. Mai 1981 erscheint die Zeitung zum letzten Mal.

Mit der Bewegung sterben auch die Bewegungszeitungen. Als solche funktionierten sie gegen innen wie nach aussen: als Selbstrepräsentation, zur Selbstbestärkung sowie als Gegenöffentlichkeit, als Ventil und als Warnschuss. Mal literarisch brillant, journalistisch versiert, mal dilettantisch, brachial oder diffamierend.

Bewegungszeitungen und andere alternative Medien wie Piratenradios haben dazu beigetragen, dass sich die Schweizer Medienlandschaft nachhaltig verändert hat. Der Einfluss sozialer Bewegungen und Protestformen auf diese ist aber noch immer schändlich wenig untersucht. Sicher ist: Medienmonopole kamen Ende der siebziger Jahre nicht nur technisch, sondern auch politisch und durch den Ruf nach Gegenöffentlichkeit unter Druck. Piratenradios stellten das Rundfunkmonopol der SRG infrage; im November 1983 erhielten Radio 24 und 35 weitere Lokalradios Sendekonzessionen. Gleichzeitig wurde «Radio DRS 3» für ein jugendliches Publikum lanciert. Bewegungszeitungen wie Fanzines und Szenezeitschriften trugen ausserdem dazu bei, dass die inhaltliche und formale Monotonie in den Spalten der grossen Zeitungen langsam aufgebrochen wurde.

Viele «Bewegte» und ehemalige «Eisbrecher»-Redaktoren waren auch an der Gründung der WOZ 1981 beteiligt. Und so darf man heute behaupten: Ohne «Bewegig» gäbe es wohl keine WOZ.

Voraussichtlich im Oktober erscheint von Anja Nora Schulthess im Amsel-Verlag das Buch «Müllern, Spotten, Brechen!» über die Bewegungszeitungen «Eisbrecher» und «Brächise».

Archiv zu den Zeitungen der Achtzigerbewegung: 80.av-produktionen.ch/doku/zeit.html .