«First Cow»: Besser backen als schiessen
Der Koch und der nackte Mann im Gebüsch: Die US-Regisseurin Kelly Reichardt revidiert in ihrem neuen Film «First Cow» abermals die Geschlechterbilder des Westerns.

Über die Jahrzehnte hinweg hat das klassische Westerngenre immer wieder «Revisionen» erlebt, aber eines ist im Kern erhalten geblieben: der Fokus auf den männlichen Helden. Zwar gab es auch Ausnahmen mit einer oder sogar mehreren Frauen im Zentrum, etwa Anthony Manns «The Furies» (1950) mit Barbara Stanwyck, aber etwas am Genre scheint sich hartnäckig einer Feminisierung zu widersetzen.
Die Independent-Regisseurin Kelly Reichardt hat schon vor zehn Jahren mit «Meek’s Cutoff» einen Versuch gewagt, den Frontier-Mythos aus einer weiblichen Perspektive zu erzählen. Dabei wollte sie nicht einfach den «Revolverhelden» durch ein «Flintenweib», also das eine Klischee durch ein anderes, ersetzen, sondern der Schlüsselrolle wie auch der grossen Verletzlichkeit von Pionierfrauen auf dem «Zug nach Westen» Rechnung tragen. Mit seinem realistisch-langsamen Tempo, vielen lebenswirklichen Details von Wäschewaschen, Körperhygiene und Alltagsrassismus sowie der schlagenden Erkenntnis, dass diese PionierInnen kaum wussten, worauf sie sich einliessen, lag «Meek’s Cutoff» wohl näher an der historischen Wahrheit als der Grossteil seiner Vorgänger des Genres.
Pilze statt Eichhörnchen
Mit «First Cow» wagt sich Reichardt nun abermals daran, das Leben im «Wilden Westen» mit anderen Akzenten zu zeigen, und bereits zum fünften Mal arbeitet sie mit dem Drehbuchautor Jonathan Raymond zusammen. Statt Frauenfiguren vorzuschicken wie noch in «Meek’s Cutoff», stellen sie diesmal zwei Männer in den Mittelpunkt, die wir bei ihrem «pursuit of happiness», der Jagd nach dem Glück, im amerikanischen Nordwesten des 19. Jahrhunderts sehen. Doch diese beiden Männer entsprechen so gar nicht dem Stereotyp der rauen, robusten Männlichkeit, die das Westerngenre sonst so feiert. Schon zu Beginn sucht sich die Kamera von Christopher Blauvelt unter der Bande von Pelztrappern, die da durch die Wälder zieht, nicht die Abenteurergestalten mit den wilden Bärten und groben Manieren heraus, sondern ausgerechnet den sanften Koch Cookie (John Magaro). Der scheint völlig ungeeignet für das Leben jenseits der Zivilisation. Er soll Fleisch kochen, fordern die hungrigen Trapper, aber das Eichhörnchen, das Cookie erjagen wollte, ist ihm entwischt. Nun gibt es zum allgemeinen Ärger wieder nur Pilzsuppe.
Bei der nächsten Nahrungssuche stösst Cookie im Wald auf einen nackten Mann im Gebüsch. Zuerst hält er ihn für einen «Indianer», aber King Lu (Orion Lee) stellt sich als Chinese heraus, der auf der Flucht vor russischen Wilderern ist, weil er einen von ihnen erschossen hat. So kühn seine Geschichte klingt, ist doch auch dieser King Lu kein typischer Wildwestmann, sondern ebenso kleinmütig und eher scheu wie Cookie.
Zum Ausgleich aber hat King Lu, darin ganz Mann seiner Zeit, grosse Träume und viele Geschäftsideen: Er will Biberöl nach China verkaufen oder genug Gold finden, um ein Hotel in San Francisco zu eröffnen. Die beiden Aussenseiter sind sich sympathisch, Cookie verlässt seine Trapper und bezieht mit King Lu in einer Art Wildwestvariante von Wohngemeinschaft eine einfache Hütte in den Wäldern. Und dann entdecken sie eine Kuh, die erste Kuh hier an der «Frontier». Cookie weiss, dass das Backen mit Milchprodukten gleich nochmals besser wird. Die «öligen Kekse», die die beiden dann zubereiten, werden zum Renner auf dem Markt der noch strassenlosen Wildweststadt. Was folgt, ist in vielem doch wieder eine echte Westerngeschichte: eine Flucht vor berittenen Männern mit Waffen, samt einem kühnen Sprung vom Felsen und einem versteckten Schatz. Aber eben doch noch mal anders.
Zwei Skelette
Worauf es Reichardt ankommt, erfährt man in der Besinnlichkeit dieses Neowesterns auch mittels der sorgfältig im Hintergrund choreografierten Szenen, in denen gebaut, genäht und beackert wird. In der grossen, rastlosen Übergangsgesellschaft, die diese «Frontier» war, entdeckt sie den diskreten Charme des bislang Übersehenen. Dabei erzählt sie in einem Tempo und mit einer Zurückhaltung, die dem Temperament ihrer Helden fast zu sehr entsprechen. Doch dieser gemächliche Rhythmus entfaltet eine eigene Suggestivkraft: Was ist das für eine Beziehung zwischen dem schweigsamen Cookie und dem stets Pläne schmiedenden King Lu?
Dass die beiden sich mögen, wird nie ausgesprochen, aber da gibt es diese Gesten. Etwa wenn Cookie einen Blumenstrauss pflückt für das neue Quartier, oder King Lu den ersten gelungenen Keks auf die Fensterbank legt. Ist es eine Männerfreundschaft, ist es mehr? Aus der Rahmenhandlung, in der eine junge Frau in der Gegenwart zwei Skelette nebeneinander findet, weiss man, wie es mit ihnen enden wird, aber eben nicht, was zwischen ihnen war. Es ist, als ob Reichardt den historischen Figuren kein Etikett aufdrücken wollte, das diese nicht angenommen oder für sich nicht verwendet hätten.
Ab 22. Juli 2021 im Kino.
First Cow. Regie: Kelly Reichardt. USA 2019