Kelly Reichardt: «Soll die Linke ihre Gegner mit Filmen und Büchern bewerfen?»

Nr. 31 –

Die US-amerikanische Independent-Regisseurin Kelly Reichardt wird in Locarno mit dem Ehrenleoparden geehrt. Ein Gespräch über die Aussagekraft von Landschaften, wie ihr eine Kuh half, die Trump-Ära zu überstehen – und ob die Kunst uns vor dem Untergang retten kann.

WOZ: Kelly Reichardt, die Landschaft und die Art, wie diese dargestellt wird, spielt in Ihren Filmen eine tragende Rolle. Machen Sie damit auch Spuren einer bestimmten Politik sichtbar?
Kelly Reichardt: Ich setze die Landschaft intuitiv so ein, wie es für die Geschichte und die Figuren am besten funktioniert. In «Meek’s Cutoff» ist die Landschaft das, was den Pionieren im Weg steht. Das unwegsame Gelände und der Mangel an Wasser halten sie davon ab, an den gewünschten Ort zu gelangen. In «Wendy and Lucy» ist die Umgebung etwas Isolierendes. Und in «Night Moves», einem Film über politische Aktivist:innen, ist die Landschaft – der Staudamm und der Stausee – für die Figuren von politischer Bedeutung. Die Umgebung ist aber immer auch in der Geräuschkulisse zu hören. Bei dem Versuch, Stille für ein historisches Setting zu schaffen, wird man sich des ständigen Lärmpegels und dessen Auswirkungen auf die Umwelt bewusst. Wir kämpfen gegen Laubbläser (eine fürchterliche Erfindung!), den Verkehr und die Flugzeuge. Heutzutage ist es sehr schwer, historische Stücke vor Ort zu drehen. Das erinnert uns daran, dass immer auch noch etwas anderes vor sich geht.

Sie meinen so etwas wie die Präsenz der Welt, unabhängig von der jeweiligen Erzählung?
Ja, aber auch, dass da immer eine Spannung existiert: zwischen jenem, das im Vordergrund passiert, und dem, was im Hintergrund wichtig ist.

Fast alle Ihre Filme spielen in Oregon. Was fasziniert Sie so besonders an der Landschaft?
Ich komme ursprünglich aus dem hellen und flachen Florida, wo auch mein erster Film «River of Grass» spielt. Dann habe ich dreissig Jahre lang in New York gelebt, das aus Ziegeln, Beton und Asphalt besteht. Nach Portland kam ich 2001 oder 2002, als mein Freund, der Regisseur und Drehbuchautor Todd Haynes, hierherzog. Da habe ich auch den Schriftsteller Jonathan Raymond kennengelernt, der darüber schreibt, was vor seinem Fenster gerade so passiert. Das Aussehen und das Licht des Pazifischen Nordwestens sind einfach atemberaubend. Jetzt habe ich aber schon so viel in dieser Gegend gedreht, dass ich vielleicht wieder woanders einen Film machen möchte. In letzter Zeit fällt mir auf, wie schön das Licht am Hudson River ist.

Zwei Ihrer Filme, «Meek’s Cutoff» und «First Cow», werden immer wieder als Western bezeichnet. Stimmt das auch für Sie?
«Meek’s Cutoff» ist die Geschichte eines Planwagenzugs, also von Leuten, die mit ihren Wagen und Rindern von Osten nach Westen ziehen, um ein besseres Leben zu beginnen – der amerikanische Western in Kurzform. «First Cow» spielt im Jahr 1820 und handelt eher von der Einwanderung aus dem Fernen Osten und aus Europa. Es ist insofern ein Western, als er den Beginn des Pelzhandels in Oregon zeigt, aber ich wollte mich ausserhalb der grossen Fussstapfen des traditionellen Westerns bewegen. Apropos Landschaften: In der Wüste kann man keine Kamera hinstellen, ohne an die Regisseure Howard Hawks oder John Ford zu denken. Im Wald aber gibt es diese Inspirationen oder Referenzpunkte weniger.

Ging es bei der Darstellung des legendären Oregon Trail aus weiblicher Perspektive in «Meek’s Cutoff» auch darum, die traditionellen Geschlechterstrukturen des Westerns zu hinterfragen?
Am Anfang nicht, das hat sich mehr aus meiner Herangehensweise an den Stoff ergeben. Das Drehbuch von «Meek’s Cutoff» war immer als Emilys Geschichte konzipiert. Dass die Geschichte aber visuell erzählt wird, fast ausschliesslich aus der weiblichen Perspektive, das entstand erst, während wir drehten.

Auf eine Art erlebte ich Aspekte von Emilys Geschichte selber, als ich während der Dreharbeiten mit der Misogynie konfrontiert wurde, die von einem der Schauspieler ausging. Er hatte eine sehr klare Vorstellung davon, wie ein Western aussehen sollte – also wer eine Nahaufnahme bekommen sollte und so weiter – und wurde nicht müde, mir den Western erklären zu wollen. Ich wusste also, wie es sich für Emily anfühlte, mit einem Mann in der Wüste festzusitzen, den man besänftigen und mit dem man Frieden halten musste, dem man aber auch widerstehen musste, weil er so schlechte Ideen hatte. Je mehr ich damit konfrontiert wurde, desto mehr bewegte ich die Kamera weiter in Richtung der Frauen.

«First Cow», der von einer für den Western untypisch sanften Männerfreundschaft erzählt, hat für mich fast etwas Utopisches – vor allem wenn man daran denkt, dass er mitten in der Trump-Ära entstand. Sehen Sie das auch so?
Ich finde den Film nicht sehr utopisch, ausser man ist jemand wie Chief Factor, der Leiter des Pelzunternehmens. Da sind klare Machtstrukturen am Werk, und die Protagonisten des Films, Cookie und King Lu, stehen ganz zuunterst – unter dem Diener von Chief Factor und sogar unter dessen Kuh. Obwohl es im Film nicht erwähnt wird, wird der Pelzhandel den Biber ausrotten und den Multnomah-Stämmen entlang des Columbia River Pocken und Malaria bringen. Keine so fröhliche Geschichte also.

Wie «Old Joy» und «Wendy and Lucy» basiert sie auf einer Vorlage von Jonathan Raymond, der bei den meisten Ihrer Filme auch am Drehbuch mitwirkte …
Der Film basiert auf «The Half-Life», dem ersten Buch von Jonathan. Es war das erste, was ich von ihm gelesen hatte – noch vor «Old Joy». Über ein Jahrzehnt stellten wir uns die Frage, wie man diese Geschichte verfilmen könnte, die sich im Original über vier Jahrzehnte erstreckt und eine Reise nach China beinhaltet.

Obwohl im Film davon überhaupt nichts mehr vorhanden ist, wirkt die Erzählung erstaunlich abgeschlossen. Auf alle Fälle nicht so, als ob da etwas fehlen würde.
Es war die Idee mit der Kuh, die uns eine bescheidenere Erzählung erlaubte, in die wir aber trotzdem all die schönen Themen von Jonathans Buch einbringen konnten. Dass der Film so lange gärte, hat wohl dazu beigetragen, dass ich mich beim Drehen so wohl fühlte. Auch mussten wir nicht wie bei «Certain Women» mitten im Winter in Montana oder wie bei «Meek’s Cutoff» im Hochsommer in der Wüste drehen. Es war bei weitem die schönste Erfahrung, die ich beim Filmemachen je gemacht habe. Sobald wir einmal das Drehbuch hatten, ging alles ziemlich schnell. Als sich die Schauspieler John Magaro und Orion Lee zum ersten Mal in ihren Kostümen trafen, sahen wir, wie perfekt sie in ihre Rollen passten – und wie gut die Chemie zwischen den beiden stimmte. Wir hatten alle das Gefühl, dass hier etwas Besonderes passiert. Vielleicht lag es daran, dass wir für eine Weile aus der realen Welt herausgeholt wurden und uns in einem alten Wald aufhielten. Einfach harte Arbeit mit guten Leuten in einer wunderschönen Umgebung …

Zurück in die Realität: Gibt es da noch Hoffnung? Für die Zukunft der USA und des Planeten …
Der Supreme Court hat eben erst die Bundesstaaten darin limitiert, Umweltschutzbestimmungen zu erlassen, während er ihnen gleichzeitig alle Möglichkeiten zugesteht, das Recht auf Abtreibung einzuschränken und Frauenrechte anzugreifen. Heute den Umweltschutz noch anzugreifen, statt ihn zu stärken, ist einfach zynisch. Diese Urteile haben uns hart getroffen. Der Wunsch liegt vielleicht nahe, jetzt einfach auf alles einzuschlagen, deshalb ist es wohl konstruktiver, Cornel West zu zitieren: «Die Hoffnung sieht sich die Fakten an und sagt: ‹Das sieht gar nicht gut aus. Überhaupt nicht gut. Gehen wir über die Fakten hinaus und schaffen neue Möglichkeiten, die auf einer Vision basieren, die ansteckend wird und es den Menschen ermöglicht, sich heldenhaft zu engagieren – gegen alle Wahrscheinlichkeit, ohne jegliche Garantie.›»

Die Aktivist:innen in Ihrem Film «Night Moves» etwa sprengen einen Staudamm …
Ja, aber es verläuft überhaupt nicht wie geplant. Mit «Night Moves» wollten wir einen Film über die Abwegigkeit des Fundamentalismus machen, selbst dann, wenn er der edelsten aller Motivationen entspringt: den Planeten zu retten. Kann ein Akt der Gewalt jemals etwas Positives sein? Das ist die Frage, die der Film aufwirft. Ich glaube nicht, dass Gewalt in irgendeiner Form jemals die Antwort sein kann. Schon nur rein praktisch betrachtet: In den USA ist die eine Seite bis auf die Zähne bewaffnet. Soll die Linke, wenn dann einmal der Streit um das knapp werdende Wasser beginnt, die andere Seite mit ihren Filmen und Büchern bewerfen?

Ein Gefühl der Hilflosigkeit?
Heute haben die zwanzigjährigen Studentinnen in meiner Filmklasse weniger Rechte, als ich in ihrem Alter hatte. Das ist kein Fortschritt. Die USA erzählen der Welt immer, was für ein leuchtendes Beispiel für Freiheit wir seien. Der Supreme Court gestaltet das alles gerade zu einem schlechten Witz. Es ist wie bei «First Cow»: die gleiche alte Machtstruktur, die gleiche alte Hackordnung, wie es sie schon immer gab. Die neuen Abtreibungsverbote verweisen die Leute zurück auf ihre Plätze. Die Macht bleibt in den Händen derjenigen, die gleich aussehen wie jene, die solche Entscheidungen treffen. Allesamt Millionäre, übrigens.

Die Strategie, die anderen mit Büchern und Filmen zu bewerfen – funktioniert sie wirklich nicht?
Sie fragen, ob die Kunst uns retten kann? Der Kunsttheoretiker David Hickey spricht sehr wortgewandt, unterhaltsam und überzeugend darüber, dass Kunst für diejenigen da sei, die sie lieben und geniessen können. Als das Künstlerpaar Josef und Anni Albers 1939 half, das Black Mountain College zu gründen, lautete das Konzept in etwa so: Wenn man die Kunst in den Mittelpunkt der Lernerfahrung stellt, wird das kritische Denken auf alles andere übertragen – was zu einer stärkeren Demokratie führen würde. Im heutigen Amerika besteht aber die Gefahr, dass die Schulen der freien Künste verschwinden. Daher denke ich, dass Hickey Recht hat. Kunst ist für diejenigen da, die sie geniessen und – wie ich selber hinzufügen möchte – sich leisten können. Aber die Hälfte der US-Bevölkerung scheint sich sowieso lieber an Waffen zu erfreuen. Und die Kunst, die ich für die Demokratie tatsächlich für notwendig halte, bleibt einer kleinen Elite vorbehalten.

Bleibt in diesen düsteren Zeiten, die man fast apokalyptisch nennen kann, überhaupt noch Raum für das Poetische?
In düsteren Zeiten mag es vielleicht immer grossartige Kunst geben, aber am Ende wird sie uns nicht retten. Sie kann das Leben etwas erträglicher machen, aber die globale Durchschnittstemperatur wird sie nicht zum Sinken bringen.

Anlässlich der Preisverleihung an Kelly Reichardt am Freitag, 12. August 2022, werden in Locarno ihre beiden Filme «Meek’s Cutoff» (2010) und «Night Moves» (2013) im Lauf des Festivals gezeigt. Am Samstag, 13. August 2022, wird Reichardt das Publikum zu einem Gespräch im Spazio Cinema treffen.

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