Marisa Godoy: Im Zustand radikaler Verbundenheit

Nr. 14 –

Die Tänzerin und Performerin Marisa Godoy zeigt ihre jüngste Arbeit «All Is You» im Rahmen des internationalen Tanzfestivals Steps. Jede Performance ist für sie eine Konfrontation mit dem Publikum und daher etwas sehr Persönliches.

Das Körperliche ist in diesem Tanz der Beziehungspunkt: Und so brauchen wir die anderen.

Seit 1999 lebt die Brasilianerin Marisa Godoy in Zürich. Zusammen mit ihrem Mann, dem Tänzer Michael Rüegg, hat sie 2004 das Oona-Project gegründet, keine Tanzkompanie im eigentlichen Sinn als vielmehr eine offene Infrastruktur, in der es zu wechselnden Kooperationen mit anderen KünstlerInnen kommt. «Mich hat es nie interessiert, selbst eine Kompanie zu haben. Ich mag es genauso, als Tänzerin in einem fremden Projekt engagiert zu sein und zu interpretieren», erzählt sie der WOZ im Gespräch. «Take me and use me!», meint sie lachend.

In «Use», einer ihrer ersten grösseren, in der Schweiz entstandenen Choreografien, stand Godoy mit zwei anderen PerformerInnen und den Musikern Bo Wiget und Luigi Archetti auf der Bühne. Ein typisches Oona-Project. Tanz und Musik stehen in engem Dialog und agieren doch eigenständig, kratzen aneinander und stacheln sich zu ausufernden Bewegungstiraden an. Von peitschenden Rhythmen geht es zurück in die Stille, aus der heraus sich ein neuer Handlungsbogen verästelt und das Leitmotiv weiter variiert wird. Bei allem bleibt das konkret Körperliche der Referenzpunkt: So wie wir den Sauerstoff zum Atmen brauchen, so brauchen wir die anderen zum Leben. Verhängnisvoll ineinander verhakt, tanzen und torkeln eine Frau und ein Mann einen Pas de deux. Das ist bei Godoy bei allem Ernst immer auch auf der Kippe zum Komischen.

Geburt des Tanzes aus dem Jazz

Godoy choreografiert und tanzt in ihren Stücken auch selbst. Sie verfügt über eine natürliche Ausstrahlung auf der Bühne, ihr agiler Körper scheint ihr auch mit 46 Jahren keine Widerstände entgegenzusetzen. Manchmal ist es, als würde sie von innen heraus explodieren und eine Art Dämon nähme Besitz von ihr. Bei all dem bleibt ihr Körper aberwitzig kontrolliert und im Gestus präzis.

Abwechselnd in perfektem Englisch und in Deutsch – sie hat in Brasilien einmal Sprachwissenschaften studiert – erzählt sie von ihrer Passion für den Tanz. Sie hat spät begonnen, obwohl sie von Kindesbeinen an magisch von der Bühne angezogen war. Wenn es in der Schule kleinere Theateraufführungen gab, war sie immer mit dabei. Als ihre ältere Schwester Jazzlektionen nahm, wollten sie und ihre jüngere Schwester dies auch. In den Kinos lief zu jener Zeit das Musical «All that Jazz» (1979), und im Radio spielte man den Soundtrack dazu, was erheblich zur Jazzbegeisterung beitrug. Die Schwestern hörten mit der Zeit auf, Godoy machte weiter. «Als ich mit Tanzen begann, war mein Gefühl: Nun bin ich angekommen. Es war wie Heimatfinden und eine grosse Liebe», erinnert sich die Choreografin. Erst als eine Lehrerin ihr ein grosses Potenzial bescheinigte, machte sie Ernst mit dem Tanzen und begann, Ballettunterricht zu nehmen. Da war sie schon neunzehn. In ihrer Familie ist sie die Erste und Einzige, die eine professionelle KünstlerInnenkarriere eingeschlagen hat.

Nach dem Besuch einer Hochschule für Tanz hatte sie verschiedene Engagements, unter anderem in der Tanzkompanie von Gisela Rocha, die heute ebenfalls in der Schweiz lebt und sich einen Namen als Choreografin gemacht hat. «Schon bevor ich Gisela getroffen habe, choreografierte ich kleinere Stücke. Und während meiner Ausbildung hatte ich einen fantastischen Lehrer in Improvisation, der in mir viele Türen und Fenster öffnete. Ich merkte, dass ich etwas zu erzählen habe, wusste aber nicht wie.»

Ein Preisgeld führte Godoy schliesslich an die London Contemporary Dance School, wo sie «Futter für ihre Fragen» fand, wie sie selbst sagt: «Wenn ich spreche, kann ich meine Gedanken ausdrücken. Allmählich realisierte ich, dass genau hier der Weg ist, dass auch Bewegung in dieser Weise funktioniert.» Da kam aus Zürich die Anfrage von Rocha, ob sie nicht Lust hätte, in deren Projekt mitzumachen. Sie hatte, reiste nach Zürich – und blieb. Denn sie hatte kurz davor in London ihren zukünftigen Partner, den Schweizer Michael Rüegg, kennengelernt.

Provozierende Ehrlichkeit

Eines der grossen Themen der Choreografin kreist um den einmaligen Akt der Liveperformance: «Ich arbeite allein im Studio, denke aber bereits ans Publikum. Ich warte auf den Augenblick der Aufführung, das Publikum wartet auch, ohne es zu wissen. Es ist wie ein Blind Date.» Im Stück «Radical_Connector» von 2006 verfolgte Godoy diese Idee konsequent. Während sie an Ort auf und ab springt, spricht sie gleichzeitig darüber, dass alles miteinander verbunden ist, die Finger mit dem Hirn, die Performerin mit dem Publikum. So geht das zehn Minuten weiter, bis sie erschöpft auf dem Boden liegt und ins Mikrofon den Song «Only You Can Make this Change in Me» haucht, nichts anderes als eine Reverenz an die ZuschauerInnen. Und wie um den Tatbeweis zu führen, wird sie ruckartig von einem Seil hochgezogen und als Zirkusartistin unter der Kuppel durch die Luft gewirbelt.

Jede Performance ist ein Wagnis. Godoys Konfrontation mit dem Publikum hat etwas sehr Persönliches, oder, wie sie selbst meint, etwas sehr Menschliches. Um die Begegnung zwischen Publikum und PerformerInnen lebendig zu halten, mischt die Choreografin jeweils fix choreografiertes und improvisiertes Material. Noch weiter ging sie in «Please» (2009) – so weit, dass es fast wehtut. Die DarstellerInnen treten nackt vors Publikum. Ihre Fragen sind von provozierender Ehrlichkeit: Gefalle ich? Bin ich einE smarteR EntertainerIn, erfülle ich die Erwartungen, und was ist eigentlich meine Rolle?

Der ganz spezifische Moment

«Andere sind auf politische Themen fokussiert, ich auf existenzielle», sagt Godoy. Sie ist allerdings selbstkritisch genug, um zu wissen, wie schnell man sich in der eigenen kleinen Welt verlieren kann: «Konsequent sein und in die Tiefe gehen» ist ihr Gegenmittel dafür. Ein Vorbild ist ihr darin die bildende Künstlerin Sophie Calle, die, wie sie sagt, noch tausendmal persönlicher als sie selbst sei.

Die Frage nach der Relevanz beschäftigte Goday auch bei ihrem jüngsten Projekt, das im Rahmen des Tanzfestivals Steps zur Uraufführung kommen wird. «Der Ausgangspunkt für meine Recherche hatte erst mal nichts mit Kunst zu tun. Es war eine persönliche Erfahrung und Notwendigkeit», erzählt Godoy. Sie war kreativ festgefahren, hatte sich verletzt und beschloss, für eine Weile zu pausieren. Bis sie aus der Stagnation herausfand und die Inspiration wieder zu fliessen begann.

«All Is You» hat die Verliebtheit zum Gegenstand. Was geschieht im Körper, wenn wir auf rosaroten Wolken schweben?, wollen Godoy und ihre drei PerformerInnen Elina Müller Meyer, Ivan Blagajcevic und Kilian Haselbeck wissen. Gemeint ist nicht die erotische Attraktion zwischen zwei Menschen, sondern der Zustand an sich. Der Choreografin geht es um die Erfahrung von Einheit. Wenn wir präsent sind und sich Bewegungen und Gefühle frei entfalten, sind wir verbunden mit der Welt. Für Godoy heisst das immer auch: verbunden mit dem Publikum in diesem ganz spezifischen Moment einer 
Performance.

13. Tanzfestival Steps: Vierzehn Tanztruppen

Vom 12. April bis 5. Mai 2012 tourt das internationale Tanzfestival Steps durch die Schweiz. Zur 13. Ausgabe des zweijährlich stattfindenden Grossanlasses des Migros-Kulturprozents sind vierzehn Kompanien eingeladen – etwa die ehemalige Primaballerina Sylvie Guillem, die Londoner Akram Khan Company oder La La La Human Steps aus Montréal. Daneben sind auch hierzulande noch unbekannte ChoreografInnen wie Sharon Eyal mit Carte Blanche aus Norwegen oder Crystal Pite mit ihrer Truppe Kidd Pivot zu entdecken.

Das diesjährige Festival setzt auf ChoreografInnen – so auch auf renommierte Künstlerinnen wie die ehemalige Pina-Bausch-Tänzerin Meryl Tankard oder Sabine Kupferberg, die einstmals herausragende Solistin im Nederlands Dans Theater, die jetzt eine weibliche Version des «King Lear» zeigt, oder die politisch pointierte Regisseurin Helena Waldmann, die ein Stück über das Glück mit überraschendem Ausgang kreiert hat. Aus der Schweiz ist neben Godoy auch eine Choreografie von Cathy Marston, der Choreografin des Bern : Ballett, zum Leben der Bernerin Vivienne von Wattenwyl zu sehen. Marisa Godoys «All Is You» hat am Freitag, 13. April 2012, um 20 Uhr Premiere im Zürcher Theaterhaus Gessnerallee.
Maya Künzler

Gesamtes Festivalprogramm: 
www.steps.ch